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Würzburg
Frühchen-Medizin: Eltern sollen sich als Teil des Teams fühlen
Weltweit steigen die Erkenntnisse, wie Extrem-Frühchen am besten versorgt werden. Eines der wichtigsten Ergebnisse lautet: Eltern sollten möglichst frühzeitig und eng mit einbezogen werden.
Nicht viel größer als Mamas Hand: Moritz kam in der 23. Schwangerschaftswoche mit knapp 500 Gramm auf die Welt. Auf dem Bild ist er bereits drei Monate alt und kann soweit selbstständig atmen, dass er nur noch durch den  'Highflow'-Beatmungsschlauch unterstützt werden muss. 
Foto: Familie Rauch | Nicht viel größer als Mamas Hand: Moritz kam in der 23. Schwangerschaftswoche mit knapp 500 Gramm auf die Welt. Auf dem Bild ist er bereits drei Monate alt und kann soweit selbstständig atmen, dass er nur noch durch ...
Lucia Lenzen
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:59 Uhr

Es passiert plötzlich und unerwartet und bringt Familien an den Rand ihrer Belastungsgrenzen: In Deutschland kommen jährlich rund neun Prozent aller Kinder, also rund 70 000, zu früh auf die Welt. Würzburg gehört zu den größten Perinatalzentren Bayerns. Im Interview sprechen Professor Christian P. Speer, der ehemalige Direktor der Universitäts-Kinderklinik Würzburg und sein Nachfolger, Professor Christoph Härtel, wie in Würzburg diesen Kindern, aber auch ihren Familien geholfen werden kann. 

Professor Härtel, ab wann spricht man überhaupt von einer Frühgeburt? 

Christoph Härtel: Das ist ein Kind, das ab der vollendeten 22. Schwangerschaftswoche bis zur vollendeten 37. Schwangerschaftswoche geboren wird. Bei uns an der Universitäts-Kinderklinik Würzburg werden jedes Jahr ungefähr 400 Frühgeborene versorgt. Extrem-Frühchen, wie Moritz, mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm, gibt es rund 80 pro Jahr. 

Professor  Christian Speer.
Foto: Daniel Peter | Professor  Christian Speer.
Haben sich die Zahlen verändert in den vergangenen Jahren? 

Härtel: Ja, durch die veränderten Lebenswelten. Zum einen werden die Frauen teils immer später Mutter. Zum anderen gibt es die Reproduktionsmedizin, durch die öfter Mehrlinge zur Welt kommen. 

Was löst eine Frühgeburt aus?

Christian P. Speer: Viele Ereignisse sind schicksalshaft. So können zum Beispiel eine Schwangerschaftsvergiftung oder eine stille Infektion, die zu einem Blasensprung führt, eine frühe Geburt auslösen. 

Welche Fortschritte in der Medizin helfen Frühchen zunehmend? 

Härtel: In den 80er Jahren wurde die Surfactant-Therapie entwickelt. Dem unreifen Frühchen kann das Surfactant direkt in die Lunge gegeben werden. Dieses macht dann die Oberfläche weicher und die Lungenbläschen öffnen sich, um am Gasaustausch teilzunehmen.

Nicht zu verwechseln mit der Lungenreife-Spritze vor der Geburt...

Speer: Genau. Das ist eine bahnbrechende Entdeckung aus den 70er Jahren. Dabei werden der Mutter Glucocorticoide, also Cortison injiziert. Die gelangen über das Blut zum Fötus und beschleunigen die Lungenreifung, die eigene Surfactantproduktion des noch ungeborenen Kindes. 

Mit welchen Problemen haben die meisten Frühgeborenen zu kämpfen? 

Speer: Die Lunge und die Atemfunktion sind oft akut betroffen, in der Regel aber gut heilbar. Aber es gibt auch Folgeprobleme wie Infektionen, Hirnblutungen, chronische Probleme der Lunge oder Gedeihstörungen. Durch Forschung für Frühgeborene ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, diese Komplikationen bei vielen Extrem-Frühgeborenen zu vermeiden. 

Professor Speer, Sie haben vor 25 Jahren das internationale Symposium zur Früh- und Neugeborenen Medizin ins Leben gerufen. Alle drei Jahre findet es in Würzburg statt. Was war in diesem Jahr Thema? 

Speer: Generell geht es darum, alle drei Jahre eine Bilanz zu ziehen, wo wir in der Frühgeborenen Medizin weltweit stehen. Dieses Jahr beschäftigten wir uns unter anderem mit den kritischen ersten Lebensminuten von Früh- und Neugeborenen. Diskutiert haben 260 Teilnehmer aus 44 Nationen, mehr als 1500 Neugeborenenmediziner konnten online partizipieren. 

