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Würzburg
Gegen den Wählerfrust: Würzburger Politik-Professor appelliert an Parteien, weniger auf Umfragen zu schielen
Wenn sich politische Akteure verhalten wie Fähnchen im Wind, geht viel an Glaubwürdigkeit verloren. Was Politikwissenschaftler Thomas Kestler stattdessen rät.
Parteien verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn sie sich zu sehr an fragwürdigen Umfragen ausrichten, findet der Würzburger Politikwissenschaftler Prof. Thomas Kestler.
Foto: Thomas Obermeier | Parteien verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn sie sich zu sehr an fragwürdigen Umfragen ausrichten, findet der Würzburger Politikwissenschaftler Prof. Thomas Kestler.
Andreas Jungbauer
 |  aktualisiert: 15.07.2024 15:52 Uhr

Umfragen zur Stimmung im Land haben einen starken Einfluss auf den politischen Betrieb. Zu stark, meint der Würzburger Politikwissenschaftler Prof. Thomas Kestler und hat einen Leitfaden für Parteien dazu veröffentlicht. Sie sollten sich weniger an Umfragen ausrichten und mehr an ihrer Kernanhängerschaft, sagt der 48-Jährige, der an der Uni Würzburg den Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre vertritt.

Kestler war viele Jahre bei den Grünen, in seiner mittelfränkischen Heimat Weißenburg auch mal Kreisvorsitzender, 2009 kandidierte er für den Bundestag. Vor allem wegen der grünen Energiepolitik wechselte der Politikwissenschaftler vor zwei Jahren zur FDP. Für die Liberalen trat er bei den jüngsten Bundes- und Landtagswahlen an.

Woche für Woche werden neue Umfragen veröffentlicht. Leben wir in einer "Umfrage-Demokratie"?

Prof. Thomas Kestler: Den Eindruck habe ich. Und leider gibt es viele Irrtümer hinsichtlich der Aussagekraft von Umfragen – wobei man unterscheiden muss: Es gibt durchaus belastbare Umfragen wie die "Sonntagsfrage" nach dem Wahlverhalten. Sie ist mit einer langen Zeitreihe hinterlegt. Und mit Parteien können die Leute noch was anfangen. Wenn es allerdings um sehr komplexe Fragestellungen etwa zur Energie- oder Finanzpolitik geht, dann sinkt die Aussagekraft von Umfragen ganz massiv.

Warum?

Kestler: Weil die Leute dazu in der Regel keine wirklich informierte und stabile Meinung haben. Sie lassen sich sehr leicht beeinflussen, zum Beispiel durch klassische Medien, Social Media oder Messengerdienste.

Trotzdem werden diese "Meinungen" als Stimmungsbilder veröffentlicht und die Politik reagiert darauf? 

Kestler: Mein Eindruck ist, dass sich Politik sehr stark an solchen Umfragen orientiert – gerade weil das politische Umfeld volatiler geworden ist, Positionen werden häufiger geändert als früher. Da versucht man in solchen Umfragen einen Stabilitätsanker zu finden und nichts falsch zu machen. Und kurzfristig kann das funktionieren. Angela Merkel hat teilweise aus Umfragen wörtlich Formulierungen übernommen und für ihre politische Kommunikation verwendet. Aber das führt dazu, dass man sich mit jeder Umfrage neu orientieren muss. Denn die Stimmung in der Bevölkerung kann sehr schnell wechseln, denken Sie an den Atomausstieg. Politik sollte Umfragen nicht zum wichtigsten Maßstab machen, das führt in die Irre.

Weil die Parteien unberechenbar werden?

Kestler: Richtig. Das politische Verhalten wird unstet und trägt letztlich zu einem Vertrauensverlust in die Politik und in die Parteien bei. Die Leute merken, wenn sich die Akteure wie Fähnchen im Wind verhalten.

"Politik sollte Umfragen nicht zum wichtigsten Maßstab machen, das führt in die Irre."
Prof. Thomas Kestler, Politikwissenschaftler an der Uni Würzburg
Und wenn die Grenzen zwischen den Parteien verschwimmen...

Kestler: Auch das ist eine Folge daraus. Der Grundirrtum ist anzunehmen, dass Aussagen in Umfragen immer auf stabilen Präferenzen der befragten Personen beruhen. Dem ist aber nicht so. Gerade bei einer komplexen technischen Thematik – zum Beispiel der Atomkraft – ist der Informationsstand sehr gering, das Antwortverhalten ist kurzfristig beeinflusst. Wir sprechen von mentaler Verfügbarkeit: Sie lesen etwas in der Zeitung, sehen etwas in der Tagesschau – das ist medial präsent und beeinflusst Sie. Bei einer Umfrage kurz danach hätten Sie eine gewisse Tendenz. Das sind, medial erzeugt, Spuren im demoskopischen Treibsand. Sie können mit der nächsten Welle wieder verschwinden. Es sind Momentaufnahmen. Den Medien kommt dabei eine große Verantwortung zu.

