Abdirahman J. war nicht Herr seiner Sinne, als er am 25. Juni 2021 in der Würzburger Innenstadt auf arglose Passanten einstach. Daran haben an diesem Freitag die beiden Sachverständigen keinen Zweifel gelassen. Es war ein lange erwarteter Moment in diesem Prozess um den Messerangriff vom Barbarossaplatz: Am 13. Verhandlungstag präsentierten die Psychiater in der "Weißen Mühle" in Estenfeld (Lkr. Würzburg) ihre unabhängig voneinander erstellten Gutachten.
Ergebnis der psychiatrischen Gutachten: Nicht unschuldig, aber schuldunfähig
Der zum Tatzeitpunkt 31-jährige Geflüchtete habe im Verfolgungswahn im Kaufhaus Wooolworth drei Frauen ermordet und dann auf dem Platz davor sechs weitere Menschen teilweise schwer verletzt. Er leide an paranoider Schizophrenie, machten die zwei Psychiater deutlich. Das heißt juristisch: Der Beschuldigte gilt - angesichts seines Geständnisses zu Prozessbeginn - nicht als unschuldig, aber als schuldunfähig. Weil er, getrieben von Halluzinationen, das Verwerfliche seines mörderischen Tuns schlicht verdrängt habe, so die Sachverständigen.
Damit haben die beiden Psychiater die erwarteten Pflöcke für den Ausgang des Prozesses eingeschlagen. An ihren Aussagen dürften die Richter des Landgerichts Würzburg nicht vorbeikommen, wenn sie in der kommenden Woche ihre Entscheidung treffen. Sie kann eigentlich nur lauten: Der Messerangreifer muss in einer Klinik untergebracht werden - auch zum Schutz der Öffentlichkeit vor weiteren möglichen Taten.
"Es besteht kein Zweifel, dass der Beschuldigte an einer paranoiden Schizophrenie leidet", sagte Hans-Peter Volz, Ärztlicher Direktor des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Somalier ohne Behandlung in einer Psychiatrie weitere "hochaggressive Taten" begehen könnte, sei "ausgesprochen hoch", meint auch sein Kollege Kolja Schiltz aus München. Dass der Beschuldigte seine Halluzinationen nur simuliere, halten beide für ausgeschlossen.
Eine Taube gibt Befehle
Volz hatte in der Klinik sechs Mal mit dem heute 32-Jährigen gesprochen - immer geschützt von drei bis vier Sicherheitskräften. Er beschrieb vor Gericht eine markante Situation: Während des Gesprächs sei zufällig eine Taube vorbeigeflogen. "Das hat ihn völlig gefangen genommen", beschreibt der Gutachter. Der Beschuldigte sei völlig auf den Vogel fixiert gewesen und habe versichert, die Taube habe ihm Befehle gegeben. "Das sieht man in dieser Deutlichkeit selten."
Mit einer kleinen, feinen Frage stellte Verteidiger Hanjo Schrepfer fast unbemerkt Weichen: Denn noch immer kursiert selbst unter Juristen die Idee, den Somalier in sein Heimatland abzuschieben. Solchen Vorstellungen kam der Anwalt mit seiner Frage an die Gutachter zuvor: Ob es im Heimatland des Beschuldigten Kliniken gebe, die kompetent seine Behandlung übernehmen könnten? Beide Gutachter schüttelten den Kopf. Damit ist eine Abschiebung des Mannes nach Mogadischu rechtlich kaum mehr möglich.
Gerüchte um Verwicklungen in den Tod eines Kindes
Bevor das Gericht am Freitag die Beweisaufnahme schloss, ließ der letzte Zeuge aus den Reihen der Ermittler mit seiner Aussage noch einmal aufhorchen. Dem Leiter der Ermittlungen vom Landeskriminalamt (LKA) stellte Richter Claus Barthel bohrende Fragen: Ob der Ermittler Hinweise in Chemnitz, dem früheren Wohnort des Verdächtigen, überprüft habe, die ihn mit dem Tod eines Kindes in Zusammenhang brachten? Der LKA-Beamte antwortete: Die Polizei in Sachsen habe keine Hinweise darauf gewonnen. Und als Barthel hartnäckig nachhakte: Auch anderweitig hätten keine Fakten dieses Gerücht bestätigt.
Die Ermittler fanden seinen Worten zufolge auch keine Beweise dafür, dass Abdirahman J. vor seiner Flucht aus Somalia für die islamistische Miliz Al Schabaab gemordet habe. Dies will ein früherer Mitbewohner bei Telefonaten des Beschuldigten vor fünf Jahre mitbekommen haben. Er habe mit dem Töten mehrerer Menschen geprahlt, auch mit einer Bombe, die er unter ein Auto gelegt habe.
Schon 2018 war Verfolgungswahn erkennbar
Doch diese Hinweise waren zu vage, um Ermittlungen darauf zu stützen - der Beschuldigte hatte sie bestritten. Die Ermittler hätten auch aus zahlreichen Vernehmungen sowie der Kontrolle seiner Handys keine Belege für die Zugehörigkeit zu Terror-Gruppen gefunden, so der Zeuge vor Gericht. Die Kriminalisten hätten aber zahlreiche Hinweise bekommen, dass sich der Geflüchtete bereits in Sachsen 2018 wahnhaft von deutschen, russischen und türkischen Geheimdiensten verfolgt fühlte.
Der Vorsitzende Thomas Schuster schloss am Freitag die Beweisaufnahme mit einem rechtlichen Hinweis: In vier der angeklagten Fälle könnte Ende kommender Woche - nach 16 statt wie ursprünglich vorgesehen 27 Verhandlungstagen - auch ein Urteil wegen versuchten Totschlags statt versuchten Mordes fallen. In diesen vier Fällen sei das Mordmotiv "aus niedrigen Beweggründen" nicht mehr erfüllt, wenn der Angreifer schuldunfähig ist. In der Summe dürfte dies an der Entscheidung aber wenig ändern.
Am kommenden Montag, 25. Juli, läutet die Münchner Oberstaatsanwältin Judith Henkel mit dem ersten Plädoyer das Prozessende ein. Dann folgen die sieben Anwälte der 14 Nebenkläger. Am Dienstag dann ist die Verteidigung an der Reihe - und vielleicht der Beschuldigte mit einem letzten Wort.