Professor Christoph Härtel.
Foto: Daniel Peter | Professor Christoph Härtel.
Wo steht Deutschland, wenn man die Frühgeborenen-Medizin weltweit vergleicht?  

Speer: Deutschland ist sehr weit oben in der Spitzengruppe bezüglich Langzeitgesundheit ehemaliger Frühgeborener. Als Vorbilder gelten im weltweiten Maßstab die skandinavischen Länder und Japan. 

Was wird dort anders gemacht?

Speer: In Skandinavien zum Beispiel ist die Struktur eine ganz andere. Da sind die Frühgeborenen-Zentren sehr viel zentralisierter. In Schweden gibt es zum Beispiel nur eine Handvoll Perinatalzentren der höchsten Versorgungsstufe, aber dadurch geballte Expertise vor Ort. Durch diese Erfahrung gibt es auch bessere Ergebnisse. In Deutschland sind wir da mit 163 Perinatalzentren höchster Versorgungsstufe bundesweit noch sehr viel zergliederter.  

Aber es tut sich was. Was ist in Würzburg geplant? 

Härtel: In Würzburg ist ein Frauen-Mutter-Kind-Zentrum auf dem Nordgelände des UKW geplant. 2030/2031 soll es losgehen. Da wird auch der Aspekt "Familienzimmer" eine wichtige Rolle spielen. Wenn Eltern möglichst früh Verantwortung für ihr Kind übernehmen, sich im Krankenhaus nicht als Besucher, sondern als Teil des Teams empfinden, dann können langfristig Probleme in der Eltern-Kind-Interaktion oder auch Depressionen bei Müttern nach so einer Risikogeburt verhindert werden.

Speer: Wie das aussehen kann, habe ich zum Beispiel in Südafrika erlebt. Da war es so, dass die Frühgeborenen den Müttern so oft und so lange wie möglich auf die Brust gelegt wurden. Die Kinder waren die ganze Zeit ganz nah bei den Müttern, völlig entspannt. Sozusagen Känguruhen 24 Stunden.

Härtel: Viele sehen die Neonatologie als eine technische Medizin an. Sie ist aber auch eine sprechende Medizin. Da wird täglich mit den Pflegekräften, Ärzten aber auch unterstützenden Psychologen geredet, da werden die Dinge verständlich gemacht. Das bedeutet auch ganz viel Nähe und Wärme von beiden Seiten. Wichtig ist, dass man den Eltern signalisiert: Es gibt immer professionelle Unterstützung. Vor der Geburt, aber auch danach. Egal, ob es um die Begleitung in der Entwicklung des Kindes geht, darum, wie ich Fahrtkosten zurückerstattet bekomme, wie ich mich mit anderen Eltern vernetzen kann und vieles mehr.

Wie sehr nagt die Schuldfrage an Eltern? Wie finden Eltern ihren Umgang damit?

Speer: Viele Mütter quälen sich ungerechtfertigterweise und haben lange Zeit Schuldgefühle. Wie schon erwähnt, sind die meisten Ereignisse, die zur Frühgeburt führen, schicksalshaft. 

Was ist mit Spätfolgen? Womit müssen Eltern da rechnen? 

Härtel: In Würzburg gibt es ein Team, das sich konkret darum kümmert, welche Einflussfaktoren die Entwicklung bei Frühchen positiv beeinflussen können. Man versucht, Frühgeborene sehr gut zu begleiten und zu fördern und das wissenschaftlich zu evaluieren. Aus Studien wissen wir, dass Frühgeborene eine mit Reifgeborenen vergleichbar hohe Lebensqualität haben. Als junge Erwachsene sind sie in ihrem Temperament tendenziell eher zurückhaltend und introvertiert. Deswegen haben sie gelegentlich mehr Schwierigkeiten, Freunde oder Partnerschaften zu finden. Das versuchen wir durch eine nachhaltige Förderung und Vernetzung der betroffenen Familien positiv zu begleiten. 

Zur Person

21 Jahre lang leitete Professor Christian P. Speer die Kinderklinik des Uniklinikums Würzburg. Am 30. April 2020 ging er in den Ruhestand. Als Seniorprofessor verfolgt er seitdem diverse internationale Wissenschaftsprojekte weiter. Außerdem organsiert er weiterhin das von ihm 1996 ins Leben gerufene internationalen Symposium "Recent Advances in Neonatal Medicine". 
Seit Anfang Mai 2020 leitet Professor Christoph Härtel die Kinderklinik und Poliklinik am Universitätsklinikum Würzburg. Vor seinem Wechsel nach Würzburg war Härtel als Oberarzt und außerplanmäßiger Professor an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck tätig.
Quelle: UKW
 
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