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WÜRZBURG
Axt-Attentatsopfer melden sich erstmals zu Wort
Germanistikstudentin Tingyao Lu (links) übergab Anfang August 500 Euro an die Schwester und die Mutter des 31-jährigen Opfers, das zu dieser Zeit noch im Koma lag.
Foto: Gesellschaft für deutsch-chinesische Freundschaft Würzburg E.V. | Germanistikstudentin Tingyao Lu (links) übergab Anfang August 500 Euro an die Schwester und die Mutter des 31-jährigen Opfers, das zu dieser Zeit noch im Koma lag.
Angelika Kleinhenz
 |  aktualisiert: 18.11.2016 03:42 Uhr

Sie sind zu Hause. Zurück in der Anonymität der Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole Hongkong. Die 27-jährige Chinesin und ihr 31-jähriger Verlobter, die bei dem Axt-Attentat am 18. Juli in Würzburg schwer verletzt wurden, sind in ihre Heimatstadt zurückgeflogen. Dort warteten bereits die Eltern der Frau auf das Paar. Auch sie waren bei dem Anschlag in Würzburg schwer verletzt worden. Ebenso wie eine Spaziergängerin in Heidingsfeld, die als Erste bereits vor Monaten die Würzburger Klinik wieder verlassen konnte.

Monatelang sahen sich die Opfer und ihre Angehörigen für ein Gespräch mit unserer Redaktion nicht imstande. Kurz vor ihrem Rückflug nach Hongkong willigten drei der Asiaten schließlich doch ein. Im Speisesaal eines Würzburger Hotels sprechen die 27-Jährige, ihr Verlobter und seine 26-jährige Schwester erstmals über die vergangenen Monate hier in Würzburg, die schlimmen Erinnerungen an die Nacht des 18. Juli und die vielen hilfsbereiten Menschen in Mainfranken.

Der 31-Jährige lag wochenlang im künstlichen Koma. Ob und wie er das Attentat überleben würde, wusste niemand. Lange kämpften die Ärzte des Universitätsklinikums Würzburg um sein Leben. „Ich habe das Foto gesehen, auf dem ich noch auf der Intensivstation lag“, sagt der 31-Jährige jetzt. Sein Tonfall ist leise. Belegt. Die Stimme wackelt. Er ringt sich ein Lächeln ab. „Es war ziemlich gruselig, weil ich nicht erkannt habe, dass die Person, die da auf dem Bett lag, ich selbst war.“
 

„Ein weiter Weg zurück zu meinem normalen Leben“

Der schlanke Asiate mit den Turnschuhen sieht viel jünger aus als 31. Sein grüner Kapuzenpulli wirkt etwas zu weit. Auch die schwarz umrandete Brille etwas zu groß. Schmal ist er und blass. Physisch habe er keine Probleme mehr, erklärt er. Langsam ringt er nach Worten. „Ich kann ihm mit ein paar Sätzen aushelfen“, sagt seine Schwester und legt beschützend den Arm um ihn. Neben ihm wirkt die 26-Jährige mit dem schwarzen Pferdeschwanz sehr lebhaft. „Mein Bruder lag wochenlang im Koma. Körperlich geht es ihm wieder gut. Er kann ganz normal laufen, essen, und so weiter. Aber seine Gehirnfunktionen sind noch nicht völlig wiederhergestellt.“ Reaktion und vor allem Konzentration fielen ihm schwer. „Es liegt noch ein langer Weg vor mir“, sagt der 31-Jährige. Er stockt, macht eine Pause. „Ein weiter Weg zurück zu meinem normalen Leben“. In seinem normalen Leben war er der Hauptverdiener der Familie. Ein Ingenieur. Seine Firma will auf ihn warten, hat man ihm gesagt. Wie lange, ist ungewiss.

In Hongkong werden weitere medizinische Behandlungen folgen. Solange will die Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft den zwei Familien finanziell unter die Arme greifen.

