Es ist der 30. Dezember 2020, ein Tag vor Silvester. Kim Rauch steht in Weyersfeld (Lkr. Main-Spessart) in der Küche und kocht, als es nass unter ihr wird. Blasensprung. Im sechsten Monat, knapp vier Monate vor dem errechneten Geburtstermin. "Das war's jetzt", schießt es ihr durch den Kopf. Dann geht alles sehr schnell.
Ihr Mann Nico alarmiert den Rettungsdienst. Ihre fünfjährige Tochter können sie bei der Schwester unterbringen. Dann schon liegt Kim Rauch im Krankenwagen und wird von Weyersfeld in die Uniklinik nach Würzburg gefahren. Die erleichternde Nachricht dort: Ihr Kind hat noch genügend Fruchtwasser und lebt. Aber: Mit geschätzten knapp 500 Gramm ist es sehr zierlich für die 23. Schwangerschaftswoche. Als Grund für den frühen Blasensprung tippt das Klinikpersonal auf eine Infektion.
Ein Jahr später sitzt das Ehepaar Rauch in ihrem Wohnzimmer in Weyersfeld. Als sie neulich die Weihnachtsdekoration aus dem Keller geholt habe, sei bei ihr alles wieder hoch gekommen, erzählt die 34-jährige Mutter. Zum Beispiel, wie der Oberarzt damals Tacheles geredet habe. Wenn Moritz jetzt auf die Welt käme, hätte er kaum Überlebenschancen. Grund dafür seien die frühe Schwangerschaftswoche und die Infektion. Zudem müssten sich die Eltern, sollte es zur Geburt kommen, darauf einstellen, dass ihr Kind erstmal nicht wie ein Baby aussehe. "Die Augen werden zu sein, die Haut hauchdünn und durchscheinend", erklärte der Arzt.
Das Kind gibt den Weg mit seinen Lebenskräften vor
Vor allem aber mussten sie sich darauf gefasst machen: Wenn es zur unaufhaltbaren Geburt kommt, dann gibt das Kind den Weg vor – mit seinem Willen. Die Klinik unterstützt, wo es geht. Es kann aber auch der Punkt kommen, an dem Kinder keine Lebenskräfte mehr senden. An dem die Medizin statt lebenserhaltender Maßnahmen das Abschiednehmen begleiten muss.
Es folgten lange Tage des Wartens und des Hoffens im Krankenhaus. Mit jedem Tag, mit jeder Stunde im Mutterleib hatte Moritz mehr Chancen zu überleben. Nach einer Woche stiegen die Entzündungswerte von Kim Rauch. In der Nacht kamen erste Wehen. Doch Moritz ließ sich Zeit. Erst am übernächsten Morgen setzten Presswehen ein. Und mit ihnen kam Moritz. Am 7. Januar 2021 um 8.15 Uhr, sieben Tage nach Blasensprung, war er da. Und sofort wieder weg. "Sobald er draußen war, drückte jemand einen Notknopf, ein Alarm ging los und Moritz wurde mitgenommen", erinnert sich Kim Rauch. Sie selbst war einfach nur erleichtert. Allerdings nur für den Moment, denn die Nachgeburt gestaltete sich kompliziert. Sie musste schließlich unter Vollnarkose entfernt werden.
Einzige Perspektive: Von Tag zu Tag schauen
Als die Mutter aufwachte, lag ihr Sohn neben ihr. Gerade mal so groß wie ein DIN-A-4-Blatt, mit 450 Gramm kaum so schwer wie zwei Päckchen Butter. "Er war so groß wie die Hand meines Mannes", sagt Kim Rauch. Das Kind war kaum zu finden unter all den Schläuchen und Kabeln: In der Nase steckte die Beatmung, im Mund die Magensonde, am Fuß das Messgerät für die Sauerstoffsättigung. Eingepackt war das Baby in eine Folie, die seine Haut feucht halten sollte. So legte es ihr der Arzt mit Hilfe von Schwestern auf die Brust. "Im Vorhinein hatte ich Angst, ob ich ihn überhaupt anschauen kann", sagt die Mutter. Jetzt, wo er vor ihr lag, so klein, so zerbrechlich, aber lebendig, da wusste sie: Das ist ihr Sohn, und er hat schon jetzt einen Platz in ihrem Herzen.
