Im Jahr 1942, als nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung des Reichs schon deportiert und ermordet war, stand das endgültige Schicksal der deutschen Sinti noch nicht fest. Um die Fortpflanzung dieser Personengruppe zu unterbinden, planten die Behörden zunächst Sterilisationen in großen Umfang. Die Alternative lautete: Konzentrationslager oder Unfruchtbarmachung.
Zwei Polizisten holten Theresia Winterstein aus der Wohnung in der Mergentheimer Straße ab und brachten sie ins Büro des „Zigeuner-Referenten“ Christian Blüm: „Ich musste unterschreiben, dass ich vom Lager verschont würde, wenn ich mich den Studienzwecken der Nazis unterwerfen würde, keinerlei Beziehungen zu einem Mann haben und nicht schwanger werden würde.“
Im Sommer 1942 wurde die 20-Jährige von ihrem Verlobten Gabriel Reinhardt dennoch schwanger. Als Blüm davon erfuhr, soll er zornig geworden sein. Erst als klar war, dass die junge Frau Zwillinge gebären würde, änderte sich die Haltung der Behörden. Theresia Winterstein erhielt die Genehmigung, die Schwangerschaft auszutragen und die Sterilisation auf einen Zeitpunkt nach der Entbindung zu verschieben. Sie bekam jedoch weder ärztliche Betreuung noch zusätzliche Lebensmittelmarken wie andere Schwangere.
„Die Nazis haben meine Eltern mit uns durch Würzburg laufen lassen, um das Ausland zu beschwichtigen“
Rita Prigmore Tochter von Theresia Winterstein
Die Tatsache, dass die eigentlich vorgesehene und vorgeschriebene Sterilisation noch nicht stattfand, bedeutete nur eine teilweise Erleichterung für Theresia Winterstein. „Die nervliche Belastung wurde schlimmer“, sagte sie später und berichtete, dass sie schon während ihrer Schwangerschaft von den beiden ihrer Aussage nach miteinander befreundeten SS-Ärzten Werner Heyde und Josef Mengele untersucht wurde, die zu den berüchtigtsten Massenmördern des Dritten Reiches gehörten.
Nach ungefähr zwei Monaten wurden die Kinder im Mutterleib erfasst. Theresia Winterstein: „Es wurde nach Berlin berichtet, dass ich in anderen Umständen sei und angenommen werde, dass ich eineiige Zwillinge bekommen würde. Doktor Mengele war schon bekannt, wenn das Zwillinge wären, Zigeunerzwillinge, mit denen hatte er immer etwas Besonderes vor.“
Mengele war Genetiker; er hatte sich zum Ziel gesetzt, eine „Herrenrasse“ von blonden, blauäugigen „Ariern“ zu züchten. Die Vererbungslehre bedurfte der empirischen Bestätigung, und wer hätte sich dazu besser geeignet als eine ihrem genetischen Erbgut nach vollkommen identische Gattung, die eineiigen Zwillinge? Auch zweieiige Zwillinge und Menschen mit abweichendem Aussehen wie Kleinwüchsige und besonders große Personen zählten zu seinen bevorzugten Versuchsobjekten. Im so genannten „Zigeuner-Familienlager“ in Auschwitz hatte er später als Lagerarzt unbegrenzten Zugang zu solchen Menschen, an denen er grausame, meist mit dem Tod endende Versuche durchführte.
Zunächst aber wirkte Mengele nach einer Kriegsverletzung noch im Rasse- und Siedlungshauptamt. Wahrscheinlich hier in Berlin lernte er den SS-Mann und Würzburger Medizinprofessor Werner Heyde kennen. Vom Sommer 1940 bis zum Dezember 1941 war Heyde als medizinischer Leiter und Obergutachter der Tarnorganisation „T4“ für die Massentötung von rund 100 000 Heilanstaltsinsassen und KZ-Häftlingen verantwortlich gewesen. Nach dem Ende dieser Tätigkeit, die ihn oft nach Berlin geführt hatte, konnte er sich verstärkt wieder seinen Würzburger Aufgaben als Professor und Direktor der Psychiatrischen Uni-Klinik zuwenden.
Es ist möglich, dass Heyde seinem SS- und Mediziner-Kollegen Mengele in Berlin von der Zwillings-Schwangerschaft einer Würzburger Sintezza berichtete und dass Mengele mit Heyde – wie von Theresia Winterstein geschildert – Untersuchungen an der 21-Jährigen durchführte. Hyde und Mengele mochten in der jungen Frau ein interessantes Objekt für ihre „Forschungen“ sehen, einen rechtlosen Menschen, der die für Versuche und Untersuchungen benötigten Zwillinge liefern würde.
