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Würzburg
Hirnforscher Gerald Hüther: Wie uns die Informationsflut verwirrt und warum sie die Streitkultur vergiftet
Shitstorm statt Argumente – immer heftiger wird in sozialen Medien gestritten. Verlernen wir, vernünftig miteinander zu reden? Wo der Neurobiologe die Probleme sieht.
Gerald Hüther, Neurobiologe und Hirnforscher, beklagt die Informationsflut und den Verlust an guter Kommunikation. Jetzt kommt er zu einer Podiumsdiskussion nach Würzburg.
Foto: Wolfgang Würker | Gerald Hüther, Neurobiologe und Hirnforscher, beklagt die Informationsflut und den Verlust an guter Kommunikation. Jetzt kommt er zu einer Podiumsdiskussion nach Würzburg.
Andreas Jungbauer
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:08 Uhr

Hass und Hetze nehmen zu, befeuert durch Halbwahrheiten und Falschinformationen. Über soziale Medien schaffen sich manche Gruppen ihre ganz eigenen Realitäten. Informationsflut, (zu) einfache Lösungen, Polarisierung, Spaltung: Wie gefährlich ist das für Einzelne und die Gesellschaft? Und wie kommen wir wieder besser ins Gespräch? Dieser Frage geht eine Veranstaltung der Würzburger Erwachsenen-Bildungshäuser in Kooperation mit der Main-Post am Montag, 10. Oktober, nach.

Mit dabei: der bekannte Hirnforscher und Publizist Gerald Hüther. Der 71-jährige Wissenschaftler aus Göttingen warnt vor der Informationsflut und einer vergifteten Streitkultur. Ein Gespräch über Probleme und Möglichkeiten der Kommunikation heute – und was wir verloren haben.

Frage: Herr Hüther, ich will mit Ihnen sprechen. Ist das denn wirklich so viel schwieriger geworden?

Gerald Hüther: Sie und ich haben eine Meinung. Wenn wir sie uns jeweils aufzwingen wollen, haben wir ein Problem. Leider ist das oft so. Die andere Möglichkeit wäre, dass wir uns die eigenen Meinungen vorstellen und schauen, ob das nicht zusammenzubringen ist. Im besten Fall erweitern wir uns beide, das ist der Sinn von Kommunikation.

Leider kommen Menschen unterschiedlicher Auffassungen heute weniger gut ins Gespräch. 

Hüther: Ja, die Leute überfallen sich teilweise mit ihren Meinungen. Sie identifizieren sich mit ihren Vorstellungen und wollen sich durchsetzen. Das prägt unsere Gesellschaft. Statt zuzuhören sind wir ständig mit uns selbst beschäftigt. 

Über soziale Medien, zum Beispiel Telegram-Gruppen, kapselt man sich ab und bestärkt sich nur innerhalb der Gruppe. Wie problematisch ist das?

Hüther: Die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten sind ja nicht per se verwerflich. Es war auch nicht günstig, als noch ein oder zwei Leitmedien die Meinung im Land bestimmt haben. Über die sozialen Medien finden auch Menschen zusammen und unterstützen sich. Was wir aber verloren haben, ist ein gemeinsames Anliegen. Die Gesellschaft ist zerfallen in lauter Partikularinteressen, in einzelne Gruppen. Innerhalb derer bestärkt man sich, dass die eigene Meinung die richtige sei. Und diese Gruppen gehen dann aufeinander los und bekämpfen sich. Weil die Einzelnen sich so stark mit den Überzeugungen identifizieren, ist das teilweise wie Krieg. Daraus resultieren dann Wut und Mobbing, Hass und Hetze.

"Was wir verloren haben, ist ein gemeinsames Anliegen."
Neurobiologe Gerald Hüther
Haben die sozialen Medien dieses Phänomen bestärkt oder gar erst ermöglicht?