Aber das Leben von Moritz hing am seidenen Fädchen. "Wir konnten nur von Tag zu Tag schauen", sagt Nico Rauch. Ein großes Risiko waren Hirnblutungen. Auch Moritz Lunge wollte nicht selbstständig arbeiten. Nach anderthalb Monaten wurde das Baby vom Perinatalzentrum, also der Früh- und Neugeborenenstation, auf die Intensivstation der Kinderstation verlegt. Mittlerweile brachte es 700 Gramm auf die Waage. Mehr und mehr wehrte sich der kleine Körper gegen den Tubus im Hals. Moritz wollte selbstständig atmen – und konnte es. "Den Tubus loszuwerden, war ein Erfolgserlebnis", erinnern sich die Eltern. Ganz ohne Unterstützung ging es aber noch nicht. Über eine Nasenmaske bekam Moritz noch zusätzlich Sauerstoff.
Mit winzigen Schritten ging es bei Moritz voran. Der Rest der Familie aber stand kurz vor dem Zusammenbruch. "Ich bin Frühs mit Milch-Abpumpen in den Tag gestartet, habe dann meine Tochter in den Kindergarten gebracht und bin zu Moritz gefahren", sagt Kim Rauch. Ihr Mann arbeitete zu dem Zeitpunkt nur in der Frühschicht, holte die Tochter später ab und fuhr dann abends oft noch einmal nach Würzburg zu seinem Sohn. "Nach anderthalb Monaten waren wir total durch", erzählt der 40-Jährige. Um wieder zu Kräften zu kommen, einigten sie sich, dass sie nur noch unter der Woche zu Moritz fuhr, er nur am Wochenende.
Erleichtert, überglücklich, aber auch überrollt von der Achterbahn der Gefühle
Nach drei Monaten hatte sich die Lage deutlich entspannt: Moritz konnte mittlerweile ohne Unterstützung atmen. Er hatte nur noch eine Leistenbruch-OP vor sich, dann sollte er bald nach Hause dürfen. "Einige Tage vorher habe ich dann gemerkt: Er atmet komisch", sagt die Mutter. Sein Herzschlag wurde unregelmäßig, er hatte Atemaussetzer. Moritz bekam wieder Atemunterstützung. Die Eltern sollten nach Hause fahren. Um vier Uhr klingelte das Telefon: Moritz hatte sich einen Keim eingefangen.
Die Ärzte sagten, es sehe nicht gut aus. Moritz bekäme zwar Medikamente, doch bis diese wirkten, dauere es. Am Abend wurde Moritz wieder intubiert. An seinem Bett sitzend, musste Nico Rauch beobachten, wie auf dem Monitor plötzlich die Sauerstoffsättigung fiel. "Moritz ist vom Kopf her blau angelaufen." Im nächsten Moment begannen die Ärzte damit, Moritz wiederzubeleben. Der Vater brach zusammen. Kurze Zeit später telefonierte er mit seiner Frau. Auch sie brach zusammen. Zwei Stunden zitterten sie. Dann kam die Nachricht: Der Zustand hatte sich stabilisiert. Moritz werde beatmet, überwacht und mit Kopfhörern abgeschirmt von jeglichem Stress.
"Drei Tage hat es gedauert, dann war wieder alles gut", sagt Kim Rauch. Fast hätten sie Moritz nach all der Anstrengung dennoch verloren. Die Eltern waren erleichtert, überglücklich, aber auch überrollt von der Achterbahn der Gefühle.
