
Eine Zwischenwelt, irgendwo zwischen Leben und Tod. Sicher ist nur: Einen Weg zurück ins Leben gibt es auf keinen Fall, aber wohin es weitergeht, ist unklar. In diesem Limbo spielt Elfriede Jelineks Theaterstück "In den Alpen" aus dem Jahr 2002, das am Mittwoch Premiere auf der Probebühne im neuen Kopfbau des Mainfranken Theaters hatte. "In den Alpen" ist eine sarkastische, makabre, lustige und herzzerreißende Abrechnung mit der "Alpenrepublik", also mit Österreich, dem Heimatland, an dem sich Jelinek immer wieder abarbeitet.
Es geht um das verheerende Bergbahnunglück von Kaprun vom 11. November 2000, bei dem 155 Menschen starben, weil ein Heizlüfter Feuer fing. Doch ungeachtet aller später aufgedeckten Versäumnisse und Mängel wurde kein einziger der angeklagten Verantwortlichen schuldig gesprochen. Der Richter sagte im Prozess über das Unglück: "Da hat Gott für einige Minuten im Tunnel das Licht ausgemacht."
Kunterbunte Textkollage, die kunstvoll Faktisches mit Poesie und Komik verwebt
Klänge es nicht zynisch, würde man sagen: idealer Stoff für Elfriede Jelinek. Um eine durch und durch korrupte Gesellschaft zu entlarven, die alles verhökert, von der Natur bis hin zur eigenen Integrität, um sich reich und tumb hinter Berghüttenkitsch aus dem Baumarkt zu verschanzen. Aber "In den Alpen" ist kein Doku-Stück, sondern eine kunterbunte Textkollage, die kunstvoll Faktisches mit Poesie und einer gehörigen Portion Komik verwebt.
Zurück in die eingangs erwähnte Zwischenwelt: Anna Wörl (Bühne und Kostüme) durchschneidet den Raum mit einem beklemmenden schwarzen Keil, der einerseits den Tunnel andeutet, andererseits als Projektionsfläche für trügerisch idyllische Bergbahnvideos dient. Den Boden bedecken Skier und Skikleidung – von einer Minute auf die andere vom teuren Markenprodukt zu toxischem Müll verbrannt.

Zwei Wintersportlerinnen (Nina Mohr und Laura Storz), Opfer des Unglücks, treffen hier in dieser verwüsteten Talstation auf einen feschen Bergretter (Nils David Bannert), der sich als eine Art Charon entpuppt, als Mittler Richtung Unterwelt. Er hat offenbar den Auftrag, Ordnung zu schaffen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
Doch so einfach lassen sich die beiden Frauen nicht in die Leichensäcke packen. Nicht, dass sie mit ihrem Schicksal haderten, nicht sehr jedenfalls. Sie gehörten ja selbst zu denen, die die Berge zum Freizeitpark degradiert hatten. Oder, wie Jelinek Nietzsche zitiert: "Kein Ding gerät, an dem nicht der Übermut seinen Teil hat." Aber es besteht Redebedarf, da hilft auch die Aufforderung "Ruhe im Grab!" nicht viel.
Die Alpen als Tempel arischer Reinheit, in dem Juden nichts zu suchen hatten
Laura Storz ist die Quirlige, Überdrehte, die auf dem Snowboard so schnell war, dass sie sich fast selbst überholte. Ihre Eltern sind mit ihr im Zug verbrannt, was seine Vorteile hat, jedenfalls kann die Mutter nicht weiter an ihr herumnörgeln: "Ätsch, selber tot!" Nina Mohr ist die Ruhigere, die schon ein wenig mehr Leben hinter sich hatte. Sie deutet mit sanfter Resignation an, was noch hätte kommen können.
Als dann noch ein geheimnisvoller Fremder (Georg Zeies) auftaucht und aus Paul Celans "Gespräch im Gebirg" zitiert, kommt eine weitere Dimension hinzu: Die Alpen als Tempel arischer Reinheit, in dem Juden nichts zu suchen hatten. Denn der abgerissenen Kleidung nach ist der Mann möglicherweise einer jener Zwangsarbeiter, die unter dem NS-Regime am Staudamm gleich nebenan schufteten.
Regisseurin Tamó Gvenetadze lässt die Figuren ganz bei sich und vermeidet es, all die Zitate, Querverweise, Anspielungen irgendwie herausarbeiten. So wird der hochkomplexe Text zur rasenden Talfahrt der Assoziationen, aus der schließlich echte Menschen hervortreten. Natürlich ist das Stück eine politische Anklage. Weit mehr noch aber ist es ein Plädoyer für den Wert jedes einzelnen Lebens.
Weitere Vorstellungen: 5., 13., 22., 30. Oktober, 5., 20. November, 8., 26. Januar. Karten: Tel. (0931) 3908-124, karten@mainfrankentheater.de