Hüther: Als wir die sozialen Medien noch nicht hatten, war jemand mit einer etwas seltsamen Meinung allein auf der Welt. Er hat keine Gleichgesinnten gefunden und am Ende an seinen eigenen Vorstellungen gezweifelt. Das war ein Regulativ. Verrückte Ideen konnten sich nicht lange halten, weil sie sich nicht verstärken konnten. Heute ist das anders. Wenn irgendeiner eine abstruse Vorstellung in die digitale Welt setzt, kann er leicht hunderte oder tausende Anhänger finden. Sie bestärken sich untereinander und die verschiedenen Gruppen prügeln aufeinander ein.

Wie bewusst machen das die Leute? Oder werden wir durch Algorithmen manipuliert?

Hüther: Das menschliche Gehirn strukturiert sich anhand von Lösungen. Das heißt: Menschen haben Probleme und finden dann im Netz irgendeine Erklärung, die ihre Verwirrung mindert. Und dann verbreiten sie diese vermeintliche Lösung weiter. Die Algorithmen, die auf den Einzelnen zugeschnittene Botschaften ausspielen, befördern natürlich eine verzerrte Wahrnehmung: Man sei die Mehrheit, habe Recht und die anderen seien alle blöd. Damit bekommt der Prozess von Polarisierung und Spaltung eine ganz andere Dynamik und Kraft.

Ist das eine Gefahr für die Demokratie?

Hüther: Das ist ja nicht mit allen machbar, sondern nur mit Menschen, die leicht manipulierbar sind. Andere werden von den Algorithmen weniger berührt. Man muss sich allerdings die Frage stellen: Wie konnten wir eine Gesellschaft werden, in der so viele Menschen manipulierbar sind?

Wie lautet die Antwort? Wie kann ich mich davor schützen?

Hüther: Sie wären schon recht gut geschützt, wenn Sie in Ihrem Elternhaus, in der Schule und später im Berufsleben immer wieder die Erfahrung machen konnten, dass Sie etwas gestalten können. Wenn Sie aber immer nur lernen, dass sich ihre eigenen Vorstellungen nicht umsetzen lassen und dass Sie funktionieren sollen, wie andere das vorgeben – dann macht dies zwangsläufig anfällig für Manipulation. Sie werden dann Ihre Neugier, Ihre Entdeckerfreude und Gestaltungskraft im Gehirn hemmen und leicht irgendwelchen Verführern folgen.

Sie haben am eigenen Leib erfahren, wie Gruppen in sozialen Medien über einen herfallen können.

Hüther: Ich wollte in der aufgeheizten Impfdebatte aus der Haltung eines Friedensstifters heraus etwas beitragen, dass sich Gegner und Befürworter besser verstehen – und habe einen entsprechenden Post auf Facebook abgesetzt. Das Ergebnis war, dass ich für beide zum Feind geworden bin und massiv beschimpft wurde. Meine Bemühung war also nutzlos. Ich habe daraufhin meinen Facebook-Account gelöscht.

Sind Sie anderweitig in sozialen Medien aktiv?

Hüther: Ich bin dann auf Twitter gegangen und äußere mich dort. Da scheint es mir weniger heftig mit so furchtbar wichtigtuerischen Gegendarstellungen. Facebook habe ich als in hohem Maße destruktiv erlebt. Man lernt nichts voneinander, sondern bekämpft sich gegenseitig.

Hirnforscher Gerald Hüther beobachtet eine getriebene, zunehmend aufgeheizte Gesellschaft, in der die Streitkultur und die konstruktive Meinungsbildung leiden.
Foto: Wolfgang Würker | Hirnforscher Gerald Hüther beobachtet eine getriebene, zunehmend aufgeheizte Gesellschaft, in der die Streitkultur und die konstruktive Meinungsbildung leiden.
Ihr neues Buch – zusammen veröffentlicht mit dem Journalisten Robert Burdy – heißt "Wir informieren uns zu Tode". Geht's nicht eine Nummer kleiner?