Danach ging es nur noch bergauf: Anfang April konnte Moritz bereits alleine von ihrer Brust trinken. Am 5. Mai hatte er seinen ursprünglich errechneten Geburtstermin erreicht. "Das Ziel der Ärzte war es, ihn ohne Monitorüberwachung und Sauerstoffunterstützung nach Hause entlassen zu können", so Nico Rauch. Am 21. Mai war es so weit: Nach viereinhalb Monaten im Krankenhaus durfte Moritz mit seiner Familie nach Hause nach Weyersfeld.
Was bleibt von der Frühgeburt?
Mittlerweile ist Moritz seit elf Monaten auf der Welt. In seiner Entwicklung ist er so weit wie ein sieben Monate altes Baby. Also so weit, wie er wäre, wäre er an seinem errechneten Termin im Mai auf die Welt gekommen. Laut Kinderarzt ist Moritz genau im Soll. Er habe lediglich mehr "Lebenserfahrung", was eine Bereicherung sein könne, erzählen die Eltern. Was von der Frühgeburt bleibt? Die Lunge ist geschwächt, die Augen müssen regelmäßig kontrolliert werden. Moritz wird die nächsten Jahre mehr und schneller außer Puste sein, als andere. Aber: Er kann sein Lungenvolumen als Erwachsener trainieren, so dass er keine dauerhaften Nachteile haben wird, sagt der Vater.
Was besonders Mutter Kim am Herzen liegt: Der Austausch mit anderen Eltern, die ähnliches durchgemacht haben. "Wir waren so unwissend, haben jeden Tag nur noch funktioniert", sagt sie. Dabei gebe es so viele, denen es ähnlich geht oder gegangen ist. "Das gibt auch Hoffnung, wenn man Fotos sieht von Frühchen, die mittlerweile zwei oder die Jahre alt sind und denen es gut geht." Deswegen ist sie auch auf Instagram aktiv, weil sie ihre Erfahrungen teilen möchte. Und weil sie anderen Mut machen will, dass es zu schaffen ist.
Ein ganz besonderes Weihnachten steht bevor
Unendlich dankbar sind sie dem gesamten Team der Frühgeborenen-Station der Uniklinik Würzburg. Nicht nur Schwestern, Pfleger und Ärzte unterstützten sie, sie bekamen auch eine Psychologin an ihre Seite. "Sie war beispielsweise neben mir, als ich das erste Mal am Inkubator stand", sagt Kim Rauch. Das habe ihr sehr geholfen. Unheimlich wertvoll war auch, dass in den ersten Tagen mit Moritz zuhause über die Initiative "Bunter Kreis" Krankenschwestern der Stationzur Hilfe kamen. Unterstützung gibt auch der Verein Kiwi e.V. und der Bundesverband "Das frühgeborenen Kind". Ein wertvoller Tipp sei zudem, dass Kinder, die viel zu früh auf die Welt kommen, ein Recht auf Frühförderung haben. Kim und Nico Rauch raten, diese sobald wie möglich mit ins Boot zu holen.
Was in dem Jahr passiert ist, welche Höhen und Tiefen sie durchlebt haben und wieviel Glück sie und vor allem Moritz immer wieder gehabt haben – das alles sickert erst so langsam bei Nico und Kim Rauch durch. Immer wieder schauen sie sich das Foto-Album an, indem sie die bewegenden ersten Monate mit Bildern und Texten festgehalten haben. Moritz' erste Mütze, so groß wie ein Eierwärmer. Seine Preis-Schleife vom Krankenhaus, als er die 1000 Gramm geknackt hat. Und dann schauen sie auf ihren Sohn, wie er auf der Krabbeldecke liegt und vergnügt auf den Boden patscht.
Dass sie Heilig Abend und Silvester dieses Jahr mit ihren beiden Kindern feiern können – es ist für Familie Rauch ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk.