Es ist ein langer, steiniger Weg, doch sie gehen ihn unbeirrt optimistisch: Den vier Opfern aus Hongkong, die bei dem Axt-Attentat am 18. Juli vor einem Jahr schwer verletzt wurden, geht es langsam, aber stetig besser. Unter den Folgen der Attacke leiden sie immer noch. Ein Würzburger hat die Familie in Hongkong besucht.
„Wir fühlen uns viel besser als im Winter aber wir brauchen regelmäßige Kontrollbesuche bei den Ärzten“, schreibt der 31-jährige Ingenieur an die Würzburger Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft. Er war bei dem Attentat am schwersten verletzt worden und lag fast zwei Monate im künstlichen Koma. Wochenlang rangen die Neurochirurgen des Würzburger Universitätsklinikums um sein Leben. Ebenfalls schwer verletzt wurden seine 27-jährige Verlobte und ihre Eltern (62-jähriger Vater und 58-jährige Mutter) sowie eine Heidingsfelder Spaziergängerin. Die vier Asiaten hatten sich auf einer Europareise befunden und waren auf dem Weg von Rothenburg nach Würzburg, als sie plötzlich im Zug angegriffen wurden.
Hans-Peter Trolldenier, stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft, steht noch in regelmäßigem E-Mail-Kontakt mit den Opfern. Der Verein kümmerte sich in den Monaten nach dem Anschlag um die verletzten chinesischen Touristen und ihre Angehörigen. Sie halfen der Familie bei organisatorischen Belangen, richteten ein Spendenkonto ein (15 000 Euro) und besuchten die Opfer im Krankenhaus. Aus der anfänglichen Nothilfe sind Freundschaften entstanden. Schon früh hat die chinesische Familie Hans-Peter Trolldenier nach Hongkong eingeladen. Jetzt hat es endlich geklappt. Anlässlich einer Asienreise, die den Würzburger nach Hongkong, Shanghai und Hangzhou führte, hat er die Opfer besucht. Nach seiner Rückkehr schildert er seine Erlebnisse dieser Redaktion.
Besuch in Hongkong
„Sie haben sich riesig über den Besuch gefreut. Sie wollten mir ihre Heimat so zeigen, wie ich ihnen Würzburg und Umgebung gezeigt habe“, erzählt Trolldenier. Elf Tage verbrachte der Würzburger in Hongkong. In dieser Zeit traf er sich fast allabendlich mit verschiedenen Familienmitgliedern. Tagsüber hatten die jungen Leute keine Zeit, denn alle drei sind wieder voll berufstätig: der 31-Jährige Ingenieur, seine 27-jährige Verlobte und seine 26-jährige Schwester, die nach dem Attentat zusammen mit der Mutter (siehe Foto) nach Würzburg gereist war, um den Verletzten beizustehen und die sich nach dem langen Aufenthalt in Deutschland eine neue Anstellung suchen musste.
Der Ingenieur und Hauptverdiener der Familie arbeitet wieder bei seiner alten Firma. Diese hatte ihm trotz monatelangen Ausfalls die Stelle freigehalten. Zwei Mal brach der junge Mann während seiner Arbeit zusammen. Der berufliche Alltag in Hongkong sei hart, kürzer treten kaum möglich, so Trolldenier. Deshalb sei es auch so wichtig für die Opfer, in der Freizeit bewusst für Entspannung und Ausgleich zu sorgen. Für Reisen ins Ausland sei es noch zu früh. Doch die Wochenenden nutzt die Familie für lange Spaziergänge auf einer der 263 Inseln Hongkongs. „Außerdem legen sie Wert auf gutes Essen.“ Die Wohnungen in Hongkong sind alle sehr klein. „Man lädt sich nicht gegenseitig nach Hause ein. Wenn Chinesen eine Feier machen, treffen sie sich im Lokal“, erklärt der Würzburger. Kein Wunder also, dass ihm besonders die Restaurantbesuche mit der Familie in Erinnerung bleiben.
Ein Höhepunkt für Trolldenier war das Essen in einem Fischereihafen am Rande des Hongkonger Stadtgebiets: weit entfernt von der letzten U-Bahn-Station; an einer der wenigen Orte Hongkongs, an denen man im dichten Nebel der Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole kaum noch Wolkenkratzer sieht. Ähnlich genossen hat Trolldenier den sonntäglichen „Morning Tea“, eine Art Frühstücksbrunch, mit der Familie. In der geselligen Runde war auch einer der beiden Beamten der Hongkonger Regierung. Er war nach dem Axt-Attentat nach Würzburg entsandt worden, um die chinesischen Opfer zu unterstützen. Erst vor wenigen Monaten hatte Hans-Peter Trolldenier mit ihm im Würzburger Karthäuser Hähnchen gegessen. Mittlerweile sind die zwei Beamten mit den Opfern befreundet. Sie treffen sich zum Essen und plaudern.