Hüther: Nein. Ich bin ja Biologe. Nichts in der Natur könnte leben, wenn es nicht einen verlässlichen Austausch von Signalen gäbe. Wenn das nicht mehr funktioniert, ist das der Untergang. Wir haben es mittlerweile sehr weit getrieben: In der Flut von Informationen ist nicht mehr erkennbar, was eigentlich wichtig ist. Dazu kommt die Tendenz von Medien, jede beliebige Nachricht emotional aufzuladen und aufzupeitschen. Oft ist die Information dahinter lächerlich. Die ständige Zuspitzung schafft ein gesellschaftliches Klima, das nicht gesund ist.

"Wir können das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen unterscheiden."
Gerald Hüther, Hirnforscher und Publizist
Und wir finden keinen Umgang mit dieser Informationsflut?

Hüther: Wir finden nicht mehr heraus und können uns gegenseitig nicht mehr über das informieren, was wirklich wichtig ist. In dieser Flut geht alles unter. Und weil alles so schnell abläuft, nehmen wir Inhalte nicht mehr richtig war – regen uns aber trotzdem sofort darüber auf. Wir können das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen unterscheiden, ein Informationsaustausch ist kaum mehr möglich. Das ist der Tod. Damit laufe ich in jede Falle hinein.

Sind wir ständig in falscher Sorge, etwas zu verpassen?

Hüther: Die einen haben Angst, nicht wichtig genug zu sein – sie verbreiten Informationen. Die anderen haben Angst, etwas zu verpassen – sie saugen Informationen auf. Hinter beiden Gruppen steht Angst. Und im Zustand der Angst ist der Mensch auf den Anteil des Gehirns zurückgeworfen, den wir mit den Reptilien gemeinsam haben. Wir verlieren die Kontrolle über uns selbst. Leider wird Angst durch viele Medien noch geschürt, sie können ihre Produkte dann besser verkaufen. Und schließlich gibt es die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Die sozialen Medien haben die Möglichkeit geschaffen, dass sich jeder – auch der Dümmste – Geltung, Anerkennung und Bewunderung verschafft. Wer sich aber so in der Öffentlichkeit vermarktet, wird sein Selbstbild verteidigen wollen. Veränderungen der eigenen Haltung lässt man weniger zu – das sind hoffnungslose Verwicklungen, die natürlich jede Kommunikation mit anderen stören.

Klingt nach asozialen Medien.

Hüther: Asoziale Medien gibt es nur in einer asozial gewordenen Gesellschaft. Ich habe keine Lust, per se den Medien die Schuld zu geben. Sie konnten sich in dieser Weise nur ausbreiten und dominant werden, weil wir eine Gesellschaft geworden sind, die kein gemeinsames Anliegen mehr hat. Wir haben nichts mehr, das wir gemeinsam wollen.

Wo ist denn ein Ausweg aus dem ganzen Dilemma?

Hüther: Wenn es so ist wie beschrieben, dann müssen wir unsere eigene Bedürftigkeit überwinden. Oder mit Kant: die Herausführung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Deshalb heißt die Antwort auf Ihre Frage: Freiheit. Wir müssten endlich lernen, selbstbestimmt mit der erkämpften Freiheit umzugehen und mit der Verantwortung, die sich aus ihr ergibt.

Veranstaltungstipp: "Meinungsbild und Streitkultur: Wie wir miteinander kommunizieren (sollten)" - Podiumsdiskussion mit Hirnforscher Gerald Hüther, dem Würzburger IT-Fachanwalt Chan-jo Jun (er hat Facebook verklagt) und  Jennifer Danquah, Bildungswissenschaftlerin an der Uni Würzburg und Expertin für Rassismuskritik. Die Veranstaltung am Montag, 10. Oktober, beginnt um 19 Uhr im Generationen-Zentrum Matthias Ehrenfried,  Bahnhofstraße 4-6 in Würzburg.  Eintritt 6 Euro, ermäßigt 4 Euro. Weitere Veranstalter sind Akademie Domschule, Kolping-Akademie, Rudolf-Alexander-Schröder-Haus, VHS Würzburg & Umgebung und Akademie Frankenwarte in Kooperation mit der Main-Post. Moderation: Andreas Jungbauer (Main-Post).

