Diese Frage stellt sich, wie es scheint, momentan auch Norbert Becker. Er wurde, wie das Bischöfliche Ordinariat in Würzburg kürzlich mitteilte, auf seinen eigenen Wunsch hin von Bischof Friedhelm Hofmann für ein halbes Jahr von seinen priesterlichen Aufgaben in der Pfarreiengemeinschaft „Christus Immanuel“ (Lkr. Aschaffenburg) entbunden.
„Vor sechs Jahren habe ich aus eigenem Entschluss mein ,Ja' zur ehelosen Lebensform gesagt. Vielleicht habe ich damals noch nicht die ganze Tragweite dieses Versprechens erfasst. Nun ist es meine Aufgabe zu prüfen, wie es für mich weitergehen kann“, ließ Becker im Januar im Gottesdienst in Krombach verlesen. Viele Überlegungen, Gespräche und Gebete hätten ihn zu der Erkenntnis geführt, dass er nicht mehr wie bisher „Ja“ zu dieser Lebensform sagen könne. Das Wort „Zölibat“ nennt er in seiner Erklärung nicht.
Dieses Hinterfragen von Lebensentwürfen kennt Wunibald Müller. Er hat sich in seinem jüngsten Buch intensiv damit auseinandergesetzt und ihm den Titel „Für immer – geht das?“ gegeben (erschienen im Vier-Türme-Verlag, 155 Seiten, 17,99 Euro). „Dieses Buch ist ein Resümee meiner langen Arbeit als Psychotherapeut.“
Seit 25 Jahren leitet Müller mit Pater Anselm Grün das Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach. Er ist auch Theologe, unterstützt Seelsorger, ebenso kirchliche Mitarbeiter in Krisensituationen. Auslöser können Überforderung sein, depressive Episoden oder tiefe Zweifel, ob eine einst getroffene Entscheidung, ein Versprechen ein ganzes Leben lang halten kann. Wunibald Müller hat schon viele Seelennöte erlebt – bei Ehepartnern wie bei Priestern. Häufig spielt die Liebe eine Rolle, eine verloren gegangene wie eine neu gefundene. Und er habe in seiner Therapeutentätigkeit schon etliche Priester begleitet, deren Weltbild ins Wanken geraten ist, weil sie sich verliebt hätten.
„Dann entdecken sie, dass sie diese Seite in ihrem Leben zu wenig beachtet und dass sie den ganzen Bereich der Erotik, ihre Sexualität nicht angemessen angeschaut haben.“
Seine Aufgabe als Therapeut sei es aber nicht zu sagen: „Du musst dieses oder jenes machen.“ Vielmehr ginge es darum, dem Priester zu helfen herauszufinden: Was ist denn wirklich deines? Habe ich mich, obwohl es mir bisher Freude bereitet hat, für etwas Falsches entschieden? Oder doch für das Richtige? Wo kommt das zum Ausdruck, was deine Einzigartigkeit ausmacht?
„Wenn man am Ende des Lebens zurückschaut, sollte man sagen können, ich habe das gelebt, was im Tiefsten meines ist“, beschreibt Müller das große Ziel. Doch um das erreichen zu können, müsse die Entscheidung, die aufgrund einer Lebenskrise ansteht, auf einer guten Basis stehen. „Krisen sind dann manchmal wie Stoppzeichen, die uns zwingen, die Richtung zu ändern.“ Vieles sei schon lange unterschwellig da, breche dann mit aller Wucht aus. Müller geht das Problem nicht nur therapeutisch, sondern auch spirituell an. „Was ist das Passwort, das uns Gott mitgegeben hat?“, fragt er. „Auch Träume muss man miteinbeziehen.“
Der Leiter des Recollectio-Hauses, das von neun Diözesen finanziell unterstützt wird, hilft nicht nur anderen Menschen beim Analysieren ihrer Lebenssituation. Er hinterfragt selbst Themen, die zum „heißen Eisen“ in der katholischen Kirche zählen – den Zölibat und die Homosexualität, die als „objektiv ungeordnete“ Veranlagung angesehen wird oder sogar als Sünde.
„Ich finde, den Zölibat soll es geben.“ Müller kenne viele katholische Geistliche, die das „in überzeugender Weise leben“. Sie hätten Charisma, eine besondere Ausstrahlung. Andererseits führe diese Verpflichtung zur Ehelosigkeit und sexuellen Enthaltsamkeit immer wieder zu inneren Konflikten. „Das Priestersein ist ihnen wichtig, aber sie möchten keineswegs auf eine Partnerschaft verzichten.
“ Wunibald Müller wünscht sich deshalb, dass die Amtskirche eine Wahlmöglichkeit zulässt: Wer zölibatär leben möchte, tut dies. Wer nicht, der kann in einer Partnerschaft leben – und ein guter Priester sein. Diesbezüglich gibt es für ihn keinen Widerspruch.
Er hat auch für „die Rigidität“ im Umgang mit Homosexuellen wenig Verständnis. „Warum trauen wir dem lieben Gott nicht zu, dass er viel fantasievoller ist, dass er viel mehr Buntheit des Lebens wünscht?“ Wer sei denn verantwortlich dafür, wenn jemand homosexuell ist? „Kann das nicht auch Gott sein, ein Ausdruck seiner Vielfalt?“ Und: „Die Amtskirche kann doch nicht die wenigen Bemerkungen, die in der Bibel dazu stehen, auf das übertragen, was wir heute unter Homosexualität verstehen.“
Für immer – geht das also? Diese Frage hat zum Beispiel kurz vor Beginn der Familiensynode Anfang Oktober vergangenen Jahres in Rom der polnische Priester Krzysztof Charamsa für sich beantwortet. Der Mitarbeiter der Kongregation für die Glaubenslehre im Vatikan hat sich als homosexuell geoutet und für seinen Partner entschieden. Kurz darauf wurde er suspendiert.
„Warum müssen homosexuelle Priester sich so sehr verstecken“, fragt sich Müller, der 1984 mit dem Thema „Homosexualität - Eine Herausforderung für Theologie und Seelsorge“ promoviert hat. „Es ist bekannt, dass mindestens 20 Prozent der Priester homosexuell sind. Man spricht nicht darüber. Man tabuisiert es und merkt gar nicht, wie lieblos man sich gegenüber den eigenen Priestern verhält.“ Dabei seien viele wunderbare Seelsorger. Die Amtskirche müsste sich seiner Meinung nach fragen, ob sie ihre Lehre unter ein ewig geltendes „Für immer“ stellt oder bereit ist, den konkreten homosexuellen Menschen zu sehen, ganz im Sinne von Papst Franziskus, der sagt: „Wer bin ich ihn verurteilen zu wollen?“
Aber noch würde die Kirche vor dem Thema Sexualität die Augen verschließen. Wunibald Müllers Wunsch: „Wider aller Hoffnung hoffe ich, dass sich die starren Haltungen lockern und sich die Kirche mehr in die Lebenswirklichkeit der Menschen begibt. Nur so wird ihre Lehre nicht noch mehr zur Makulatur.“ Foto: Hildenbrand, dpa