Fotoserie

„Ich möchte meine Dankbarkeit ausdrücken bei all den vielen Menschen (...), die für uns gebetet haben“

„Ich möchte meine Dankbarkeit ausdrücken bei all den vielen Menschen hier aus dem Raum Würzburg, die für uns gebetet haben, in der Kirche oder zuhause, bei allen, die uns auf diesem schweren Weg seit dem Vorfall im Zug geholfen haben, bei allen, die uns unterstützt haben, sei es auch nur mit einer Umarmung“, sagt die 27-jährige Verlobte des Mannes. Ihre Stimme ist hell, klar, fest. Ihr Händedruck entschlossen. „Ich möchte mich bedanken bei allen, die etwas Nettes zu mir gesagt haben, um es mir leichter zu machen“, fährt sie fort. Unter einer dunklen Wollmütze glänzen lange schwarze Haare. Die Mütze nimmt sie in der Öffentlichkeit nicht ab. Auch dann nicht, wenn es warm ist. Sie war bei dem Attentat ebenfalls schwer verletzt worden.

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Eine Europareise hatte ihre Familie hierher verschlagen. Sie selbst, ihr Verlobter, ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder kamen gerade von einer Hochzeitsfeier aus England, als es passierte. Auf der Rückreise war ein Stopp in Franken geplant. In einem Regionalzug bei Würzburg ging ein 17-jähriger Afghane und IS-Terrorist mit einem Messer und einer Axt auf die Familie los. Auf seiner Flucht verletzte er eine Spaziergängerin in Heidingsfeld, bevor er von Polizisten erschossen wurde.

„Was passiert ist, ist passiert. Wir können den Vorfall nicht auslöschen.“

Die Erinnerung an dieses Erlebnis werde niemals leichter, sagt die 27-Jährige. Sie fordere immer noch sehr viel Kraft, beeinflusse ihr ganzes Leben. Aber sie sei froh, dass sie hier in Würzburg professionelle Hilfe erhalten habe und hoffe, in Hongkong daran anzuknüpfen. Schritt für Schritt wolle sie in ihr normales Leben zurückfinden. „Es ist schwer, sich emotional zu erholen“, fügt die Schwester ihres Verlobten hinzu. „Denn was passiert ist, ist passiert. Wir können den Vorfall nicht auslöschen. Doch wir können versuchen, optimistischer zu werden und mehr Stärke zu erlangen.“

Die 27-Jährige nickt ihrer Schwägerin zu. Ihr Vater (62) leidet noch immer an den Folgen seiner Verletzungen. Ihrer Mutter geht es relativ gut. Der 17-jährige Bruder, der den Angriff im Zug ebenfalls mit ansehen musste, ist in psychischer Behandlung. Alle drei Familienmitglieder befinden sich bereits wieder in Hongkong.

Ob die 27-Jährige jemals nach Deutschland oder gar nach Würzburg zurückkommen wolle? „Um ehrlich zu sein, am Anfang hätte ich nein gesagt. Im Zug sind alle bloß weggerannt und haben uns allein gelassen“, beschreibt die Asiatin ihre anfänglichen Eindrücke. Doch in den vergangenen Monaten hätten die Menschen hier ihre Gefühle verändert. „Die meisten sind sehr mitfühlend und wirklich nett. Sie machen es mir jeden Tag etwas leichter, hier zu sein.“

Mit Schrecken erinnert sie sich noch an den Tag, als sie im Krankenhaus aufwachte. „Ich wusste nicht, wo ich bin. Ich wusste nicht, wie es meiner Familie und meinem Freund geht.“ Fast wahnsinnig vor Angst sei sie gewesen. Doch die Ärzte und Schwestern hätten sie beruhigt. Sie hätten mit ihr geredet, immer wieder telefoniert, um sich zu vergewissern, wie es ihrer Familie geht. Sie hätten sie von ihren Verletzungen abgelenkt.

Die Ärzte im Würzburger Universitätsklinikum seien sehr professionell und nett, das Pflegepersonal hilfsbereit und mitfühlend. Gerade in den ersten Nächten sei ihr die Krankenhausatmosphäre bedrohlich erschienen. Doch die Schwestern kamen regelmäßig zu ihr, um sie zu beruhigen. „Ich denke, ohne die Hilfe der Ärzte und Psychologen hätte ich mich nicht so schnell erholt“, sagt die 27-Jährige. Selbst andere Patienten hätten ihre Hilfe angeboten, sei es auch nur, um die Speisekarte in der Cafeteria zu übersetzen.

