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WÜRZBURG
"Kirchliche Opfer können Entschuldigungen nicht mehr glauben"
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Foto: Erika Kerstner
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 27.04.2023 01:38 Uhr

Erika Kerstner beschäftigt sich mit dem Thema „Glaube nach Gewalterfahrungen“. Die ehemalige Lehrerin für katholische Religion gründete vor 16 Jahren in der Region Karlsruhe die Initiative „GottesSuche“, die sich als ökumenische Arbeits- und Selbsthilfegruppe versteht. Sie unterstützt vor allem weibliche Missbrauchsopfer, weil sie beobachtet hat, dass Frauen anders als Männer mit ihrer Missbrauchserfahrung umgehen.

Zudem ist sie der Meinung, dass männliche Opfer männliche Seelsorger brauchen. Erika Kerstner informiert auf ihrer Webseite (www.gottes-suche.de), ist Buchautorin (siehe Literaturtipp am Ende des Textes) – und schreibt ab und an auch Briefe, wie jüngst an den Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann.

Frage: 2010 wurde das Ausmaß der Missbrauchsfälle im Canisius-Kolleg in Berlin bekannt. Seither wurden Leitlinien überarbeitet, externe Missbrauchsbeauftragte ernannt, Präventionsangebote geschaffen. Wie steht es mittlerweile um den Aufklärungswillen der Kirche bei Missbrauchsvorwürfen gegen Kleriker?

Erika Kerstner: Es gibt Kirchenverantwortliche, die verstanden haben, was Menschengewalt anrichten kann und dass die erlittene Gewalt meist lebenslängliche Folgen hat. Sie hören den Opfern zu, nehmen sie ernst, klären auf, so gut das möglich ist, veröffentlichen ihre Aufklärungsergebnisse und haben ein offenes Ohr und Herz für die Opfer. Diese Kirchenverantwortlichen beschuldigen die Opfer nicht und grenzen sie nicht aus. Und es gibt Bistümer, in denen das anders ist. Dort werden die Opfer ausgegrenzt oder gar als Feinde der Kirche betrachtet.

Gerade hat Kardinal Karl Lehmann, der Bischof von Mainz, in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger gesagt, dass ihn die Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester zwar erschüttern würden, er aber manchmal den Eindruck habe, es gehe den Opfern heute nicht zuletzt um die Entschädigung.

Kerstner: Das ist eine typische Diskriminierung von Missbrauchsopfern. Immer wieder wird sie als Geldgier formuliert. Oder wenn Opfer Gerechtigkeit und die Anerkennung der Wahrheit wünschen, werden sie immer noch als rachsüchtig dargestellt.

Immer wieder – auch in Kommentaren unserer Leser – wird Opfern vorgeworfen, dass es ja nicht so schlimm sein könne, weil sie so lange geschwiegen hätten.

Kerstner: Das geschieht aus Unkenntnis heraus. Diese Leute wissen nichts über die Scham des Opfers, das lange schweigt oder das Erlittene in einer Amnesie abspalten musste. Nicht selten wird zudem behauptet, dass heutige Opfer künftige Täter sind. Innerkirchlich kommt hinzu, dass ihnen die Beschädigung des Rufs der Kirche angelastet wird. Immer wieder fällt mir auf, wie oft über die Opfer gesprochen wird – und wie wenig mit ihnen.

Thomas Keßler, Generalvikar der Diözese Würzburg, hat sich aktuell in einer Pfarrgemeinde bei den Gläubigen entschuldigt– für den Ruhestandspriester, dem Missbrauch vorgeworfen wird, für die Diözese, deren Umgang mit dem Fall „nicht gerade supertoll“ gewesen sei. Diözesanrichter Klaus Schmalzl sagte dort, dass die Kirche grundsätzlich Missbrauch mit aller Entschiedenheit verfolgen und nach ihren Möglichkeiten aufklären werde. Klingt das nicht positiv?

Kerstner: Ja, das klingt zunächst positiv. Aber viele kirchliche Opfer können den Entschuldigungen nicht mehr glauben. Sie haben schon zu viele gehört und zu wenig wirkliche Veränderung im Verhalten der Kirchenverantwortlichen erfahren. Auch Menschen, die in nicht-kirchlichen Kontexten Opfer wurden, schauen aufmerksam auf das Verhalten der Kirche. Ich weiß um nicht wenige Opfer, die sich inzwischen verletzt und hoffnungslos abgewandt haben.