Wenn sich Parteien überwiegend an Umfragen orientieren und weniger an ihrer Programmatik – geben sie sich damit nicht selbst auf?

Kestler: Es führt zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit. Leute wenden sich von Parteien ab, weil sie nicht mehr wissen, woran sie sind und wofür eine Partei steht. Es fehlt an Kontinuität, sie geht durch eine zunehmende Beliebigkeit verloren. Man sollte als Partei darauf achten, die Marke nicht zu verwässern. Allerdings sind Menschen für die Politik immer schwerer zu erreichen, was bei den politischen Akteuren zu Verunsicherung führt – und die Parteien veranlasst, sich noch stärker an Umfragen orientieren. 

Lehrt an der Universität Würzburg Vergleichende Politikwissenschaften und trat selbst als Kandidat bei Bundes- und Landtagswahlen an, erst für die Grünen, jetzt für die FDP: Professor Thomas Kestler. 
Foto: Thomas Obermeier | Lehrt an der Universität Würzburg Vergleichende Politikwissenschaften und trat selbst als Kandidat bei Bundes- und Landtagswahlen an, erst für die Grünen, jetzt für die FDP: Professor Thomas Kestler. 
Die, wie Sie sagen, wenig konstant und ziemlich diffus sind. Wieweit trägt auch die Informationsflut zur Verwirrung bei den Leuten bei?

Kestler: Das spielt eine Rolle, und im schlechtesten Fall – ich will hier nichts prophezeien – ziehen sich die Menschen von Nachrichten und Politik auch deshalb zurück. Man fühlt sich erdrückt von der Menge an Informationen und widersprüchlichen Meinungen. Was aber vor allem wirkt: Die Leute sind heute weniger an soziale Milieus gebunden, Einstellungen und Verhaltensmuster waren früher stärker verankert – zum Beispiel die Ablehnung der Kernenergie im alternativen Spektrum der 80er Jahre. Nur gibt es diese Milieus nicht mehr. Politische Inhalte und Positionen haben sich von ihren sozialen Grundlagen entkoppelt. Somit sind auch Einstellungsmuster nicht mehr stabil und Umfragen entsprechend weniger verlässlich.

"Umfragen bilden unter dem starken Einfluss von Medien und Internet nicht mehr das ab, was die Leute wirklich bewegt."
Prof. Thomas Kestler über die Aussagekraft von Umfragen
Jetzt könnte man sagen: Ist doch besser, wenn Politik sich an den Menschen orientiert und nicht abgehoben ihr "Ding" macht?

Kestler: Könnte man sagen. Aber wenn diese Meinungsbilder derart volatil und flüchtig werden, hat das mit den Menschen nicht mehr viel zu tun. Umfragen bilden unter dem starken Einfluss von Medien und Internet nicht mehr das ab, was die Leute wirklich bewegt und was sie wollen. Und bei komplexen Fragestellungen sagen sie auch nichts darüber aus, was die Person am Ende wählt. Wirklich bewegt werden Leute von Themen und Ideen, die sie direkt betreffen und die sie verstanden haben. 

Verprellt sich eine Partei ihre Mitglieder, wenn sie nur auf Umfragen schielt?

Kestler: Das ist das Problem. Wenn sich Parteien zu sehr an diesen Meinungsbildern ausrichten, stoßen sie ihre Kernanhänger vor den Kopf und verlieren sie. Sie haben gefestigtere Einstellungen und eine programmatische Orientierung. Die Union unter Merkel musste das leidvoll erfahren: Sie hat einen großen Teil ihrer konservativen Basis verloren. Der FDP ging es in den letzten Jahren ähnlich durch die Anpassung an die Ampel-Politik. Umgekehrt gewinnen gerade die Kernanhänger in einem derart volatilen Umfeld an Bedeutung – als Stabilitätsanker und als Verstärker, die in die Öffentlichkeit hineinwirken. Da kann es einen Unterschied machen, wenn ein paar tausend Leute über Social Media eine Position konsequent unterstützen. 

Ist es Populismus, Politik nach Umfrageergebnissen zu machen? 

Kestler: Populismus ist eine fast zwangsläufige Folge einer Entkoppelung von der Erfahrungswelt des Menschen. Wenn politische Positionen nicht mehr in Milieustrukturen eingebunden sind, Politik insgesamt in den Hintergrund tritt und die Aufmerksamkeitsschwelle höher wird – dann ist das die Stunde der Populisten. Sie sind besser darin, die emotionale Ebene anzusprechen und Botschaften zu verdichten und zu verkürzen. Sie dringen besser durch. Allerdings leiden gerade auch Populisten unter der Wechselhaftigkeit der Wähler – sie sind eben nicht stabil verankert. 

