
Im Jahr 2002 ist Ina Schmolke mit Zwillingen schwanger. Es ist ihre erste Schwangerschaft. In der 18. Schwangerschaftswoche bekommt sie einen Blasensprung bei einem Zwilling und muss in der Klinik liegen. Als in der 25. Schwangerschaftswoche die Wehen einsetzen, ist klar, dass die Kinder per Kaiserschnitt geholt werden müssen. Durch die steigenden Infektionszeichen hängt ihr Leben und das ihrer ungeborenen Kinder an einem seidenen Faden.
Beide Zwillingskinder werden lebend geboren. Maximilian hat ein Geburtsgewicht von 600 Gramm. "Er wurde eine halbe Stunde reanimiert und ist dann verstorben", berichtet die Mutter mit schwerem Herzen. Der zweite, Christian, kämpft sich fast 15 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin viel zu früh ins Leben. Auch er wiegt bei der Geburt kaum mehr als ein halbes Päckchen Mehl, gerade einmal 820 Gramm. 22 Jahre sind seitdem vergangen.

Schmolke engagiert sich ehrenamtlich für Frühgeborene
Die Wochen auf der Frühchen-Intensivstation haben Spuren bei Ina Schmolke hinterlassen. Um anderen Eltern in ähnlichen Situationen beizustehen, engagiert sie sich seit über 20 Jahren als Vorsitzende im Verein "Kiwi", der Eltern von Frühgeborenen und schwer kranken Kindern unterstützt. Über vier Monate musste Christian in der Uniklinik bleiben, neun Wochen davon auf der Kinderintensivstation.
Ihr großes Glück war, dass Prof. Christian Speer die Behandlung von Christian übernahm. Der frühere Leiter der Uni-Kinderklinik hatte sich auf Frühgeborenenmedizin spezialisiert und in Würzburg eines der größten Perinatalzentren Bayerns mitbegründet.

Speer war an der klinischen Entwicklung und Optimierung des Lungenfaktors beteiligt, des Surfactants, das vielen Frühgeborenen bei der Geburt fehlt. "Weil die Lungen noch nicht richtig reif sind, verstarben früher viele Frühgeborene an dem sogenannten Atemnotsyndrom", erläutert Speer, der auch im Ruhestand mit 72 Jahren weiterforscht.
Mit der Gabe des Surfactant, das aus Tierlungen gewonnen wird, haben Ärzte bereits über einer Million Frühgeborenen das Leben gerettet. Für seine Forschung erhielt Speer den "Maternité Prize 2014", die wichtigste Auszeichnung in der Frühgeborenenmedizin.
Jede 10. Geburt in Deutschland ist eine Frühgeburt
Jede 10. Geburt in Deutschland ist eine Frühgeburt, das sind etwa 70.000 Kinder, die vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden. "Durch die Reproduktionsmedizin und das höhere Alter der Mütter kommen Frühgeburten heute häufiger vor", erklärt Prof. Christoph Härtel, der die Kinderklinik seit 2020 leitet und sich ebenfalls in der Frühgeborenenmedizin wissenschaftlich engagiert.
Auch eine Schwangerschaftsvergiftung oder eine stille Infektion, die zu einem Blasensprung führt, können eine frühe Geburt auslösen, erklärt der Klinikdirektor. Etwa 10.000 der Frühgeborenen wiegen unter 1500 Gramm. "Neun von zehn Kindern überleben mittlerweile. Acht von zehn Kindern überleben ohne große Probleme", erklärt Härtel.

Ina Schmolke wurde lange Zeit von Schuldgefühlen geplagt. "Warum musste es zu diesem frühen Blasensprung kommen?", fragte sich die Mutter immer wieder. "Viele Mütter quälen sich ungerechtfertigterweise und haben lange Zeit Schuldgefühle. Doch die meisten Ereignisse, die zur Frühgeburt führen, sind schicksalshaft", sagt Prof. Speer.
Eltern sollen immer zu ihren Kindern dürfen
Noch heute sieht Ina Schmolke ihr Baby in seinem Wärmebettchen vor sich. "Er strampelte mit seinen noch viel zu dünnen Beinchen", erinnert sie sich. Seine Atmung wurde durch einen Sensor überwacht. Die Zeit war von sehr viel Sorge und Angst geprägt. "Es war eine wahre Berg- und Talfahrt", beschreibt sie. Mit einer solchen Situation umzugehen, fordert viel Kraft von den Eltern. "Bei uns sind Eltern keine Besucher, sondern wichtiger Bestandteil des Teams. Eltern dürfen immer zu ihren Kindern", sagt Prof. Härtel.
Neben den Inkubatoren und Brutkästen stehen heute Betten und Liegen für die Eltern. "Wir legen schon immer viel Wert darauf, dass auch sehr unreife Frühgeborene - wenn möglich - spontan geboren werden und dass die Mütter stillen", erklärt Speer. Die Frauen pumpen dazu so lange Milch ab, bis die Kleinen selbst trinken können. Der direkte Körperkontakt zu Mutter und Vater sei für die Frühgeborenen sehr wichtig.
"Es ist nicht so, dass sich der Zustand eines Frühchens kontinuierlich verbessert. Es gibt immer wieder Rückschläge, die es zu verkraften gilt", sagt Ina Schmolke. Auch finanziell ist es für die Eltern oft nicht leicht. . "Für ein frühgeborenes Kind brauchen die Eltern jährlich mindestens 5000 Euro mehr Geld im Vergleich zum Versorgungsaufwand für ein zum Termin geborenes Kind", rechnet Prof. Härtel vor.
Das Einzugsgebiet der Familien wird immer größer
Neben professioneller Unterstützung kann für Eltern eines Frühchens der Austausch mit anderen Eltern hilfreich sein, zum Beispiel schon in der Klinik. "Auch dies unterstützen wir mit Kiwi. Wir haben auch ein Haus mit 6 Zimmern und 12 Schlafmöglichkeiten für alle Eltern, die von weiter her kommen", sagt Schmolke. Das Einzugsgebiet der kleinen Patienten wird immer größer, über 100 Kilometer um Würzburg oder mehr.
Jeder noch so minimale Fortschritt gab ihr und ihrem Sohn Kraft. "Frühgeborene sind oft Kämpfer", sagt Schmolke. Ihr Sohn Christian hat im Jahr 2022 mit einer sehr guten Note sein Abitur gemacht und zwei Jahre Jura in London studiert. Bald wird er in Berlin wohnen und sein Studium fortsetzen.
Vom 12. bis 14. Oktober 2024 findet das internationale Symposium zur Früh- und Neugeborenenmedizin "Recent Advances in Neonatal Medicine" im Congress Centrum Würzburg (CCW) statt. Dieses Symposium, das vom ehemaligen Direktor der Universitätskinderklinik, Professor Christian Speer, alle drei Jahre ausgerichtet wird, feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum am Standort Würzburg.