Diese Abkehr von der Kirche und dann oft auch vom Evangelium geschieht in verzweifelter Stille, sie macht keinen Skandal und keine Schlagzeile – verheerend für die Kirche und für das Evangelium und trostlos für die Betroffenen ist sie dennoch.

Welche Fähigkeiten sollten Seelsorger im Umgang mit Missbrauchsopfern haben?

Kerstner: Es ist wichtig, dass Seelsorger Opfern eine Stimme geben und die Anliegen von Missbrauchsopfern in die Gesellschaft und in die Kirche hinein vermitteln. Sie müssen zuhören können und an der Seite des Opfers stehen. Sie dürfen das Opfer nicht bevormunden und es nicht auf die Opferrolle reduzieren. Missbrauchsopfer sind ja nicht nur Opfer, sie stehen ja mitten im Leben, bewältigen berufliche und familiäre Anforderungen.

Wo stößt Seelsorge an ihre Grenzen?

Kerstner: Dazu gehört zum Beispiel die Frage nach dem Warum des Leides. Diese stellen Missbrauchsopfer immer wieder. Seelsorger müssen das aushalten, auch, dass es keine Antwort auf diese Frage gibt – und die Frage dennoch gestellt werden muss. Und schließlich müssen SeelsorgerInnen damit rechnen, dass sie selbst ein Stück weit miterleben, was Opfer als „Ausgrenzung“ und „Nicht-Zugehörigkeit“ erleiden. Wer sich mit Opfern solidarisiert, erlebt nicht selten, dass andere Menschen auf Distanz gehen. Mit Opfern hat niemand so gerne zu tun. Sie erinnern ja andere Menschen daran, dass die Gewalt sie selbst hätte treffen können. Die Zerbrechlichkeit des Lebens und seine Gefährdung lässt sich niemand gerne bewusst machen.

Kirchliche Missbrauchsopfer hadern oft mit ihrem Glauben.

Kerstner: Wer oft über lange Zeit erlebt hat, was ein Mensch einem Menschen – gar einem Kind oder Jugendlichen – antun kann, dessen Vertrauensfähigkeit ist zutiefst erschüttert. Diese Menschen mussten nicht nur die sexuelle Gewalt erfahren, sie mussten auch erleben, dass ihnen niemand geholfen hat, kein Gott und kein Mensch. Sie waren ganz alleine in einem Universum von Gewalt, Schmerz, Einsamkeit und Unberechenbarkeit. Diese Erfahrung prägt sich unwiderruflich ein.

Lässt sich Vertrauen wieder aufbauen?

Kerstner: Ein Opfer muss in der Regel sechs bis sieben Menschen ansprechen, bevor ihm jemand Glauben schenkt. Gewaltopfer haben also allen Grund zu Misstrauen. Vertrauen fällt ihnen schwer. Glaube jedoch hat zentral mit dem Vertrauen in einen guten Gott zu tun. Wenn diese Menschen erfahren, dass andere Menschen an ihrer Seite stehen, dann können sie neu oder erstmals lernen, dass Vertrauen auch ihnen möglich ist. Dann können sie auch wieder ein Gespür dafür bekommen, dass Gott es vielleicht doch gut mit den Menschen meint.

Dieses Gespür, dass es Gott vielleicht gut mit einem meint, genügt?

Kerstner: Nicht nur. In der Gewalt sind alle Beziehungen – zu sich, zu anderen Menschen, auch zu Gott – erschüttert worden. Die Opfer erleben, dass sie nirgends mehr dazugehören. Deswegen ist es wichtig, dass sie erleben dürfen, dass ihr Leben „der Rede wert“ ist, dass es Menschen gibt, die Anteil an ihrem Leben nehmen, die ihnen Glauben schenken, die nicht davonlaufen, die mit ehrlichem Interesse zuhören.

In der Religion spielt auch die Frage der Vergebung eine große Rolle.

Kerstner: Vergebung wird von Missbrauchsopfern oft sehr schnell eingefordert. Die Umkehr des Täters, seine Reue, sein Bekenntnis, seine Verantwortungsübernahme und seine Wiedergutmachung, werden dagegen selten thematisiert. Opfern, die nicht vergeben, wird mit chronischen Erkrankungen gedroht. Sie werden als unchristlich diffamiert, wenn sie nicht vergeben. Übersehen wird, wie schwer es ist, jemandem zu vergeben, der sich für unschuldig hält. Und das tun die meisten Täter.

