
"Das Misstrauen sitzt immer noch tief", sagt Gertrud Bauer im Wohnzimmer ihrer Wohnung im Würzburger Frauenland. "Wenn ich mit jemandem rede, drehe ich mich erstmal um, ob jemand zuhört." Den "deutschen Blick" nennt die 95-Jährige dieses Verhalten. Für diese Redaktion hat sich die ehemalige Lehrerin bereit erklärt, eine Reise zurück in ihre Vergangenheit zu unternehmen, in eine Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus – eine Zeit, die die 1928 geborene Würzburgerin tief geprägt hat.
Als Kind zog Getrud Bauer mit ihren Eltern und drei Schwestern nach Waldbrunn – ihr Vater hatte dort eine Stelle als Forstmeister angenommen. An der örtlichen Grundschule wurde das Mädchen mit Nazi-Propaganda konfrontiert. Die Volksschullehrer auf dem Dorf seien meist "stramme Nazis" gewesen, die die Aufgabe hatten, "die Kinder zu infiltrieren", erinnert sich Bauer. Sport galt plötzlich als wichtigstes Fach, in allen Klassenzimmern hing ein Bild Hitlers, in dessen Richtung man sich beim Hitlergruß auszurichten hatte. Als sie im Schulflur über eine Büchertasche stolperte, hieß es von Seiten des Lehrers: "Da hat der Jude wieder seine lange Nase ausgestreckt, deswegen bist Du gestolpert", erzählt Bauer.
Hinterzimmer des Forsthauses als einzig sicherer Ort zum Reden
Mit antisemitischen Aussagen wie dieser konnte Gertrud Bauer nichts anfangen: "Ich bin von meinen Eltern anders aufgezogen worden." Auch wenn sie als Kind "völlig unbedarft war, ich hatte von Juden keine Ahnung", sei ihrer Familie schon bald klar gewesen, dass die Nazis "Schreckliches vorhatten". Vor allem ihre Mutter, die sie als "sehr kluge, vorsichtige und fromme Frau" in Erinnerung habe, sei gegen Hitler gewesen. "Offen reden konnte meine Mutter mit uns Kindern nur in einem Hinterzimmer im Forsthaus", so Bauer. Dies sei der einzige Ort gewesen, an dem sie erfahren hätte, was wirklich vor sich ging.
Um einem "ausgefuchsten Nazi-Lehrer" zu entkommen, der Bauer in der vierten Klasse in Waldbrunn unterrichtet hätte, schicken die Eltern die knapp zehnjährige Gertrud ins Internat der Englischen Fräulein und auf die Mozartschule nach Würzburg. Am Gymnasium nahm Bauer wahr, dass die Lehrer unterschiedlich "hitlerhörig" waren. "Der Hitlergruß der Mathelehrerin fiel zum Beispiel sehr kläglich aus, weil sie angeblich 'Schmerzen im Arm' hatte."
"Ich bin sehr gern ins Gymnasium gegangen", sagt Bauer. Allerdings hätte vor allem gegen Kriegsende kein richtiger Unterricht mehr stattfinden können, weil es dauernd Bombenalarm gegeben habe: "Zum Schluss saßen wir mehr im Keller als im Klassenzimmer."
Als die Englischen Fräulein 1941, wie andere kirchliche Institutionen auch, schließen mussten, boten zwei ältere Frauen aus dem Bekanntenkreis der Eltern Gertrud Bauer eine Unterkunft an. Statt im Internat, konnte das Mädchen fortan bei ihnen in ihrem Haus im Würzburger Frauenland wohnen. Die beiden seien "absolut kontra Hitler gewesen", eine Haltung, über die die Jugendliche Stillschweigen bewahren musste, um die Frauen nicht in Schwierigkeiten zu bringen.
Stets galt es, den Schein zu wahren: Als Gertrud Bauer in den Bund Deutscher Mädel (BDM) eintreten sollte – ab 1936 war eine BDM-Mitgliedschaft für Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren Pflicht –, hätten die beiden Frauen alles getan, um ihr diesen "Ehrentag" so schön wie möglich zu gestalten. Überall sei mit Blumen geschmückt gewesen, alles vorhandene Essen wurde aufgetischt. Zum einen sei dies Tarnung gewesen, da die Frauen als verdächtig galten und immer Angst hatten, abgehört zu werden; zum anderen "konnten sie die Feierlichkeiten durch ein solches 'Theater' verhöhnen", so Bauer.
Bauers Familie half, Waldbrunn vor der Zerstörung durch die Amerikaner zu retten
"Ich sehe mich noch vor dem großen Hitlerbild stehen", erinnert sich die 95-Jährige an den Tag ihrer Aufnahme in den BDM. Jedes Mädchen habe einzeln vortreten und dem Führer laut die Treue geloben müssen. Die feierliche Aufmachung der Veranstaltung hinterließ für den Moment selbst bei Bauer Eindruck: "Die Parade fand ich irgendwie toll – als ich dann allein zuhause war, hat sich aber wieder der Widerstand in mir geregt."
