
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und danach fanden in ganz Deutschland und auch in Würzburg staatlich gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Jüdinnen und Juden statt. Zahlreiche Menschen wurden in der sogenannten Reichspogromnacht ermordet, unzählige Existenzen durch Gewalt und Vandalismus zerstört. Viele Betroffene nahmen sich das Leben. Welche Bedeutung sollte dieses Ereignis für die heutige Gesellschaft haben? Wie wichtig ist Gedenkkultur für die Zukunft? Sieben Menschen aus Würzburg berichten von ihren Gefühlen.
Lea S. (19), Jugendleiterin der jüdischen Gemeinde in Würzburg

Ich bin damit aufgewachsen, dass über den Holocaust geredet wird. Meine Großeltern haben einen großen Schaden dadurch davongetragen. Wenn ich an die Reichspogromnacht denke, verspüre ich erst Wut und kurz danach Trauer. Sie war der Startschuss für vieles andere. Mein Opa war immer sehr verschlossen bei dem Thema. Mein Vater hatte in Würzburg vor einigen Jahren einen unangenehmen Vorfall in Zusammenhang mit seiner Kippa. Das hat mich sehr geprägt. Ich habe da zum ersten Mal real gesehen, dass es Judenhass gibt.
Mir persönlich ist Antisemitismus nie direkt begegnet. Häufig werde ich von Leuten dazu befragt, auch zum Thema Israel. Ich beantworte gerne Fragen, manchmal ist jedoch ein "Unwohlsein" dabei. Nachdenklich und traurig macht mich der Gedanke, dass gerade viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sterben. Ich fühle mich verantwortlich dafür, diese Geschichten aufzuschreiben. Gerade auch in Hinblick auf andere Minderheiten ist es wichtig, dass diese Geschichten nicht verloren gehen.
Shalin B. (17), Jugendleiterin der jüdischen Gemeinde in Würzburg

Ich verspüre auf jeden Fall auch Trauer, wenn ich an die Reichspogromnacht denke. Ich habe Familienmitglieder, die aus dem KZ rausgekommen sind. Das macht etwas mit mir – auch, weil im zeitlichen Umfeld des Jahrestags der Reichspogromnacht eine persönliche Feier stattfindet. Ich sage nicht jedem sofort, dass ich Jüdin bin. Die Leute sind neugierig, aber noch nie hat jemand bei mir negativ reagiert. Ich mag es, mich ungewöhnlich zu fühlen.
Es ist wichtig, dass weiter über die Reichspogromnacht und den Holocaust aufgeklärt wird, damit so etwas nicht nochmal passiert. Dass es immer noch Menschen gibt, die den Holocaust leugnen, zeigt, dass Antisemitismus weiterhin ein Problem in dieser Gesellschaft ist. Es gibt Initiativen, die am 9. November Stolpersteine putzen, das finde ich wichtig. Es wäre aber auch schön, wenn abseits der Gedenktage mehr über jüdisches Leben in Deutschland gesprochen werden würde.
Nikita V. (25), staatlich geprüfter Maschinenbautechniker

Denke ich an die Reichspogromnacht, verspüre ich eine Mischung aus Trauer mit Wut und Zorn. Es hat mich nicht direkt getroffen und auch keine Familienmitglieder von mir. Ich verstehe nicht, wie die Religionszugehörigkeit Begründung für so eine Tat sein kann. Mich ärgert der blinde Gehorsam in der Gesellschaft, der diese Schreckenstaten erst ermöglicht hat. Als Jude stört mich dennoch, dass heute bei jeder Gelegenheit über den Holocaust gesprochen wird. Man sollte an den wichtigen Gedenktagen auch feiern, dass die Gesellschaft heute eine andere ist.
Ich gehe offen, aber zurückhaltend mit meiner jüdischen Herkunft um, in meinem Umfeld reagieren Menschen positiv, wenn sie davon erfahren. Aber selbst ich mache mir inzwischen manchmal Gedanken über den wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft. Vor einigen Jahren war das noch nicht so. Ich sehe, dass andere Minderheiten heute ausgegrenzt werden. Bei Geflüchteten heißt es immer, die seien an Allem schuld, aber das stimmt nicht, auch da gibt es viele gute Leute, die ihren Beitrag für diese Gesellschaft leisten wollen.
Sadiqa Rukhsana Antje Gardezi (33), Sprecherin der muslimischen Ahmadiyya-Gemeinde

Durch die Geschichte sind wir gewarnt, wie schnell Populismus und die Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen in Ignoranz und Bestialität enden können. Auch deshalb ist das Gedenken an diese Ereignisse so wichtig. Es nützt aber nicht viel, nur daran zu denken und zu trauern, ohne bewusst mit vollem Willen dagegen anzugehen, aufzuklären und das Thema immer wieder anzusprechen. Es darf nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben, sondern es muss aktiv eine gesellschaftliche Atmosphäre entwickelt werden, in der nicht das Aussehen, nicht die Herkunft, nicht die Religiosität im Vordergrund stehen, sondern die Leistung und das Engagement von jedem Bürger und jeder Bürgerin. Das muss unterstützt und gewürdigt werden.
Zum Gedenken an die Reichspogromnacht haben sich Mitglieder unserer Gemeinde zum Beispiel schon an der Reinigung von Stolpersteinen beteiligt oder Menschenketten gebildet und sich schützend vor Synagogen gestellt. Wir nehmen aktiv teil am Gedenken und daran, dass die Glaubensfreiheit aller Menschen geschützt wird. Wir alle glauben daran, dass Menschenrechte nicht verhandelbar sind und auch nicht zum Spielball politischer Strömungen oder sogar Regierungen werden dürfen.
Anna Eberl (22), Gemeindeleiterin der Katholischen Hochschulgemeinde Würzburg

