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WÜRZBURG
„Missbrauch ist nicht wieder gut zu machen“
Der Würzburger Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller.
Foto: Theresa Müller | Der Würzburger Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 07.04.2020 12:00 Uhr

Deutliche Worte findet der Würzburger Theologe Wunibald Müller zu den am Mittwoch vorab bekannt gewordenen Ergebnissen der Missbrauchsstudie, die 2014 von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben wurde. Als unfassbar und kriminell bezeichnet er, dass bewusst Akten vernichtet worden sind. Der Psychotherapeut, der bis 2016 Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach (Lkr. Kitzingen) war, fordert „eine echte Entschuldigung“ der Bischöfe. Er weiß jedoch, dass das alleine nicht hilft. Das Furchtbare sei nicht wieder gut zu machen.

Frage: Herr Müller, Sie haben 25 Jahre lang als Psychotherapeut im Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach Geistliche und kirchliche Mitarbeiter betreut, kennen ihre Sorgen und Nöte. Was sagen Sie zum Ausmaß sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche?

Wunibald Müller: Die Anzahl der Opfer und Täter ist erschreckend. Sie bestätigt, dass Opfer zur Verschwiegenheit aufgefordert und Täter einfach in eine andere Pfarrei versetzt wurden. Die Studie belegt die systematische Vertuschung der katholischen Kirche – die sie nun nicht mehr abstreiten kann.

Es sollen sogar Daten und Akten in mindestens zwei Bistümern bewusst gelöscht beziehungsweise vernichtet worden sein.

Müller: Das ist unfassbar und kriminell.

Noch ist nicht alles bekannt. Das Gesamtergebnis wird erst am 25. September bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda vorgestellt.

Müller: Gespannt bin ich, zu welchen Ergebnissen die Studie bei der Fragestellung kommt, inwieweit institutionelle Gegebenheiten den Missbrauch erleichtert oder gefördert haben. Dazu zählt zum Beispiel das hierarchische System der Kirche. Zugleich habe ich meine Zweifel, ob das Forscherteam die entsprechende Kompetenz hat, diese Gegebenheiten wirklich zu durchschauen. Hier müssen auch theologische Vorstellungen mitgedacht werden, die zum Beispiel hinter einem klerikalen Verhalten beziehungsweise überhaupt dem Klerikalismus stehen.

Welche Rolle spielt Klerikalismus beim Thema Missbrauch?

Müller: Eine sehr wichtige, das ist für mich klar.

Steckt hinter Missbrauch also vor allem ein Machtverhalten?

Müller: Ja. Man spricht heute deshalb auch eher von sexualisierter Gewalt. Der Täter missbraucht seine Vorrangstellung, seine Macht, seinen Einfluss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen und Kontrolle über andere auszuüben.

Was sind weitere Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch?

Müller: Das Zölibat, also die Ehelosigkeit der katholischen Geistlichen, zählt für mich dazu. Aber es ist sicher nicht ein Grund für sexuellen Missbrauch. Wenn ein Priester allerdings das Zölibat so versteht, dass die Sexualität damit in seinem Leben keine Rolle mehr spielt und er dieses Thema in seinem Leben dementsprechend vernachlässigt, also nicht anschaut und es keine wirkliche Auseinandersetzung mit ihr gibt, dann kann sie ein Risikofaktor für Missbrauch sein. Die Sexualität lässt sich natürlich nicht verdrängen, ansonsten setzt sie sich in all ihrer Unreife in Szene.

Sexueller Missbrauch ist also auch ein Ergebnis von Unreife?

Müller: Eindeutig, zumindest auch. Die Sexualität ist dann oft auf Stufe eines Jugendlichen stehen geblieben. Sie können sie nicht kontrollieren. Außerdem geht ihnen die Empathie ab, die sie davon abhalten könnte, anderen sexuelle Gewalt an zutun.

Die Autoren der Studie regen an, die grundsätzliche Ablehnung der Kirche zur Weihung homosexueller Männer dringend zu überdenken. Oft wird Homosexualität in der katholischen Kirche mit Missbrauch in Verbindung gebracht.

Müller: Grundsätzlich, und das ist meine Überzeugung, gibt es keinen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Missbrauch – mit einer Ausnahme: Die Tabuisierung der Homosexualität in der Kirche kann dazu führen, dass unter den relativ vielen homosexuellen Priestern – ich denke zwischen 20 und 30 Prozent – sich die meisten nicht damit auseinandersetzen, also klar dazu stehen, dass sie schwul sind. Diese Gruppe von homosexuellen Priestern könnte in besonderer Weise dazu neigen, Jugendliche sexuell zu missbrauchen. Das würde auch erklären, dass es sich laut der Studie bei der Mehrheit der Opfer um männliche Kinder und Jugendliche handelt.

