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Würzburg
Sechs Umzugskartons, aber noch keine neue Adresse: Stadt Würzburg zwingt Rentnerin nach 23 Jahren zum Auszug
Krystyna Thiele hat 23 Jahre in einer Verfügungswohnung gelebt. Nun muss die 77-Jährige ausziehen. Ihre Wohnung sei mit 44 Quadratmetern zu groß, sagt die Stadt.
Sechs Kartons für den erzwungenen Umzug hat Krystyna Thiele von Mitarbeiterinnen der Stadt Würzburg bekommen. Zum 30. November muss sie aus der 44-Quadratmeter-Wohnung ausziehen, in der sie 23 Jahre lang gelebt hat: Die Stadt Würzburg braucht den Platz.
Foto: Patty Varasano | Sechs Kartons für den erzwungenen Umzug hat Krystyna Thiele von Mitarbeiterinnen der Stadt Würzburg bekommen. Zum 30.
Gisela Rauch
 |  aktualisiert: 06.12.2023 02:52 Uhr

Ausgerechnet an ihrem Geburtstag erfährt die Rentnerin Krystyna Thiele, dass sie ihre Verfügungswohnung im Würzburger Stadtteil Zellerau in wenigen Tagen verlassen muss: Am 19. Oktober, dem Tag, an dem die alte Dame ihren 77. Geburtstag feiert, klingelt es morgens bei ihr.

Mitarbeiterinnen der Stadt Würzburg stehen vor der Tür: "Sie haben mir gesagt, dass die Wohnung für mich allein zu groß ist und dass sie meine Wohnung für eine Flüchtlingsfamilie brauchen", berichtet Krystyna Thiele. Wo sie denn hin solle, fragt sie. Und hört, dass sie "umgesetzt" werde in eine "andere Wohnung oder eine WG" – und zwar schon zum 30. November. Sie solle "ihre Sachen packen und die Hälfte ihrer Einrichtung verkaufen oder wegwerfen", haben die Mitarbeiterinnen der Stadt ihr gesagt, erzählt Thiele. Einen schriftlichen Bescheid der Stadt bekommt die Rentnerin, die 23 Jahre in dieser Wohnung gelebt hat, nicht.

Bei Verfügungswohnungen sind "Umsetzungen" zulässig

Warum wirft die Stadt Würzburg eine alte Frau nach 23 Jahren aus ihrer engen Zweizimmer-Wohnung mit - laut Stadt - "knapp 44 Quadratmetern"? Zur Begründung für Thieles "Umsetzung" verweist die Stadt auf die extreme Wohnungsnot: "Aufgrund der gestiegenen Fallzahlen" seien "trotz der massiven Bemühungen um weitere Wohnraumakquise die Notunterkünfte der Stadt Würzburg fast vollständig belegt." Dies führt laut Pressestelle mittlerweile dazu, dass "Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, vorübergehend in Pensionen untergebracht werden müssen, um ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten".

In ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung lebt Krystyna Thiele seit 23 Jahren. Nun muss sie aus der Verfügungswohnung der Stadt Würzburg ausziehen. 
Foto: Patty Varasano | In ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung lebt Krystyna Thiele seit 23 Jahren. Nun muss sie aus der Verfügungswohnung der Stadt Würzburg ausziehen. 

Mit Blick auf den Fall Thiele erklärt der Sprecher der Stadt Würzburg, dass sich aufgrund der stetig zunehmenden Zahl bedürftiger Menschen "Umverlegungen" in kleinere Wohnungen oder in WGs nicht mehr vermeiden ließen, da etwa bei Familien mit Kindern das Kindeswohl an erster Stelle stehe. Dass in Thieles Wohnung eine Flüchtlingsfamilie einziehen werde, sei "nicht geplant und auch nicht gesagt worden", erklärt der Sprecher.

Die Stadt führt weiter aus, dass Thiele in einer von 140 Verfügungswohnungen lebe, die der Stadt gehören. Diese Form der städtischen Notunterbringung sei aber nicht auf Dauer angelegt und begründe kein privatrechtliches Mietverhältnis, da es sich hierbei um eine sogenannte sozialrechtliche Einweisung handele. Das heißt: Sogenannte Umsetzungen der von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen etwa in eines der rund 80 städtischen Verfügungs-Einzelzimmer sind rechtlich zulässig.

Krystyna Thiele ordnet täglich gespendete Kleidung in der Kleidertauschbox

Viele Leute in der Würzburger Zellerau kennen Krystyna Thiele als die Frau, die täglich zur Kleidertauschbox an der Ecke Sedanstraße geht. Allerdings nicht, um dort Second-Hand-Kleidung mitzunehmen, sondern um den Kleiderstapel zu ordnen, den täglich viele Menschen nach brauchbarer Ware durchsuchen.