Wenn ich auf meinem Weg zur Uni an der Synagoge vorbeifahre, die schwer bewacht werden muss, macht mich das jeden Tag traurig und wütend zugleich. Als Christin kann ich sonntags zum beten in Würzburg zwischen 100 Gottesdiensten entscheiden, während Jüdinnen und Juden lediglich eine Anlaufstelle haben. Und dann können sie bei dieser nicht mal sicher sein, unversehrt ihrem Glauben nachgehen zu können? Unsere Glauben sind gar nicht so weit auseinander, aber mir als Christin passiert das nicht. Es ist unsere Aufgabe, uns klar gegen jegliche Art von Antisemitismus zu positionieren. Dabei ist es wichtig, dass wir mehr miteinander, als übereinander reden.
Zwar darf jede Person eine Meinung haben, aber solche, die sich gegen Menschen richten, sind nicht vertretbar. Wir reden über Links- und Rechtsextremismus, aber schweigen über antisemitische Straftaten. Für mich ist der Gedenktag deshalb umso wichtiger, ich möchte ihn in Würde begehen. Unsere Sonntagsmesse hat jedes Mal einen anderen Schwerpunkt, diesmal war es die Reichspogromnacht. Wir haben statt eines Bibelauszugs einen Zeitzeugenbericht vorgelesen, der uns die Geschehnisse der Nacht mit all ihren Unmenschlichkeiten nochmal vor Augen führte.
Benita Stolz (73), Vorstand DenkOrt Deportationen e.V.

Was lernen wir daraus, dass das nicht wieder passiert? Das ist für mich die wichtigste Frage. Nachdem ich mich durch die Arbeit mit den Stolpersteinen und am DenkOrt Deportation am Würzburger Hauptbahnhof so in die Thematik eingearbeitet habe, empfinde ich stark das Begehren, die derzeitige Entwicklung des Rechtsradikalismus zu stoppen oder abzubremsen. Meine Arbeit ist zwar in der Vergangenheit geboren, aber muss ganz stark in die Gegenwart und Zukunft hineinwirken. Wir müssen lernen, was Radikalisierung bedeutet und wie es dazu kommt. Ich sehe leider noch nicht den Stein der Weisen, der mir sagt, wie wir das Morgen verändern können. Doch mit der richtigen Aufklärung sind wir auf einem guten Weg.
Bei den Stolpersteinen sehe ich einerseits gut die große Freude der betroffenen Verwandten, deren Vorfahren nun endlich gewürdigt werden. Andererseits sind auch die Gerichte aufgewacht und schicken jugendliche Straftäterinnen und -Täter zu uns, um einen Stolperstein zu bezahlen und sich mit dem Namen auf dem Stein auseinanderzusetzen. Doch dort merke ich auch, dass noch viel zu verändern ist. Oft werden Aussagen nur oberflächlich getätigt. Das alles ist also ein langwieriger Prozess, wir müssen achtsam sein und die redenden Politiker dazu bringen, in die richtige Richtung zu gehen.
Stefan Lutz-Simon (52), Leiter der Jugendbildungsstätte Würzburg

Wir wollen am 9. November deutlich machen, dass wir nur an die Pogrome in Deutschland erinnern können, wenn wir Kindern und Jugendlichen heute erklären, dass so etwas nicht aufgehört hat. Mitten in unserer Gesellschaft, die sich heute demokratisch nennt, geht die Diskriminierung von Minderheiten weiter. Wenn wir heute Erinnerungskultur betreiben, dann gilt es nicht nur, den Gegenwartsbezug herzustellen, sondern es gilt auch, den jungen Menschen Zukunftsversprechen zu machen. Das heißt, wenn wir an den 9. November erinnern, dann müssen wir jungen Menschen gegenüber und all denjenigen, die mit ihnen arbeiten, verdeutlichen, dass das, was damals passiert ist, nie wieder passieren darf. Bei jedem Übergriff, den wir zulassen, versagen wir als Gesellschaft.
Und das beginnt bereits in der Sprache. Es muss sensibel darauf geachtet werden, in welcher Form sich diese böse Energie damals auf den 9. November aufgeschaukelt hat. Was hat Sprache damals schon bewegt? Wie ist über Gruppen nachgedacht und über Jüdinnen und Juden gesprochen worden? Und vor allem: Wie wird heute über gewisse Menschengruppen gesprochen? Alle Gewalt, die in irgendeiner Form ausbricht und sich kollektiv gegen eine Minderheit richtet, ist aus einer verbalen Gewalt entstanden. Das war schon immer so in der Geschichte der Menschheit. Das bedeutet für uns heute, dass wir schauen müssen, wo Sprache entsteht. Wie wird auf dem Schulhof gesprochen? Was bedeutet das, wenn ein Mensch das Wort Jude in den Mund nimmt?
Hinweis: Die Redaktion hat die Namen einiger Personen auf deren Wunsch oder auf Bitte der Angehörigen abgekürzt. Die vollen Namen sind der Redaktion jedoch bekannt.
Als Muslima jüdische Gedenksteinene zu säubern find ich sehr bemerkenswert. Bitte bleiben Sie und Ihre Gemeinde so wie Sie sind. Behalten Sie Ihre Empathie!
Nur gemeinsam geht's voran in Deutschland und Europa.
Hochachtungsvoll
Stefan Fuchs
Schweinfurt
Wir sehen jeden Tag: das ist niemals vorbei!
Wir müssen alle zusammenstellen gegen rassistisches, antisemitische, antidemokratisches Gedankengut!
Es ist wahr, was Brecht geschrieben hat:
„So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert -
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“
Was Gottes Wort zu diesem Thema sagt, interessiert die Menschen nicht.
L.G. Martin Dobat