 
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Kommentare
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  • FischersFritz
    Die entscheidende Frage ist doch (Zitat): „Wie konnten wir eine Gesellschaft werden, in der so viele Menschen manipulierbar sind?“

    Und nur falls wir darauf die richtige Antwort finden, haben wir überhaupt eine Chance …

    Ich persönlich verstehe nicht, weshalb in dieser Diskussion niemand auf unser Bildungssystem schaut. Die Fähigkeiten, um Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu validieren, sollten primär in der Schule vermittelt werden.

    Aber stattdessen werden junge Menschen durch überfrachtete Lehrpläne geschoben – und einige kommen durch, ohne jemals die Fähigkeit entwickelt zu haben, das in der Schule erworbene Wissen als Korrektiv ihrer eigenen Filterblase zu nutzen …

    Wer zum Beispiel 2022 glaubt, die Erde sei eine Scheibe, bei dem hat das Bildungssystem versagt! Weil er in Physik alle Grundlagen vermittelt bekommen hat, weshalb das nicht stimmen kann – aber er nicht in der Lage ist, das Wissen im Rahmen selbstständigen und kritischen Denkens zielgerichtet anzuwenden …
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  • ralfestenfeld@aol.com
    Herr Hüther hat Recht: es fehlt vielen, und es werden immer mehr, das gemeinsame Anliegen = oder besser gesagt (meine Meinung) der Zusammenhalt. Das ist allerdings kein Wunder angesichts der Tatsache, dass immer mehr Probleme auftauchen, die existenzbedrohend sind für eben diesem Zusammenhalt. Da spielen die Medien natürlich eine Rolle. Und der Begriff "sozial" war von Anfang an falsch, wie er eher "individuell" ausgeprägt war und ist. Ein Diskussion darüber ist gut - somit viel Erfolg für Ihre Veranstaltung! Hass und Hetze werden damit nicht verhindert, denn die waren schon immer da, haben jetzt jedoch durch individuelle Medien Ihre Präsenz manifestiert.
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  • Petsch06120702
    Wahre Worte Herr Hüther. Ich erlebe es jeden Tag auf YouTube. Die sozialen Medien, sind eine Gefährdung der Demokratie. Was da an Verdrehung der Tatsachen stattfindet, ist schon kriminell. Außerdem wahnsinnige Propaganda.
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  • MedDeeg@web.de
    Zur "Podiumsdiskussion": diese will einerseits offenbar eine informative Meta-Ebene einnehmen, bietet dann aber doch wieder nur Leuten wie dem quirligen "IT-Fachanwalt" ein Forum, dessen Meinungen und Framing hinlänglich bekannt sind und nichts Neues bieten.

    Wird vermutlich ein kritikloses lauschiges Zusammensein, bei welchem man sich gegenseitig in dem bestätigt, was man ohnehin weiß.
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  • MedDeeg@web.de
    Bei vielem kann man Hüther zustimmen.

    M.E. geht es jedoch oft nicht um "Meinungen" sondern schlichtweg um Macht. Und darum, wer die Deutungshoheit - und damit die "Deutungsmacht"- hat.

    Es war über Jahrzehnte sehr einfach und ist für Journalismus und Strukturen irgendwann selbstverständlich geworden, Kritik und auch differenzierte "andere" Meinungen abzutun, zu ignorieren und die Betreffenden in irgendwelche Ecken zu stellen.

    Das rächt sich nun, da diese Form der Ausgrenzung und Stigmatisierung viele geprägt hat und die sozialen Medien die Möglichkeit bieten, selbst Meinungsmacht auszuüben.

    Die Auswüchse sind sicher zum Teil da, vor allem in den Blasen - man sollte aber nicht erneut den Fehler machen, alles unter dem Etikett "Hass und Hetze" abzutun, was den Institutionen und Strukturen nicht passt.

    Fakt ist auch, dass Missstände und Fehler, die zuvor vertuscht, geleugnet oder bagatellisiert werden konnten, inzwischen aufgedeckt werden. Das gefällt natürlich nicht jedem!
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