Das aktuelle Buch von Thomas Kestler "Wie man die Macht von Ideen nutzt – Strategische Leitlinien für alle, die politisch etwas bewegen wollen" ist im Verlag res publica erschienen, 165 Seiten, 28 Euro.

 
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  • Klaus B. Fiederling
    ich habe auch jahrzehntlelang die gleiche Partei gewählt, bei der letzten Wahl eine andere, aber nicht !! die AfD. Man dachte es muß sich was ändern nach 16 Jahren Merkel-CDU, hat sich auch geändert aber leider zum schlechteren! Die Ampelkoalition hat ausgeriert. Sie gehört einfach weg, wie in einem Lied: Karl der Käfer wurde nicht gefragt, man hat in einfach fortgejagt. Ich würde mir wünschen, wenn durch immer mehr Proteste, nicht nur Landwirte oder Bahn stattfinden würden und gen Berlin ziehen würden und denen dort richtig den "Marsch blasen würden!" Nun können ja wieder einige Regierungsfreundliche gegen mich schreien. Aber bitte mit richtigen Namen!
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  • Paul Sauer
    Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Parteifunktionäre weniger auf Umfragen schielen würden.

    Aber leider fehlt es – nicht nur in Deutschland - an Politikern, die den Leuten die Wahrheit sagen und deren oberste Priorität nicht ihre eigene nächste Wiederwahl bzw. der Macherhalt für die eigene Partei ist.

    Politiker wie beispielsweise Söder, Aiwanger, Höcke, Trump und Co. posaunen demzufolge ständig nur solche Parolen hinaus, welche viele Leute gerne hören, d.h. der Bevölkerung wird der bequeme „Luxus-Status quo“ auch für die Zukunft versprochen; auch wenn diese Politiker genau wissen, dass sie ihre Wahlversprechen nicht einhalten können
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  • Hartmut Haas-Hyronimus
    Wahlen werden durch Abstimmungen entschieden, nicht durch Umfragen. Das hat man z.B. eindrucksvoll bei der Wahl Trumps gesehen. Bei Umfragen laufen die Influencer immer auf Hochtouren, bei den Wahlen selbst sind sie in der Minderheit.
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  • Roland Rösch
    Dann zensiert am besten auch die Umfragen . Das Volk wird doch von der Politik hingestellt wie unmündig und dumme Menschen, nur wenn sie mal zum Denken kommen is das gefährlich und unerwünscht.
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  • Georg Wohlfart-Mitznegg
    Teile der Politik haben noch einen durchaus realistischen Blick auf das Volk.
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  • Manfred Englert
    Ich gebe dem Professor Kestler vollkommen recht.

    Er sollte von allen Parteien gehört werden. Mit Freude habe ich dieses Interview gelesen!
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  • Burkhard Tamm
    Von Politikern erwarte ich, dass sie vernünftige und gut begründete Entscheidungen treffen, nachdem sie sich in eine Materie eingearbeitet haben, und diese Entscheidung auch gegen Widerstände vertreten, indem sie de. Menschen erklären, warum diese Entscheidung die richtige ist. Der normale Bürger durchdringt doch komplexe Fragen gar nicht. Damit ist er zu einer fundierten Beurteilung auch nicht in der Lage. Er kann lediglich eine Meinung dazu haben. Wenn Politiker nur auf die Mehrheitsmeinungen schielen, dann trifft sie falsche Entscheidungen. Beispiel: Die Schuldenbremse ist in der aktuellen Form völliger Unsinn. Das sagen die meisten Experten. Zu recht, denn Investitionen sind dringend nötig. Trotzdem verkauft die CDU den Bürgern, der Staat sei wie eine schwäbische Hausfrau, die Schuldenbremse muss bleiben. Irrsinn! Weder kann die Hausfrau Anleihen begeben, die auch die eigene Familie kauft, noch könnte sie Geld drucken. Gut erklärt von Bofinger: „wir sind besser als wir glauben“.
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  • Ralf Eberhardt
    Dreifacher Widerspruch: Ich habe nicht lediglich eine Meinung, sondern ganz bewusst. Und Mehrheitsmeinungen müssen nicht per se falsch sein, sondern sind in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen, indem man sie wahrnimmt. Zum Schluss zur Schuldenbremse: diese hat doch wohl den Sinn, jede Planung von Staatsausgaben einer ernsthaften Prüfung in Sachen Sinn, Ziel und Wirkung derselben zu unterziehen und im Gesamtzusammenhang zum Staatsetat zu setzen. Das kann auch nicht komplett falsch sein.
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