Rückblick: Gespräch mit den Opfern in Würzburg
In Würzburg sah vor wenigen Monaten noch alles ganz anders aus, an jenem grauen Oktobertag 2016, eine Woche vor der Rückreise der Opfer nach Hongkong. Die drei jungen Asiaten hatten nach monatelangem Zögern exklusiv einem Gespräch mit dieser Redaktion zugestimmt. Blass und mitgenommen sitzen sie damals im Speisesaal eines Würzburger Hotels.
Das Grauen, das sie erlebt haben, ist kaum in Worte zu fassen. Trotzdem reden sie offen, fassen Vertrauen, betonen, wie dankbar sie sind, überlebt zu haben: dankbar, dass so viele Menschen in Unterfranken ihnen geholfen haben. Mit überwältigender Offenheit schildern sie ihre Erlebnisse nach dem Axt-Attentat. Sie berichten von Augenblicken persönlicher Verzweiflung im Zug, von der schweren Zeit danach, von Trauer, aber auch von der Dankbarkeit allen Menschen gegenüber, die ihnen geholfen haben. Irgendwann, so sagen sie, wollen sie noch einmal nach Würzburg reisen.
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„Was passiert ist, ist passiert. Wir können den Vorfall nicht auslöschen. Doch wir können versuchen, optimistischer zu werden und zu neuer Stärke zu gelangen“, so die 26-jährige Schwester des 31-Jährigen damals. Sie war nach dem Attentat mit ihrer Mutter nach Würzburg gekommen, um den verletzten Familienmitgliedern beizustehen. Ihr 31-jähriger Bruder ringt mit leiser belegter Stimme nach Worten: „Ich habe das Foto gesehen, auf dem ich noch auf der Intensivstation lag. Es war ziemlich gruselig, weil ich nicht erkannt habe, dass die Person, die da auf dem Bett lag, ich selbst war.“
Die seelischen Wunden sitzen tief
Bei dem Gespräch mit dieser Redaktion im Oktober ergreift die 27-Jährige aus Hongkong immer wieder das Wort: „Ich möchte meine Dankbarkeit ausdrücken bei all den vielen Menschen hier aus dem Raum Würzburg, die für uns gebetet haben (...), die uns auf diesem schweren Weg seit dem Vorfall im Zug geholfen haben, bei allen, die uns unterstützt haben, sei es auch nur mit einer Umarmung“. Ihr Verlobter, der dank der Würzburger Neurochirurgen trotz seiner schweren Schädel-Hirn-Verletzungen wieder sprechen, essen und laufen kann, sitzt neben ihr. Der schlanke Asiate mit den weißen Turnschuhen, dem grünen Kapuzenpulli und der schwarz umrandeten Brille sagt damals: „Es liegt noch ein langer Weg vor mir. Ein weiter Weg zurück zu meinem normalen Leben.“ Das Sprechen fällt ihm sichtlich schwer.
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Sechs Monate später sieht man den Opfern äußerlich nichts mehr von der schrecklichen Attacke in der Würzburger Regionalbahn an, berichtet Trolldenier. Die Familie wirkt erholt. Der 31-Jährige redet wieder flüssig, wirkt selbstbewusst und geht unmittelbar auf seine Gesprächspartner ein. Seine Konzentrationsschwäche ist verschwunden. Auch die 27-jährige Verlobte, die mittlerweile internationale Tagungen organisiert, hat sich verändert. Auf den Fotos trägt sie keine dunkle Wollmütze mehr. Die äußeren Wunden am Kopf scheinen verheilt. Ihre langen, schwarzen Haare fallen ihr glänzend über die Schultern. Die Augen strahlen.
Auch ihren Eltern, die von dem Attentäter schwer verletzt worden waren, geht es besser. Ihr 17-jähriger Bruder, der den Angriff auf seine Familie miterlebte und wie viele andere Bahnreisende in der Würzburger s.Oliver Arena psychologisch betreut wurde, macht in Hongkong gerade sein Abitur. Dennoch möchte die Familie weiter anonym bleiben. Fast alle sind noch in psychotherapeutischer Behandlung. Die seelischen Wunden sitzen tief. Ihr Optimismus und ihre Lebensfreude aber scheinen ungebrochen.
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