"Wir sind die letzten Mohikaner," sagt ein Anwalt, als er das Gerichtsgebäude betritt. Die Tafel in der Aula, die auf laufende Verfahren hinweist, ist fast leer. Aber im Sitzungssaal 017 geht der Logopäden-Prozess mit rund 20 Beteiligten in seinen vierten Verhandlungstag - trotz Corona.
Reihen schwer gelichtet, Prozessbeteiligte halten Abstand
In den Schwurgerichtssaal eilen Menschen in schwarzer Robe. Sie versuchen, sich auf dem Weg zu ihren Plätzen nicht zu nahe zu kommen, was hier und da zu grotesken Tanzschritten führt. "Vielen Dank, dass Sie da sind," sagt Richter Michael Schaller. Eine Schöffin weigert sich zu kommen, weil sie zur Corona-Risikogruppe gehört, verkündet der Vorsitzende, der einen Ersatzschöffen nachnominiert. Aber er betont auch seine Entschlossenheit, das Verfahren zu Ende zu bringen.
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Der Angeklagte hält sich einen Aktenordner zum Schutz vor Fotografen vors Gesicht – und lässt ihn sinken, als er sieht: Der Zuhörerraum, in dem sich zu Prozessbeginn noch Menschen drängelten, ist nahezu leer. Die Verteidiger sitzen anderthalb Meter von ihrem Mandanten entfernt. Dahinter halten auch die fünf Nebenklage-Anwälte, die sonst tuschelnd die Köpfe zusammenstecken, jetzt Sicherheitsabstand voneinander. Im Zuhörerraum stehen nur noch ein Dutzend Stühle - weit auseinandergerückt.
Angst vor Corona bei Prozessbeteiligten
"Ich bin mit großem Unbehagen gekommen," bekennt Hanjo Schrepfer, Anwalt eines der kindlichen Opfer. Mammutsitzungen seien wegen der Ansteckungsgefahr "nicht verantwortbar". Doch dem Prozess im Zweifelsfall fernzubleiben, sei "nicht im Sinne meines Mandanten".
Schaller beruhigt, man werde nur bis zum Mittag verhandeln. Drei Wochen könnte das Gericht pausieren, ohne von vorne anfangen zu müssen, aber niemand rechnet damit, dass die Coronakrise so schnell vorbei sein wird. Vielleicht sind bald auch drei Monate Pause drin - aber noch hat der Bundestag ein entsprechendes Gesetz nicht beschlossen.
Als die Mutter eines der sieben missbrauchten Buben in den Zeugenstand muss, wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Gerichtssprecher Rainer Volkert berichtet später: Sie "rang sichtlich um Fassung" und war zeitweise "gehindert weiterzusprechen". Nach einer fünfminütigen Pause schilderte sie, dass sie Sorge habe, die Tat des Angeklagten könne die Entwicklung ihres Kindes beeinträchtigen. "Es vergeht fast kein Tag, an dem ich nicht daran denken muss, was meinem Sohn passiert ist."
Als das Gericht dann mehrere vom Angeklagten gefertigte kinderpornographische Videos abspielt, die den Missbrauch ihres Kindes zeigen, flieht die Mutter aus dem Gerichtssaal. Anwalt Christian Mulzer, der die Eltern eines Opfers vertritt, sagte hinterher: Die Aussagen aller Eltern zeigten den Umfang, in dem der angeklagte Therapeut "die Kinder und deren Familien geschädigt hat." Mulzer ringt um Fassung: "Der angeklagte Therapeut ist – abgesehen von sexuell motivierten Tötungsdelikten – einer der schlimmsten Sexualverbrecher in der bundesdeutschen Justizgeschichte."
In öffentlicher Sitzung attackieren die Nebenklage-Anwälte Mulzer und Schrepfer dann Verteidiger Alexander Hübner. Der hatte außerhalb des Prozesses mit dem psychiatrischen Gutachter Norbert Nedopil geplaudert - nur harmlos, wie beide versichern.
Ein Autogramm sorgt für Aufregung
"Befremdlich" finden einige Anwälte, dass Hübner ein Buch des Gutachters mit dem Titel "Jeder Mensch hat seinen Abgrund" gekauft und dem Psychiater im Gericht für eine Widmung hingeschoben hat. Im Honecker-Prozess hatte 1991 ein ähnlicher Vorgang fast für den Abbruch des Prozesses wegen Besorgnis der Befangenheit gesorgt.
Der Vorsitzende Schaller hat alle Mühe, die Gemüter zu beruhigen, Widmung und Gespräch erweisen sich als harmlos. Der Prozess soll nun zügig vorangetrieben werden, vielleicht schon am 7. April mit den Plädoyers – wenn die Coronakrise das zulässt.
warum braucht man mehrere Verhandlungen, wenn dieser Mensch gestanden hat?
Ist doch eigentlich verlorene Zeit und vorallem: die Opfer müssen sich noch länger quälen als nötig, wenn man den Mann nicht gleich wegsperrt.