Am 2. März 1943 wurde Theresia Winterstein drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin stationär in die Würzburger Universitäts-Frauenklinik aufgenommen. Am nächsten Tag kamen die Zwillinge Rita und Rolanda zur Welt. Theresias Schilderung der Geburt dokumentiert, dass höheren Ortes erhebliches Interesse an gerade diesen Babys bestand: „Gleich sind zwei Gestapo-Beamte zur erbbiologischen Erfassung gekommen und haben die Kinder gemessen, Größe etc. Es ist mir nur gesagt worden, dass ich zwei Mädchen habe. Nach fünf Tagen erst durfte ich die Kleinen sehen. Die waren so dünn.“ Ritas Geburtsurkunde enthält den gestempelten Vermerk, dass Lebensmittelmarken für das Kind nicht zugeteilt werden.
Am Fastnachtsdienstag, dem 9. März 1943, sieben Tage nach der Aufnahme, verließ Theresia Winterstein mit ihren Kindern die Klinik. Später hat sie ihre Flucht damit begründet, dass sie glaubte, auch die Würzburger Sinti, wie die aus anderen Städten, würden in diesem Monat nach Auschwitz verschleppt: „Ich habe gedacht, meine Familie kommt eher ins Lager als ich. Und ich muss dann allein mit zwei Kindern auf einen Transport.“
Der März 1943 war der Schicksalsmonat der deutschen Sinti. Während die ersten Transportzüge mit Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau ankamen und sich die mit Stacheldraht umzäunten Baracken des „Zigeuner-Familienlagers“ füllten, lebten die Mitglieder der Familie Winterstein in der Angst, ebenfalls einen Zug in Richtung Osten besteigen zu müssen. Was sie dort erwarteten würde, konnten sie sich nicht vorstellen, doch dass sie möglichst zusammenbleiben und die unbekannte düstere Heimsuchung gemeinsam überstehen wollten, das wussten sie.
Anfang April 1943 entstand ein Foto, das ein Familienidyll vorspiegeln sollte, aber nichts mit der Situation der Sinti in Würzburg und Deutschland und erst recht nichts mit der von Theresia Winterstein und ihren Babys gemein hatte. Zu einem Zeitpunkt, als viele Sinti schon in den Baracken von Auschwitz-Birkenau dahinvegetierten, ließ man die junge Mutter und ihren Verlobten Gabriel Reinhardt die besten Kleider anziehen und fotografierte sie mit dem Zwillings-Kinderwagen auf der Domstraße.
„Die Nazis haben meine Eltern mit uns durch Würzburg laufen lassen, um das Ausland zu beschwichtigen“, so Rita Prigmore, eines der Mädchen, später: „Es war nichts als Lüge und Propaganda.“
„Danach“, so Theresia Winterstein, „ist mir erklärt worden, die Kinder seien unterernährt und müssten zur Untersuchung in die Universitätsklinik. Ich wurde mit dem Gestapo-Wagen in die Kinderklinik gebracht und musste die Kinder abliefern. Ich bekam keine Genehmigung, sie zu sehen.“
Es war der 6. April 1943, als auf polizeiliche Verfügung hin beide Kinder in die Universitäts-Kinderklinik kamen. Nach wenigen Tagen hielt Theresia Winterstein die Ungewissheit nicht mehr aus. Was geschah mit ihren Mädchen? „Vielleicht hatte ich auch eine Ahnung“, sagte sie später. „Ich kam ins Krankenhaus und wollte meine Kinder sehen. Die Schwester versuchte alle möglichen Ausflüchte. Dann zeigte sie mir Rita. Wo ist Rolanda? Da gab sie mir keine Antwort.“
Theresia Winterstein weiter: „Ich wurde hysterisch und habe der Schwester die Haube runtergerissen. Schließlich sagte man mir, Rolanda sei im Bad. Da lag sie in einem kleinen Bett mit einem Kränzchen rum. Ich verstand nicht, warum mein Kind einen Kopfverband trug. Ich konnte gar nicht weinen. Ich habe die Schwester am Hals gepackt und sie weitergedrückt und bin zu Rita rein. Ich nahm mein Kind aus dem Bett, hab es in meinen Mantel gewickelt und bin raus. Mir war das egal, wir kamen sowieso ins Lager. Wie wir sie raus hatten, sind wir schnell gerannt.“ Auch Rita, der gerettete Zwilling, hatte ein Pflaster am Kopf.