Als sich zu Kriegsende der Einmarsch der Amerikaner in Waldbrunn ankündigte, hätten die Bewohner auf Befehl der Nazis Barrikaden aufstellen sollen. Hettstadt, wo sich die Einwohner an die Anweisung gehalten hätten, sei daraufhin von den Amerikanern zerstört worden. Gertrud Bauers Vater wollte verhindern, dass Waldbrunn dasselbe Schicksal ereilte. Statt Barrikaden zu errichten, versteckte sich ihr Vater, um als Forstmeister dem Befehl zu entgehen, während ihre Mutter und der Pfarrer in Waldbrunn am Kirchturm und am Forsthaus weiße Betttücher aufhängten – eine "sehr gefährliche Sache, weil Menschen auch 1945 noch wegen eines solchen 'Verrats' gehängt wurden", so Bauer. Doch der Plan von Bauers Familie ging auf: Als die Amerikaner, mit Panzern und Gewehr im Anschlag, in Waldbrunn einmarschierten, ließen sie das Dorf bestehen. "Ich habe ihnen erleichtert und freudig zugewinkt", sagt die 95-Jährige.
Gertrud Bauer erinnert sich an zahlreiche Situationen, in denen ihr Leben am seidenen Faden hing: Kurz vor Kriegsende etwa sei sie mit dem Fahrrad von Würzburg nach Waldbrunn gefahren. "Auf der Höchberger Straße habe ich das Rattern eines kleinen englischen Flugzeugs gehört, das Jagd auf alle gemacht hat, die zu finden waren", erzählt Bauer. Sie sprang vom Fahrrad ab, in einen Graben, wo sie sich auf den Boden legte. Der grau-grüne Lodenmantel, den sie an diesem Tag trug, erwies sich durch seine Tarnfarben als ihre Rettung: "Vom Flugzeug aus haben sie mein Fahrrad beschossen", so Bauer.
Die Bombardierung Würzburgs am 16. März 1945 hat Gertrud Bauer in der Straße "Am Galgenberg" im Frauenland erlebt – im Haus der Frauen, die sie beherbergten. "Die Piloten haben erst Leuchtraketen abgeworfen, damit sie ihre Ziele gut sehen und treffen konnten", sagt Bauer. Dann habe es Brandbomben geregnet, bei denen das Feuer "in die Häuser reingekrochen ist". "Die Leute wären fast in ihren Häusern erstickt und sind deswegen auf die Straße gerannt". Auf die Fliehenden seien Sprengbomben geworfen worden.
Gertrud Bauers Intuition rettete Haus "Am Galgenberg"
"Unser Haus hat geschwankt", sagt Bauer. Der Keller, in dem die Hausbewohner auf dem Boden lagen, sei kein Luftschutzkeller, sondern ein einfacher Waschkeller gewesen. "Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen", so Bauer. "Ich habe mir gesagt, 'Du hast ja 17 schöne Jahre gehabt'."
Irgendwann sei es still gewesen, "alles war so komisch, ich dachte, ich muss aus dem Keller raus". Diese Entscheidung rettet das Haus und seine Bewohner – denn im Dach steckte eine Bombe, und aus der Decke des zweiten Stocks kam Feuer. Bauer schrie bei dem Anblick, alle kamen aus dem Keller heraus und bildeten eine Löschkette, so dass der Brand gestoppt werden konnte. "Damals mussten die Badewannen in den Häusern immer voll Wasser sein", erinnert sich Bauer, "das wurde regelmäßig kontrolliert".
Misstrauen als ständiger Begleiter
"Beim Löschen kam alles auf mich herunter, ich war kohlschwarz", sagt sie. Doch sie wusste: Wenn das Haus abbrennt, müssen die Bewohner ins Armenhaus. Ihr beherzter Einsatz rettete das Haus; im Dach klaffte ein Loch, "aber ansonsten war es in Ordnung".
Die NS-Zeit hat tiefe Spuren in Gertrud Bauers Leben hinterlassen. Bis heute sei ein gewisses Misstrauen ihr ständiger Begleiter. "Wir hätten in der Öffentlichkeit nie ein Wort gegen Hitler gesagt", sagt sie, "die Angst, erwischt zu werden, war immer da – auch deine beste Freundin hätte dich ins Gefängnis bringen können."
Vielleicht war ihr auch deswegen später, als sie selbst Lehrerin wurde, im Kontakt mit den Schülern eines besonders wichtig: "Das Vertrauen, dass der, der dich unterrichtet, es gut mit dir meint."
Aber wieso immer dieser Vergleich? Natürlich haben nach dem Krieg alle versucht, so gut wie möglich zu funktionieren. Das heißt nicht, dass viele von ihnen nicht Hilfe gebraucht hätten. Es sind so viele Menschen zum Teil schwer traumatisiert gewesen nach diesem Krieg. Aber allein wegen der schieren Menge und weil man nicht darüber gesprochen hat, haben halt alle irgendwie funktioniert. Aber die Folgen der Traumata sind oft bis in die nächste Generation spürbar. Haben Sie schonmal von dem Begriff "Kriegsenkel" gehört? Erst in dieser Generation fangen Menschen an, darüber und über die Auswirkungen in ihren Familien zu sprechen.