Also brauchen alle Priesteramtskandidaten, ob hetero- oder homosexuell, auch Aufklärungsunterricht?

Müller: Sie müssen sich auf alle Fälle mit ihrer Sexualität auseinandersetzen. Vielleicht sogar noch mehr als Personen, die ihre Sexualität ausleben können. Nur dadurch kommen sie in die Lage, über ihre Sexualität und deren Gestaltung verfügen zu können. Und nicht von ihrer Sexualität beherrscht zu werden.

Homosexuelle Männer sind von der Weihe ausgeschlossen.

Müller: Wenn es die katholische Kirche ernst meint mit der Prävention, dann dürfen schwule Männer, die sich mit ihrer Sexualität auseinandergesetzt haben, natürlich zu Priestern geweiht werden. Alles andere ist kontraproduktiv. Deshalb muss aus meiner Sicht jene Passage in dem vatikanischen Dokument „Das Geschenk der Berufung zum Priestertum“ gestrichen werden, in der die Zulassung von homosexuellen Männern zum Priestertum untersagt wird. Denn dies löst nicht das Problem des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche.

Die vorab bekannt gewordenen Ergebnisse sind erschreckend, sagen Sie. Was erwarten Sie von der katholischen Kirche, wenn die Gesamtstudie vorliegt?

Müller: Sie muss Konsequenzen ziehen und sich grundlegende Fragen stellen wie: Fühlt sie sich auf dem richtigen Weg, zum Beispiel mit den Richtlinien und der Präventionsordnung? Werden strukturelle Veränderungen überlegt? Wenn ja: Wie werden diese angegangen? Es muss eine offene Auseinandersetzung darüber geben, ob sexualisierte Gewalt durch das Zölibat, die negative Einstellung zur Homosexualität und den Klerikalismus gefördert wird.

2010 nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Canisius-Kolleg in Berlin gab es viele Beteuerungen von Seiten der Kirche, generell dagegen vorzugehen. Nach und nach wurden aber zum Beispiel die von den Bischöfen aufgestellten Leitlinien wieder verändert und externe Ansprechpartner für Betroffene in ihren Befugnissen wieder eingeschränkt. Glauben Sie, dass sich nach dieser Studie nun grundlegend etwas ändern wird?

Müller: Ich glaube, dass es nun erneut wichtig sein wird, dass sich die Bischöfe, die sich bislang nicht um die Opfer gekümmert und Täter einfach versetzt haben, sich ausdrücklich bei den Opfern für ihr Verhalten entschuldigen. Es geht dabei allerdings nicht nur um eine Entschuldigung für die sexuelle Gewalt, die Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen durch kirchliche Mitarbeiter angetan wurde. Es geht um die Entschuldigung für den Machtmissbrauch, der durch die Bischöfe, die sexuellen Missbrauch im Kontext der Kirche vertuscht haben, ausgeübt wurde. Denn sie haben möglicherweise mit ihrem Verhalten dazu beigetragen, dass die Täter weiterhin Kindern, Jugendlichen, erwachsenen Schutzbefohlenen großes Leid zufügen. Auch geht es um Reue – bei den Bischöfen wie bei den Tätern. Aber ich frage mich, ob die Bischöfe schon so weit und bereit sind, Konsequenzen zu ziehen.

Erika Kerstner von der ökumenischen Arbeits- und Selbsthilfegruppe „GottesSuche“ meinte in einem Gespräch mit dieser Redaktion, dass Opfer Entschuldigungen nicht mehr glauben können. Sie hätten schon zu viele gehört und zu wenig wirkliche Veränderung im Verhalten der Kirchenverantwortlichen erfahren.

Müller: Ich kann sie verstehen. Eine echte Entschuldigung muss mit einer Wiedergutmachung einhergehen. Was aber im Kontext von Kirche an Furchtbarem im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch geschehen ist, ist nicht wieder gut zu machen. Was unter anderem notwendig ist, ist die Bitte um Vergebung, die Bitte der Kirche und der Bischöfe an die Adresse der Opfer für das, was sie Ihnen an Leid zugefügt haben. Und dann alles menschlich Mögliche zu tun, was an finanzieller, menschlicher, psychologischer und sonstigen spiritueller Unterstützung zur Verbesserung der Situation der Opfer beiträgt.

 
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