Jesus hat seinen Mördern vergeben: Welche Bedeutung hat dieser Hinweis auf die Bibel für ein Opfer?

Kerstner: Jesus hat nicht selbst verziehen, er hat seinem Vater im Himmel die Vergebung anvertraut. Und das ist realistisch. Das können auch Missbrauchsopfer manchmal sagen: Die Schuld des Täters ist eine Sache zwischen Gott und dem Täter.

Betroffene suchen häufig die Schuld bei sich selbst.

Kerstner: Die Schuld gehört eigentlich zu den Tätern. Opfer müssen erst langsam lernen zu unterscheiden zwischen den in der Gewalt aufgedrückten Schuldgefühlen – und ihren realen Fehlern. Vergebung ist meist ein langer Prozess und manchmal kommt er bis ans Lebensende des Opfers nicht zum Ende. Auch das müssen Seelsorger aushalten.

Sie haben einen Brief an den Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann geschrieben und sich darin zum Fall Alexandra Wolf geäußert. Warum?

Kerstner: Anlass war für mich die Predigt des Bischofs zur Wiedereröffnung der Kilianskrypta. Darin sprach er von öffentlichen Kampagnen gegen die Kirche und von Missachtung der Unschuldsvermutung. Ich denke, die Kirche tut gut daran, nicht nur für den Beschuldigten die Unschuldsvermutung hochzuhalten, sondern auch dem Opfer oder dem mutmaßlichen Opfer mit der Vermutung zu begegnen, dass es die Wahrheit sagt.

Mir sind in meiner Arbeit mit Missbrauchsopfern so gut wie nie Menschen begegnet, die sich fälschlich als Missbrauchsopfer hinstellten. Das wird bestätigt durch die Äußerungen von Missbrauchsbeauftragten: Falschbeschuldigungen kommen vor, sind aber sehr selten. Mir scheint es – für die Opfer, aber auch für die Glaubwürdigkeit der Kirche – wichtig zu sein, dass die Kirche sich an der Seite derer positioniert, die „unter die Räuber gefallen“ sind.

Hat sich die Kompetenz für spirituelle Fragen und Verletzungen der Missbrauchsopfer erhöht?

Kerstner: Vor einem knappen Jahr erst hat Pater Zollner, Präsident des Kinderschutzzentrums der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, festgestellt, dass die Theologie noch gar nicht begonnen hat, sich den theologischen Fragen zu stellen, die durch das Leid von Missbrauchsopfern aufgeworfen werden. Immer noch scheint weithin unbekannt, was Missbrauchsopfer denken, fragen, fühlen und erleben.

Welche Fragen stellen sie?

Kerstner: Zum Beispiel: Taugt die biblische Botschaft für Menschen, die unter die Räuber gefallen sind? Steht Gott auf der Seite der Opfer oder hat er sich mit den Mächtigen verbündet? Und gibt es Menschen, die zusammen mit den Missbrauchsopfern diesen Fragen nachgehen? Und wie müssen sich kirchliche Sprache und Verkündigung verändern, damit der christliche Glaube auch den Missbrauchsopfern Heimat werden kann? Ich denke, dass das Leben und Leiden von Missbrauchsopfern tatsächlich ein Belastungstest für das Evangelium ist.

Das Evangelium ist voll mit Gewaltszenen. Ist das für Opfer nicht verstörend?

Kerstner: In der Bibel gibt es tatsächlich viele Texte, die von Gewalt erzählen. Deswegen lehnen nicht wenige Menschen, auch Christen, solche Texte ab. Sie übersehen dabei, dass die Bibel die Gewalttätigkeit von Menschen nicht erfindet, sondern sie aufdeckt. Viele der Gewalttexte muss man aus der Perspektive ohnmächtiger Opfer verstehen, denen niemand zu Hilfe kommt. Diese Menschen rufen Gott als Helfer gegen erlittenes Unrecht an und fordern Gerechtigkeit von Gott. Sie nehmen das Recht eben nicht in die eigene Hand, sie verweigern sich vielmehr der Rache, ohne auf den berechtigten Wunsch nach Gerechtigkeit zu verzichten.

