
Umfragen zur Stimmung im Land haben einen starken Einfluss auf den politischen Betrieb. Zu stark, meint der Würzburger Politikwissenschaftler Prof. Thomas Kestler und hat einen Leitfaden für Parteien dazu veröffentlicht. Sie sollten sich weniger an Umfragen ausrichten und mehr an ihrer Kernanhängerschaft, sagt der 48-Jährige, der an der Uni Würzburg den Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre vertritt.
Kestler war viele Jahre bei den Grünen, in seiner mittelfränkischen Heimat Weißenburg auch mal Kreisvorsitzender, 2009 kandidierte er für den Bundestag. Vor allem wegen der grünen Energiepolitik wechselte der Politikwissenschaftler vor zwei Jahren zur FDP. Für die Liberalen trat er bei den jüngsten Bundes- und Landtagswahlen an.
Prof. Thomas Kestler: Den Eindruck habe ich. Und leider gibt es viele Irrtümer hinsichtlich der Aussagekraft von Umfragen – wobei man unterscheiden muss: Es gibt durchaus belastbare Umfragen wie die "Sonntagsfrage" nach dem Wahlverhalten. Sie ist mit einer langen Zeitreihe hinterlegt. Und mit Parteien können die Leute noch was anfangen. Wenn es allerdings um sehr komplexe Fragestellungen etwa zur Energie- oder Finanzpolitik geht, dann sinkt die Aussagekraft von Umfragen ganz massiv.
Kestler: Weil die Leute dazu in der Regel keine wirklich informierte und stabile Meinung haben. Sie lassen sich sehr leicht beeinflussen, zum Beispiel durch klassische Medien, Social Media oder Messengerdienste.
Kestler: Mein Eindruck ist, dass sich Politik sehr stark an solchen Umfragen orientiert – gerade weil das politische Umfeld volatiler geworden ist, Positionen werden häufiger geändert als früher. Da versucht man in solchen Umfragen einen Stabilitätsanker zu finden und nichts falsch zu machen. Und kurzfristig kann das funktionieren. Angela Merkel hat teilweise aus Umfragen wörtlich Formulierungen übernommen und für ihre politische Kommunikation verwendet. Aber das führt dazu, dass man sich mit jeder Umfrage neu orientieren muss. Denn die Stimmung in der Bevölkerung kann sehr schnell wechseln, denken Sie an den Atomausstieg. Politik sollte Umfragen nicht zum wichtigsten Maßstab machen, das führt in die Irre.
Kestler: Richtig. Das politische Verhalten wird unstet und trägt letztlich zu einem Vertrauensverlust in die Politik und in die Parteien bei. Die Leute merken, wenn sich die Akteure wie Fähnchen im Wind verhalten.
Kestler: Auch das ist eine Folge daraus. Der Grundirrtum ist anzunehmen, dass Aussagen in Umfragen immer auf stabilen Präferenzen der befragten Personen beruhen. Dem ist aber nicht so. Gerade bei einer komplexen technischen Thematik – zum Beispiel der Atomkraft – ist der Informationsstand sehr gering, das Antwortverhalten ist kurzfristig beeinflusst. Wir sprechen von mentaler Verfügbarkeit: Sie lesen etwas in der Zeitung, sehen etwas in der Tagesschau – das ist medial präsent und beeinflusst Sie. Bei einer Umfrage kurz danach hätten Sie eine gewisse Tendenz. Das sind, medial erzeugt, Spuren im demoskopischen Treibsand. Sie können mit der nächsten Welle wieder verschwinden. Es sind Momentaufnahmen. Den Medien kommt dabei eine große Verantwortung zu.
Kestler: Es führt zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit. Leute wenden sich von Parteien ab, weil sie nicht mehr wissen, woran sie sind und wofür eine Partei steht. Es fehlt an Kontinuität, sie geht durch eine zunehmende Beliebigkeit verloren. Man sollte als Partei darauf achten, die Marke nicht zu verwässern. Allerdings sind Menschen für die Politik immer schwerer zu erreichen, was bei den politischen Akteuren zu Verunsicherung führt – und die Parteien veranlasst, sich noch stärker an Umfragen orientieren.