Ihr Verlobter hat Ähnliches erlebt: „Sie haben mir sehr geholfen. Sie haben mich nicht wie einen Patienten, sondern vielmehr wie einen Freund behandelt. Sie haben sich richtig um mich gekümmert.“ Auch er würde noch einmal nach Deutschland kommen. „Es gibt so viele Orte, an denen ich noch nicht war.“

„Die Menschen waren sehr aufgebracht, da Würzburg eine sichere kleine Stadt ist“

Viele Menschen hätten ihnen geholfen: Angehörige der Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft, Offizielle der Stadt Würzburg, der Polizei, der Universität, Ärzte und Schwestern. Als die Leute in den Nachrichten von den schlimmen Ereignissen erfuhren, hätten sie sie wie Freunde oder Familienmitglieder behandelt, sagt die 26-jährige Schwester. „Die Menschen waren sehr aufgebracht, da Würzburg eine sichere kleine Stadt ist und niemand damit rechnen konnte, dass hier so etwas passiert.“

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Als sie mit ihrer Mutter am Bett ihres Bruders saß, habe sich das Klinikpersonal auch um sie gekümmert. Die Menschen hätten ihnen geholfen, nicht in jeder Sekunde an das Schicksal des Bruders zu denken, um nicht in Depression oder Wut zu verfallen. Vielmehr haben sie sie auf andere Gedanken gebracht. Das habe ihnen gutgetan. Und als es dem Bruder wieder besser ging, war die Familie dankbar und glücklich.

 

Sogar einige Sehenwürdigkeiten haben sich die Asiaten in Würzburg angeschaut. Die 27-Jährige, die in Hongkong in der Kulturbranche arbeitet, fand die Würzburger Festung, die Residenz und das Dommuseum besonders interessant. Ihrem Verlobten, der an die Hochhäuser Hongkongs gewöhnt ist, werden vor allem die Kirchendichte in Würzburgs Innenstadt, die alten Gebäude und die vielen Bäume in Erinnerung bleiben.

Seine Schwester fügt hinzu, sie hätten hier in Deutschland wirklich großes Unglück erlebt. Doch gerade in den Monaten nach dem Attentat hätten die Menschen hier in Franken ihr Bestes gegeben, um ihre Familie gut zu behandeln. „Das ist es, was wir zu schätzen wissen.“

 
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  • rid.cully
    gibt es für die Leute eigentlich auch eine staatliche (steuerfinanzierte) Entschädigung? Oder haben sie die falsche Religion?
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  • R.Silber
    sorgte sich am Morgen danach nicht um die Opfer. Ihr war es wichtiger zu hinterfragen, ob man den Täter erschießen musste. Eine Ohrfeige für die Opfer dieses feigen Anschlags. Ich wünsche den Opfern, welche als Gäste zu uns kamen, dass sie das Erlebte irgendwann verarbeiten können.
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  • June
    Wurde bei uns schon die Blutrache eingeführt, ohne das ich es gemerkt hätte? Inwiefern hat die Tötung des Täters den Opfern geholfen?
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  • R.Silber
    Sie sind mir nicht ganz unbekannt, daher erspare ich mir die Beantwortung Ihres Kommentares, dies wäre vergeblich. Die Blutrache gibt es in Deutschland schon seit vielen Jahren, auch genannt Ehrenmorde, ein Klientel, für dessen andere Kulturbegriffe Sie sich ja außerordentlich stark machen. Alleine in den vergangenen 10 Jahren gab es 108 Ehrenmorde in Deutschland, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Also sehr geehrter "June", auch wenn Sie es nicht gemerkt haben, es gibt die Blutrache. Und was den Täter angeht kann ich nur sagen, dass die Beamten des SEK einen guten Job gemacht haben.
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  • jebusara@web.de
    Zumindest hat sie uns geholfen - der greift niemanden mehr an....
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  • pelo
    Ich wünsche diesen leidgeprüften Opfern,dass es ihnen gelingen wird, diesen Alptraum so verarbeiten zu können, dass für sie ein einigermassen normales Leben zukünftig wieder möglich sein wird.
    Alles Gute.
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