Wer die Bibel aus der Perspektive von Opfern liest, wird spüren, wie wichtig es für biblische und heutige Menschen ist, von ihrem Leid erzählen zu dürfen. Da darf man sich nicht von einer oft martialischen Sprache abschrecken lassen. Wer entsetzlich leidet, hat keine Kraft für Höflichkeiten gegenüber den Gewalttätern.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kerstner: Im Psalm 137 betet ein Mensch im Blick auf die Babylonier, die Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht hatten: „Wohl dem, der dir heimzahlt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert!“ Der Beter richtet seine Bitte an Gott, er greift nicht selbst zur Gewalt, aber er beschreibt, was er selbst miterleben musste und was seinem Kind und ihm angetan wurde.

Erleben Frauen ihren Missbrauch anders, weil die Amtskirche eine hierarchisch aufgebaute Männerkirche ist?

Kerstner: Seit 2010 stehen – mit den Opfern des Canisius-Kollegs und der Odenwaldschule – Jungen im Vordergrund. Auch wenn es gut und wichtig ist, dass Männer sich als Opfer zu erkennen geben können, so beobachte ich doch, dass weibliche Opfer seither seltener wahrgenommen werden und sich auch seltener zu Wort melden. Deren Dunkelziffer dürfte nach wie vor sehr hoch sein. Innerkirchlich kommt hinzu, dass „die“ Kirche den Frauen im Alltag als eine männlich geprägte und mächtige Institution gegenübersteht, die sich um ihr Ansehen oft mehr sorgt als um die Opfer. Da fällt Frauen das Sprechen über einen hoch schambesetzten sexuellen Missbrauch besonders schwer. Und natürlich ist sexueller Missbrauch ausgerechnet durch Priester immer zugleich auch eine Verdunkelung oder gar Zerstörung des Gottesbildes bei den Opfern. Diesen Opfern steht also die spirituelle Ressource ihres Glaubens nicht mehr oder nur reduziert zur Verfügung.

Literaturtipp: Erika Kerstner, Barbara Haslbeck, Annette Buschmann: „Damit der Boden wieder trägt. Seelsorge nach sexuellem Missbrauch“ (240 Seiten, Schwabenverlag, 19,99 Euro). Barbara Haslbeck ist katholische Theologin und Referentin in Freising; Annette Buschmann ist Leiterin der Abteilung Lebensberatung der Diakonie in Chemnitz und als Supervisorin in der Evangelischen Kirche tätig.

 
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    Ich gehe ja mal davon aus, dass auch Bischof Hofmann diesen Artikel liest. Vielleicht kann ihm jemand das o. erwähnte Büchlein auch anempfehlen.
    Durch seine mehr als verunglückten Kommentare, nach dem Bekanntwerden der kürzlich erhobenen Missbrauchsvorwürfen, hat Hofmann bei vielen Gläubigen seine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Kirche täte gut daran ihn von seinem Amt zu entbinden.
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  • A. B.
    Ein Bischof hat ein Recht auf seine Meinung. Die Feststellung von Kardinal Lehmann, dass es manchem "Opfer" auch um Entschädigung geht ist durchaus ein Eindruck, den Lehmann in einer Reihe von Fällen gewonnen hat. Frau Kestner hat auch Erfahrungen, doch ihr Blick hat Schräglage. In einem Rechtsstaat muss nicht der vermeintliche "Täter" seine Unschuld beweisen, sondern der Ankläger muss seine Beschuldigung nachweisen können. Kestner verläßt hier den Boden rechtstaatlichen Vorgehens und darin möchte ich ihr ausdrücklich nicht folgen. Leider hat der Bischof mit seinem Blick auf die Medien recht. Im Moment werden ca. alle 3-5 Tage Artikel und Interviews in der MP zitiert, die nur eine Blickrichtung wiedergeben. Es ist eigenartig, wenn ein Mißbrauchsbeauftragter über seine "Fälle" plaudert, wie ein Bahnhofsvorsteher über den Fahrplan. Ein Staatsanwalt würde sich hüten so zu verfahren. Bei Mißbrauchsvorwürfen scheinen inzwischen rechtsstaatliche Maßstäbe keine Rolle mehr zu spielen. Zufall??
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