
Zum ersten Mal durften bei einer Europawahl in Deutschland junge Menschen ab 16 Jahren abstimmen. Das Wahlverhalten der Jugendlichen brachte einige Überraschungen, die größte vermutlich für die Grünen. In der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen verlor die Partei 23 Prozentpunkte im Vergleich zur Europawahl 2019. Damals wählten 34 Prozent der jungen Menschen die Grünen, jetzt waren es nur noch 11 Prozent.
Die AfD, Volt und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hingegen gewannen deutlich bei der Europawahl. Was sind Gründe für den Wandel? Wie politisch sind Jugendliche heute? Fragen an Prof. Thomas Kestler, Vertreter des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre an der Universität Würzburg.
Kestler war viele Jahre bei den Grünen, 2009 kandidierte er für den Bundestag. Vor allem wegen der grünen Energiepolitik wechselte der Politikwissenschaftler vor zwei Jahren zur FDP. Für die Liberalen trat er bei den jüngsten Bundes- und Landtagswahlen an.
Thomas Kestler: Ich würde nicht von gefestigten konservativen oder "rechten" Einstellungen ausgehen, sondern eher von einer altersspezifischen Protesthaltung. Auch früher waren die jungen Wählerinnen und Wähler auf Protest und Krawall gebürstet. Damals waren aber die meisten erwachsenen Menschen konservativ, die Lehrer, die Eltern, das Establishment. Also haben Jugendliche eher links gewählt.
Heute ist das andersherum: Lehrkräfte und Eltern sind eher links - tagein, tagaus wird in den Schulen und in den Medien der Klimawandel thematisiert. Da scheint inzwischen ein gewisser Überdruss zu bestehen, der möglicherweise dazu beiträgt, dass aus Protest konservative Parteien gewählt werden.
Kestler: Politik spielt bei Jugendlichen eher eine untergeordnete Rolle. Hier zeigt sich bei der Jugend verstärkt, was auch bei der Gesamtwählerschaft zu beobachten ist: Das politische Wissen ist begrenzt. Auch das Informationsverhalten hat sich verändert. Junge Menschen konsumieren gerne kurze Videos auf Plattformen wie YouTube oder TikTok, lesen dafür kaum Tageszeitungen oder nutzen nicht die Tagesschau oder andere Nachrichtensendung im Fernsehen.

Kestler: Wie viele junge Wähler die AfD tatsächlich über TikTok erreicht, ist sehr schwer einzuschätzen. Man sollte hier vorschnelle Schlüsse vermeiden. Sicherlich eigenen sich kurze Clips besonders gut, um einfache Parolen zu verbreiten, was der AfD in gewisser Weise gelingt. Aber die Einflüsse kommen aus unterschiedlichen Richtungen, es gibt neben der AfD noch viele weitere Akteure in den sozialen Medien. Das bedeutet nicht, dass nun jeder Politiker YouTuber oder TikToker werden muss.
Kestler: Man darf die Plakatwerbung bei Wahlen nicht unterschätzen. Die Partei Volt hatte tolle Plakate, die einfach ins Auge gestochen sind. Die Parolen wie "Sei kein Arschloch" oder "Für mehr Eis" waren witzig und gelungen. Diese starke Präsenz hatte sicher eine Wirkung.
Kestler: Sahra Wagenknecht ist eine Marke. Beispiellos ist aus meiner Sicht die Personalisierung der neuen Partei. Wagenknecht kennt jeder, das ist gerade für die Mobilisierung von politisch weniger interessierten Wählerinnen und Wählern ein großer Vorteil.
Kestler: Die Parteien müssten versuchen, sich zu verjüngen. Jugendliche interessieren sich für Gleichaltrige und orientieren sich an ihnen. Alte Menschen interessieren sie nicht. Die CDU hat das zumindest schon mal mit Philipp Amthor versucht. Meist wirken derartige Versuche der Parteien aber unbeholfen. Was fehlt, sind jugendliche Multiplikatoren im Alltag, in den Schulen, Vereinen und Ausbildungsbetrieben. Man hat den Eindruck, dass die Parteien den Draht zu den Wählerinnen und Wählern verloren haben, nicht nur, aber besonders zu den Jugendlichen. Politik wird, nicht ganz zu Unrecht, als abgehoben wahrgenommen. Dem Volk auf Maul zu schauen gilt als unangebracht und populistisch, aber letztlich ist genau das die Aufgabe der Parteien.
Diese Erfahrungen verstärkt durch Erlebnisse im Amt, in der Kneipe, im Sportverein und auf der Straße führen zu einer sich verfestigten Meinung .
Sowieso erstaunlich, dass diese "Touch points" (Titel eines Marketing-Sachbuchs) viele kennen, und wenige gezielt nutzen. Natürlich will niemand so aufs Glatteis geführt werden, wäre nur schön, wenn Wahlen dadurch besser ausgehen.
Wenn ich jedoch wie Parteien politisch etwas erreichen will, dann ist ein gezieltes, methodisches Vorgehen der besserere Weg, als auf glückliche Zufälle zu hoffen. Irgendwelche irrlichternden Marketingaktivitäten helfen höchstens, wenn die Mitstreiter sich noch unprofessioneller verhalten! Sah man sehr schön bei den letzten Bundestagswahlen: falscher C-Kandidat, s.a.mein Post. Man glaubte, man könne den Vorbereitungsteil sparen, die langweilige Theorie, Zeit und Geld? Meistens wirds schlechter u.teurer.
Also ggf. demnächst mehr los auf der "rechten Spur" von Europa...
Waren „alte“ Werte aus Erziehung, gefühlte Glaubwürdigkeit, Erfahrung, Performance/Aktionsbereitschaft von handelnden Personen, wesentlicher als Themen? Bei diplomatischem Geschwätz will man nicht lang in der Tiefe graben, der oberflächlich-kurze Eindruck gewinnt vor komplizierten, als anstrengend empfundenen Inhalten und Vorhaben
Ich staune schon lange besonders bei den Grünen über die Ignoranz bewährter neurowissenschaftlicher Kommunikationsmethoden. Sie verstehen nicht, dass nicht jeder alles genau wissen will, intuitiv reicht der gefühlte Eindruck:
1. Die Person! 2. Was bringt’ s (mir)? 3. Belohnung, z.B. Spaß, Anerkennung, Geld
Das menschliche Gehirn ist bekanntlich der größte Energiefresser, entscheidet oft vorschnell, honoriert stark optische Eindrücke und gute Gefühle!
S. Neurowissenschaften, ggf. selbst googeln.
Jetzt haben wohl die Jungwähler nicht die Erwartung in ihrer Parteiauswahl erfüllt und schon kommt Kritik.
Warum erst jetzt?