
Pflegekräfte und pflegende Angehörige waren in der Corona-Pandemie besonders gefordert. Sie bekamen dafür zwar Applaus, an ihrer Situation aber hat sich nicht wirklich etwas geändert. Denn auch die von Gesundheitsminister Jens Spahn geplante große Pflegereform wurde wegen Corona vertagt. Nur ein ganz kleiner Teil mit verpflichtenden Tariflöhnen in Alten- und Pflegeheimen und einer Staffelung der Zuzahlungen wurde auf den Weg gebracht. Eine große Pflegereform bleibt somit Aufgabe der nächsten Bundesregierung, wer immer sie dann stellt. Was aber brauchen die pflegenden Angehörigen und die Pflegebediensteten, die Alten- und die Pflegeheime, die ambulanten Dienste und Kliniken am nötigsten? Wir haben Experten aus Unterfranken befragt und in die Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien geschaut.
Pflegeberater Markus Oppel zur Situation von pflegenden Angehörigen und ambulanten Diensten
"Den größten Reformbedarf sehe ich absolut im ambulanten Bereich", sagt Markus Oppel aus Buchbrunn (Lkr. Kitzingen). Oppel ist unabhängiger Pflegeberater, Pflege-Sachverständiger und selbst pflegender Angehöriger. Vor allem für die pflegenden Angehörigem, die nicht für die Pflege bezahlt würden, sondern lediglich Rentenpunkte und einen Unfallschutz bekämen, müsse deutlich mehr getan werden. "75 Prozent aller Pflegenden sind pflegende Angehörige." Nach aktuellen Schätzungen dürften wir Ende des Jahres 2021 in Deutschland bei 4,5 bis 4,6 Millionen Pflegebedürftigen liegen, so Oppel. Davon seien 820 000 in Heimen untergebracht.

Schon jetzt arbeiteten offiziell 300 000 osteuropäische Pflege-Hilfskräfte in Deutschland. Die Dunkelziffer dürfte bei knapp einer Million liegen. Denen stünde laut jüngsten Gerichtsbeschlüssen der Mindestlohn zu. Dann könnten sich aber nur noch sehr reiche Familien diese Hilfskräfte leisten, oder das System drifte vollständig in die Schwarzarbeit ab, fürchtet Oppel. Die Leistungen der Pflegeversicherung reichten da längst nicht aus. Aber auch die ambulanten Dienste könnten das nicht kompensieren. Da fehle es schlicht am Personal.

Die komplizierten Regelungen mit unterschiedlichen Fördertöpfen müssten dringend reformiert werden, so Oppel. Statt Verhinderungspflege, Kurzeitpflege, Betreuungsleistungen, Pflegegeld und Sachleistungen sollte es ein flexibles Budget geben, von dem dann diejenigen profitieren müssten, die tatsächlich die Pflegeleistung erbringen. Zwar würde ein Mindestlohn für pflegende Angehörige das System endgültig unbezahlbar machen, aber eine Pflegepauschale als Lohnersatzleistung wäre ein erster Schritt. "Wir müssen weg von der sittlichen Verpflichtung der Angehörigen, die noch aus dem 18./19. Jahrhundert stammt, aber noch immer im Sozialgesetzbuch steht."
Reha-Expertin Ulrike Hahn zur Situation in Alten- und Pflegeheimen
Eine komplette Kostenübernahme für die Pflegeleistungen durch die Pflegeversicherung fordert Ulrike Hahn. Sie ist Bereichsleiterin Senioren und Reha bei der Arbeiterwohlfahrt in Unterfranken. Dabei gehe es nicht um eine Art Vollpension. Für die Unterkunft und Verpflegung müsste weiterhin zugezahlt werden. Nicht aber für Pflegeleistungen. Dafür bräuchten wir eine Vollkasko-Pflegeversicherung. In den Altenheimen in Unterfranken seien Zuzahlungen von 2000 bis 2500 Euro pro Monat keine Seltenheit. Und diese Kosten würden weiter steigen. Weil jede Verbesserung des Pflegeschlüssels, jede Gehaltserhöhung beim jetzigen System den Heimbewohnern Mehrkosten bereite.

Wenn der Pflegeberuf attraktiver werden soll, und das sei dringend nötig, müsse mehr Geld in Ausbildung und Personalausstattung investiert werden. Schon jetzt könne Hahn in drei unterfränkischen Altenheimen der AWO keine neuen Bewohnerinnen oder Bewohner aufnehmen, weil es am Personal fehle, die Zimmer wären frei.

Dieses Problem werde sich weiter zuspitzen und sei schon jetzt nur mit Pflegehilfskräften zu lösen. Die Personaldecke in den Alten- und Pflegeheimen der Region sei derart auf Kante genäht, dass jeder ungeplante Ausfall eine "mittlere Katastrophe bedeute". Darum arbeite man auch viel mit Teilzeitkräften, um etwas mehr Flexibilität zu haben. Besser aber wäre es, wenn die Pflegeschlüssel deutlich erhöht würden. Dies würde auch die permanente Arbeitsüberlastung der Pflegekräfte und das häufige Einspringen bei kurzfristigem Personalausfall reduzieren und den Pflegeberuf attraktiver machen. Dazu gehöre für Hahn dann auch die Absenkung der Regelarbeitszeit auf eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.
Pflegedirektor Marcus Hubbertz zur Situation in den Kliniken
Die Corona-Pandemie habe zu einer massiven Arbeitsverdichtung bei den Pflegekräften in den Kliniken geführt, so Marcus Huppertz, Pflegedirektor an der Uniklinik Würzburg. Dennoch dürfe man nicht nur auf Corona schauen. Das System Krankenhaus leiste viel mehr. Deshalb müsse die Politik viel genauer hinschauen. Mit der Ausschüttung von Corona-Prämien sei es nicht getan. Die würden am Ende immer ungleich verteilt, weil gar nicht alle relevanten Berufsgruppen berücksichtigt würden.

Trotz der Arbeitsverdichtung treffe man in den Kliniken auf professionelle und engagierte Pflegekräfte. Aktuell könnten alle Ausbildungskurse an der Uniklinik Würzburg belegt werden. Grundsätzlich sei Nachfrage nach den Pflegeberufen vorhanden. Es gebe sowohl gute Aufstiegschancen als auch vielfältige Möglichkeiten, um den Beruf in Teilzeit auszuüben.

Aus seiner Zeit in München wisse er, dass bezahlbarer Wohnraum für Pflegekräfte eine große Herausforderung ist. Das Tarifsystem müsse reformiert werden, um eine bessere Bezahlung zu bekommen, beispielsweise für Pflegerinnen und Pfleger, die eine Fachweiterbildung absolviert haben und damit spezialisierte Kompetenzen besitzen. Aber das gelte nicht nur für die Pflege: Auch Hebammen, medizinisch-technische Assistenten, Physio- und Ergotherapeutinnen und -therapeuten, sowie qualifiziertes Reinigungspersonal müssten berücksichtigt werden. "Wir brauchen einen viel differenzierteren Blick auf das System Krankenhaus. Das kann mehr als Covid."