Kestler: Das spielt eine Rolle, und im schlechtesten Fall – ich will hier nichts prophezeien – ziehen sich die Menschen von Nachrichten und Politik auch deshalb zurück. Man fühlt sich erdrückt von der Menge an Informationen und widersprüchlichen Meinungen. Was aber vor allem wirkt: Die Leute sind heute weniger an soziale Milieus gebunden, Einstellungen und Verhaltensmuster waren früher stärker verankert – zum Beispiel die Ablehnung der Kernenergie im alternativen Spektrum der 80er Jahre. Nur gibt es diese Milieus nicht mehr. Politische Inhalte und Positionen haben sich von ihren sozialen Grundlagen entkoppelt. Somit sind auch Einstellungsmuster nicht mehr stabil und Umfragen entsprechend weniger verlässlich.
Kestler: Könnte man sagen. Aber wenn diese Meinungsbilder derart volatil und flüchtig werden, hat das mit den Menschen nicht mehr viel zu tun. Umfragen bilden unter dem starken Einfluss von Medien und Internet nicht mehr das ab, was die Leute wirklich bewegt und was sie wollen. Und bei komplexen Fragestellungen sagen sie auch nichts darüber aus, was die Person am Ende wählt. Wirklich bewegt werden Leute von Themen und Ideen, die sie direkt betreffen und die sie verstanden haben.
Kestler: Das ist das Problem. Wenn sich Parteien zu sehr an diesen Meinungsbildern ausrichten, stoßen sie ihre Kernanhänger vor den Kopf und verlieren sie. Sie haben gefestigtere Einstellungen und eine programmatische Orientierung. Die Union unter Merkel musste das leidvoll erfahren: Sie hat einen großen Teil ihrer konservativen Basis verloren. Der FDP ging es in den letzten Jahren ähnlich durch die Anpassung an die Ampel-Politik. Umgekehrt gewinnen gerade die Kernanhänger in einem derart volatilen Umfeld an Bedeutung – als Stabilitätsanker und als Verstärker, die in die Öffentlichkeit hineinwirken. Da kann es einen Unterschied machen, wenn ein paar tausend Leute über Social Media eine Position konsequent unterstützen.
Kestler: Populismus ist eine fast zwangsläufige Folge einer Entkoppelung von der Erfahrungswelt des Menschen. Wenn politische Positionen nicht mehr in Milieustrukturen eingebunden sind, Politik insgesamt in den Hintergrund tritt und die Aufmerksamkeitsschwelle höher wird – dann ist das die Stunde der Populisten. Sie sind besser darin, die emotionale Ebene anzusprechen und Botschaften zu verdichten und zu verkürzen. Sie dringen besser durch. Allerdings leiden gerade auch Populisten unter der Wechselhaftigkeit der Wähler – sie sind eben nicht stabil verankert.
Das aktuelle Buch von Thomas Kestler "Wie man die Macht von Ideen nutzt – Strategische Leitlinien für alle, die politisch etwas bewegen wollen" ist im Verlag res publica erschienen, 165 Seiten, 28 Euro.
Aber leider fehlt es – nicht nur in Deutschland - an Politikern, die den Leuten die Wahrheit sagen und deren oberste Priorität nicht ihre eigene nächste Wiederwahl bzw. der Macherhalt für die eigene Partei ist.
Politiker wie beispielsweise Söder, Aiwanger, Höcke, Trump und Co. posaunen demzufolge ständig nur solche Parolen hinaus, welche viele Leute gerne hören, d.h. der Bevölkerung wird der bequeme „Luxus-Status quo“ auch für die Zukunft versprochen; auch wenn diese Politiker genau wissen, dass sie ihre Wahlversprechen nicht einhalten können
Er sollte von allen Parteien gehört werden. Mit Freude habe ich dieses Interview gelesen!