Jeden Morgen und jeden Abend geht Rentnerin Thiele zu einer Kleidersammelbox  in der Sedanstraße in der Würzburger Zellerau, um dort gespendete Kleidung zu ordnen.
Foto: Thomas Obermeier | Jeden Morgen und jeden Abend geht Rentnerin Thiele zu einer Kleidersammelbox in der Sedanstraße in der Würzburger Zellerau, um dort gespendete Kleidung zu ordnen.

Jeden Morgen, jeden Abend hängt Thiele gespendete Kleidungsstücke ordentlich auf die Bügel, sortiert den Müll aus und fügt sogar Kleidung aus ihrem eigenen Schrank hinzu. Das Klischeebild einer "von Obdachlosigkeit bedrohten Person" erfüllt Thiele nicht. Wieso wohnt die alte Dame in einer Verfügungswohnung?

Wenn Krystyna Thiele ihr Leben erzählt, spricht sie zuerst von ihren sechs Kindern: "Fünf davon leben noch, aber nur ein Sohn in Würzburg."  Von den Vätern, mit denen es "nicht immer so lief", spricht sie weniger. Aber gerne von ihrem Beruf: Thiele hat Köchin gelernt und rund 25 Jahre lang beruflich Ordnung gemacht, als Hausdame in zwei renommierten Würzburger Hotels. "Natürlich kennen wir Frau Thiele, sie war ja lange hier für die Etage verantwortlich", bestätigt man in einem Vier-Sterne-Innenstadthotel.

"Vielleicht war ich zu blauäugig, um den Rausschmiss vorherzusehen", sagt Thiele

Allerdings gab es Krystyna Thiele zufolge mal eine Zeit, vor 23 Jahren, als sie eine Krise durchlebte. "Da habe ich bei der Stadt nachgefragt und von der Wohnungsnotfallhilfe eine Verfügungswohnung bekommen", sagt sie. Die geringe "Nutzungsgebühr" –von Miete spricht man bei Verfügungswohnungen nicht – von 253 Euro habe sie nach Anlaufschwierigkeiten "immer selbst bezahlt".

'Ich habe es mir in meiner Wohnung in den letzten Jahren gemütlich gemacht, ich würde natürlich gern bleiben', sagt Krystyna Thiele (auf dem Bild mit dem Hund ihres Sohnes).
Foto: Patty Varasano | "Ich habe es mir in meiner Wohnung in den letzten Jahren gemütlich gemacht, ich würde natürlich gern bleiben", sagt Krystyna Thiele (auf dem Bild mit dem Hund ihres Sohnes).

Dass Verfügungswohnungen nicht auf Dauer ausgelegt sind, war ihr bewusst. "Aber ich habe  immer nach einem halben Jahr eine Verlängerung beantragt und 23 Jahre lang immer bekommen", sagt Thiele. "Vielleicht habe ich mich zu sehr daran gewöhnt, vielleicht war ich zu blauäugig, um den Rausschmiss jetzt vorherzusehen." Und eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt? "Wäre schwierig", sagt die alte Frau und zeigt ihre Kontoauszüge: "Rente: 690,52 Euro" steht da.

Laut Stadt ist Thieles Unterkunft "geeignet, mehrere Personen unterzubringen"

Es gab Versuche, aus der Verfügungswohnung herauszukommen; das gibt die Stadt selbst an. "In den vergangenen Jahren wurden Frau Thiele fünf Wohnungsangebote von Wohnbaugesellschaften über das Sozialreferat der Stadt Würzburg unterbreitet, bei denen sie leider nicht zum Zug kam", schreibt der Pressesprecher.

Die Stadt verstehe "die Sorgen und Nöte von Frau Thiele und die mit einem Umzug verbundenen Beschwerden", heißt es im Schreiben der Stadt an diese Redaktion weiter. Jedoch wäre "die von Frau Thiele bewohnte Unterkunft grundsätzlich geeignet, mehrere Personen oder auch eine Familie unterzubringen. Da die Stadt Würzburg derzeit nicht mehr in der Lage ist, mehrköpfige Familien unterzubringen, wurde die Unterkunft von Frau Thiele in Erwägung gezogen".

Die Pressestelle der Stadt Würzburg hat dieser Redaktion mitgeteilt, dass die alte Frau "in einer seniorengerechten WG" in der Zellerau untergebracht werde. Krystyna Thiele selbst hat diese Auskunft nicht erhalten. Am 16. November wurden ihr von Mitarbeiterinnen der Stadt sechs Umzugskartons gebracht. Ihre neue Adresse wurde ihr, 14 Tage vor dem Auszugstermin, nicht genannt.

 
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