Die genauen Umstände von Rolanda Wintersteins Tod am 11. April 1943 werden wohl niemals zu klären sein. Es ist aber denkbar, dass an ihr und ihrer Schwester Rita medizinische Versuche durchgeführt wurden. Dafür sprechen der Kopfverband und das Pflaster und eine Narbe hinter dem linken Auge des überlebenden Zwillings Rita. Auch langwierige gesundheitliche Probleme von Rita als Kind und erwachsene Frau dürften in dem Geschehen jener Tage hinter verschlossenen Türen ihre Ursache haben.
„Über die Todesursache des Kindes Rolanda lassen sich keine eindeutigen Aussagen machen“, schrieb ein Gutachter im Jahr 1987, fuhr jedoch fort: „Ein Interesse an der wissenschaftlichen Untersuchung von Zigeunerzwillingen zu dieser Zeit kann als gegeben angenommen werden.“ Auch wer die Versuche durchführte, kann man nicht mit Bestimmtheit sagen. Es erscheint plausibel, dass Werner Heyde involviert war, und dass er Josef Mengeles Vorgaben folgte ist immerhin denkbar.
Theresia Winterstein glaubte zunächst, dass Rolanda an einem Magen- und Darmkatarrh gestorben war: „Aber es war nicht so. Da ist schon durchgesickert, dass sie für Versuchszwecke benutzt wurde.“ Der überlebende Zwilling Rita Prigmore ist heute davon überzeugt, dass Ärzte ihre Augen und die ihrer Zwillingsschwester färben sollten: „Das war Mengeles Spezialität. Er besuchte Heyde oft in Würzburg. Berlin wusste von uns. Warum hätte man mit dem einzigen Sinti-Zwillingspaar in Würzburg keine Experimente machen sollen? Warum kamen wir nach wenigen Wochen in die Klinik, warum hatte Rolanda einen Verband um ihren kleinen Kopf, warum hatte ich ein Pflaster? Man sieht an meiner Narbe und am Röntgenbild, dass es Eingriffe waren.“
Rolanda wurde auf dem Hauptfriedhof beerdigt. Im Januar 1943 war Stalingrad gefallen, im Februar waren in München die Mitglieder der Widerstandsbewegung Weiße Rose enthauptet worden, darunter die 21-jährige Sophie Scholl, geboren 1921 wie Theresia Winterstein.
„Warum hätte man mit dem einzigen Sinti- Zwillingspaar in Würzburg keine Experimente machen sollen?“
Theresia Winterstein
Als diese mit ihrer Tochter Rita in die Wohnung in der Mergentheimer Straße zurückkehrte, galt es eine entscheidende Frage zu klären: Wohin mit dem Baby, das unterernährt war und dringend ärztliche Hilfe brauchte. Zurück in die Kinderklinik der Universität? Das schien unmöglich, denn dort, so fürchtete die junge Mutter, drohten weitere Experimente.
Hilfe kam von Dr. Kurt Kellner, einem Würzburger Hals-, Nasen- und Ohrenarzt, der vor der nationalsozialistischen Machtübernahme als Kommunist dem Stadtrat angehört hatte und von dem bekannt war, dass er minderbemittelte Kranke umsonst behandelte. Allem Anschein nach gelang es ihm, Rita in der Rotkreuzklinik in der Kapuzinerstraße, die zeitweise über eine Säuglingsabteilung verfügte, unterzubringen.
Mehrere Monate durfte Theresia Winterstein keinen Kontakt zu ihrer Tochter haben, sie wusste noch nicht einmal genau, wo sie sich aufhielt und was mit ihr geschah. Währendessen wurden die ersten Mitglieder ihrer Familie aus Würzburg nach Auschwitz deportiert.
Erst Ende 1943 oder Anfang 1944 – inzwischen war die aufgeschobene Zwangssterilisation der jungen Mutter in der Universitäts-Frauenklinik nachgeholt worden und Theresia Winterstein und Gabriel Reinhardt erhielten die Erlaubnis, vor dem Würzburger Standesamt zu heiraten - bekam Theresia einen Brief, in dem sie aufgefordert wurde, das Kind abzuholen. Nie ließen sie danach Rita allein. Denn: „Wir wollten, dass einer übrig bleibt.“
Letzter Teil: Theresia Wintersteins Cousine Anneliese mit ihren Kindern Karl-Heinz und Waldemar in Auschwitz.