Jetzt muss er loslassen. Muss "seine“ Kinderklinik in neue Hände geben. Zu sagen, dass ihm das schwer fällt, wäre eine Untertreibung. Tatsächlich hängt Professor Dr. Christian Speer, der langjährige Leiter der Würzburger Uni-Kinderklinik, so sehr an seinem Beruf, dass er den eigentlich vor drei Jahren anstehenden Abschied von seinem Haus zwei Mal verschoben, zwei Mal eine Vertragsverlängerung erwirkt hat.
Aber jetzt muss es sein. Zum 30. April geht Klinikleiter Speer, verdienter und preisgekrönter Mediziner und Forscher, mit fast 68 Jahren tatsächlich in den Ruhestand.
21 Jahre lang hat Professor Speer die Geschicke der Würzburger Uni-Kinderklinik bestimmt
Für die Uni-Kinderklinik ist es das Ende einer Ära. 21 Jahre lang hat Speer die Geschicke des Hauses in der Würzburger Josef-Schneider-Straße bestimmt. Das Herz des Arztes hing dabei immer besonders an der Neonatologie, der Früh- und Neugeborenenmedizin.
Als Speer 1999 von der Uni-Kinderklinik Tübingen als Klinikchef nach Würzburg kam, brachte er aus seiner bisherigen Forschungstätigkeit Spezialwissen bei der Anwendung des Lungenreifungsmittels Surfactant mit. Das Präparat, das Mitte der 90er Jahren in der Neonatologie Einzug hielt, ist auch heute noch für viele Frühgeborene lebensrettend.
Zu den ersten Neuerungen, die unter Speers Leitung durchgeführt wurden, gehörte die Einrichtung eines Perinatalzentrums in der Uni-Frauenklinik. Während zuvor kleinste Frühgeborene mit dem Rettungswagen von der Frauen- in die Kinderklinik transportiert werden mussten, lagen nun zwischen Kreißsaal und der Intensiveinheit für die Frühgeborenen nur wenige Schritte. Dies verringerte das Risiko für Komplikationen wie Hirnblutungen.
In den zwei Jahrzehnten der Ära Speer hat sich die Chance für kleine Frühgeborene, gesund zu überleben, deutlich erhöht. Das liege, sagt der 68-jährige Mediziner, auch daran, dass die Neonatologen mittlerweile minimalinvasiver arbeiten als früher: "Wir haben gelernt, mit weniger Mitteln mehr zu erreichen.“ Auch, weil mittlerweile auch manch selbstatmenden Frühchen Surfactant gegeben werde, seien die meisten Frühgeborenen ab der 28. Schwangerschaftswoche nach sieben Tagen "komplett aufgebaut“. Sie könnten über Sonden und nicht mehr über Venenzugänge ernährt werden, was das Risiko für Infektionen gesenkt habe. Ihre Chancen, sich genauso gut zu entwickeln wie sie es als Reifgeborene getan hätten, stehen, sagt Speer, also sehr gut.
Prognosen für Winzlinge mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm sind günstig
Und die Frühchen jünger als 28 Wochen, die ganz Kleinen ab der 23. oder 24. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von 500 bis 1500 Gramm? Für 80 bis 90 Prozent von ihnen seien die Prognosen mittlerweile günstig, sagt Speer. Er betont aber, dass die Würzburger Uni-Kinderklinik nie zu jenen Einrichtungen gehört habe, deren Ehrgeiz es sei, auch das unreifste Kind, geboren etwa in der 22. Schwangerschaftswoche, am Leben zu erhalten. Tue man das, zahlten Eltern und das möglicherweise lebenslang schwerstpflegebedürftige Kind dafür einen sehr hohen Preis. Speer sagt: "Wenn ein Kind das Signal gibt, dass es nicht die Kraft hat zu leben, dann respektieren wir das.“
Neben der Neonatologie genießt national und international auch das Würzburger Stammzelltransplantationszentrum einen ausgezeichneten Ruf. Er habe es damals, als er nach Würzburg kam, "zur Bedingung meines Rufs gemacht, dass ein solches Zentrum errichtet wird“. In Tübingen habe er gesehen, "dass dadurch schwer krebskranke Kinder überleben konnten, die sonst keine Chance gehabt hätten“, sagt Speer. 2005 wurde das Würzburger Stammzelltransplantationszentrum aus der Taufe gehoben, aktuell werden hier jährlich 20 Kinder und mehr als 250 Erwachsene behandelt.
Wenn er auf seine Jahre als Klinikleiter zurückblickt, verweist Speer auch gern darauf, dass sich die Würzburger Kinderklinik bei der Therapie von zystischer Fibrose und von Rheuma und bei der Immunologie-Forschung zu einem der bedeutendsten deutschen Zentren entwickelt habe.
Während Ärzte bei der Therapie eines unreifen Frühchens oder eines schwerkranken Kindes vor allem auf Behandlungserfolge und Heilungsfortschritte schauen, steht für Eltern oft genug die Angst um ihr leidendes Kind und die Verzweiflung wegen der Krankheit im Vordergrund. Diesen Unterschied in der Perspektive zu respektieren, war Klinikleiter Speer immer wichtig. Er sei froh , dass die Elterninitiative tumor- und leukämiekranker Kinder so gut auf die psychosozialen Belange von Eltern und Geschwistern erkrankter Kinder eingehe, sagt Speer. Das gleiche Engagement bewundere er bei der Elterninitiative KIWI, die Eltern von Frühchen begleitet. Den Kindern und ihren Familien durch Begleitung auf Augenhöhe das Ertragen von Krankheiten leichter zu machen - Speer war es stets ein Anliegen.
Seniorprofessur zum Abschied: Speer lehrt nicht mehr, aber wird noch forschen
Jetzt muss er sich der Klinik entwöhnen. "Auch in den letzten Jahren hatte ich oft eine Siebentage-Woche, das hat meine Frau mittragen müssen“, sagt Speer. Direkt zum Ruhestandsbeginn hatte er deshalb eine gemeinsame kulturhistorische Reise nach Sizilien geplant. Sie fällt wegen Corona jetzt aus. Was dem Arzt und Wissenschaftler bleibt: eine Seniorprofessur, bei der er zwar nicht lehren, aber doch forschen kann.
Tatsächlicher Ruhestand? Für einen extrem engagierten Klinikleiter offenbar die härteste Herausforderung.