Der 11. September 1924 war ein spätsommerlicher Donnerstag. Der 37-jährige Finanzbeamte Adelbert Gümbel stand – zusammen mit Hunderten anderen Schaulustigen – am frühen Morgen im Ringpark. Die Polizei hatte Absperrungen errichtet. Alle wussten, dass sie nichts sehen würden, wenn der Raubmörder Otto Ratzinger im Hof des Gefängnisses in der Ottostraße mit der Guillotine hingerichtet würde. Und doch waren sie da, denn zumindest gab es etwas zu hören.
Tatsächlich vernahm Gümbel, wie er später in sein Tagebuch schrieb, um 6.30 Uhr die von ihm als "Armesünderglöcklein" bezeichnete Totenglocke, geläutet von einem Gefängnisbeamten, ebenso wie diverse Gebete. Dann "ein dumpfer Fall" – das Fallbeil war heruntergesaust und der Kopf des Mörders war vom Körper getrennt worden. Die Hinrichtung samt Vorbereitung hatte nur kurz gedauert.
Johann Reichhart erhielt 150 Goldmark pro Hinrichtung
Scharfrichter Johann Reichhart war 31 Jahre alt, als er die am Vortag per Bahn aus dem Strafgefängnis München-Stadelheim antransportierte offizielle bayerische Guillotine im Würzburger Gefängnishof bediente. Der stets im schwarzen Gehrock auftretende gelernte Metzger übte das Amt erst seit April jenes Jahres aus, bestellt vom bayerischen Justizminister.
Je Hinrichtung erhielt er, der einzige Scharfrichter Bayerns, 150 Goldmark, zehn Mark Tagesspesen und kostenlose Eisenbahnfahrkarten dritter Klasse für die Anreise aus seinem Wohnort Neubiberg. Zwei Gehilfen gingen ihm zur Hand.
Die Nacht vor der Hinrichtung verbrachte Reichhart gewöhnlich vor Ort im jeweiligen Gefängnis; durch das Guckloch in der Zellentür nahm er, wie er es immer tat, auch in Würzburg den Delinquenten in Augenschein, einen 23-jährigen Schlosser, der in Bad Brückenau einen Kurmusiker ermordet und ausgeraubt hatte. Der Blick durch die Tür sollte sicherstellen, dass Reichhart aus seiner Sammlung das richtige Fallbeil für die staatlich angeordnete Tötung auswählte.
Diese fand in der Anwesenheit von Zeugen statt: Zwölf sogenannte "Urkundspersonen" hatte der Stadtrat bestimmt, darunter auch einige Mitglieder des Gremiums selbst. Außerdem waren unter anderem ein Staatsanwalt, zwei Landgerichtsräte sowie Polizei- und Gefängnisbeamte und ein Redakteur der Tageszeitung Würzburger General-Anzeiger dabei. Da das Blatt damals am Nachmittag erschien, war sein Bericht noch am selben Tag zu lesen.
Religiöse Rituale spielten bei der Hinrichtung eine große Rolle
Der Artikelautor hatte sich die letzte Nacht Otto Ratzingers schildern lassen. Diese verbrachte er in der sogenannten "Armesünderzelle" mit Justizbeamten, mit denen er Mühle spielte. Vor Sonnenaufgang nahm er an einer extra für ihn zelebrierten heiligen Messe in der Gefängniskapelle teil und empfing die Kommunion. Religiöse Rituale spielten bei der Hinrichtung überhaupt eine große Rolle. Im Gefängnishof stand ein Kruzifix auf einem weißgedeckten Tisch, flankiert von brennenden Kerzen.
Pünktlich um 6.30 Uhr wurde Ratzinger, angetan mit dem "Armesünderhemd", in den Hof geführt, begleitet von zwei Geistlichen, die Sterbegebete sprachen, sowie dem Landgerichtsarzt und dessen Assistenten. Der Gerichtsschreiber verlas das vom Schwurgericht ausgesprochene Todesurteil, worauf Ratzinger mit den Geistlichen noch ein Vaterunser betete.
Dann übergab der Staatsanwalt den Todeskandidaten dem Scharfrichter, dessen Gehilfen ihm die Augen verbanden. Das an der Hofmauer angebrachte Armesünderglöcklein begann zu läuten.
Als er, mit dem Kopf nach unten, auf dem Brett der Guillotine lag, hielt Ratzinger das Kruzifix in der Hand. "Bitte, Herr Scharfrichter, geben Sie das Kreuz meiner Mutter" waren seine letzten Worte. Dann betätigte Johann Reichhart einen Hebel und löste das Fallbeil. Anschließend wurden Kopf und Körper in einen einfachen Sarg gelegt. Nach der Aussegnung durch den Gefängnisgeistlichen brachte ein Lastauto den Sarg zur Anatomie.
Das Fallbeil war aus Sicherheitsgründen auf der Festung verwahrt
Die Vollstreckung von Todesurteilen war in Würzburg lange ein Spektakel für jedermann gewesen. Bis 1859 fanden Hinrichtungen mittels Galgen auf dem Galgenberg statt. Bei der letzten Hinrichtung war laut dem Autor Thomas Memminger "ganz Würzburg auf den Beinen. Die Eltern nahmen auch ihre Kinder zur Abschreckung mit auf den Galgenberg, wo, wie bei einem Volksfest, fliegende Kantinen aufgeschlagen waren." Bis 1754, als er zu einem Exerzierplatz umgestaltet wurde, hatte ein Galgen auch auf dem Sanderrasen gestanden.
Nach der Abschaffung des öffentlichen Hängens gab es in Würzburg gelegentlich Hinrichtungen per Fallbeil vor kleinerem Publikum im Hof des Gefängnisses in der Ottostraße, letztmals 1901. Damals verfügte Würzburg noch über eine eigene Guillotine, deren Gerüst auf dem Dachboden des Gefängnisses stand. Flaschenzug und Fallbeil befanden sich allerdings nicht hier. Der Flaschenzug war im Grafeneckart verwahrt, das Fallbeil aus Sicherheitsgründen auf der Festung. Erst am Tag vor der Hinrichtung wurden sie geholt und danach sofort wieder zurückgebracht.
Von der Scharfrichtertätigkeit konnte Reichhart seine Familie nicht ernähren
In der ersten Phase der Weimarer Republik galt in Bayern das Erschießen als gesetzliche Tötungsmethode. Tatschlich starben 1920 und 1921 drei zum Tod verurteilte Raubmörder auf dem Schießplatz bei Kist. Ab 1924 trat wieder die Guillotine in Aktion, wobei es bayernweit jetzt allerdings nur noch eine gab, die in München gelagert wurde.
Johann Reichhart vollzog 1924 sieben Hinrichtungen, in den nächsten Jahren meist weniger; möglicherweise trat er auch noch einmal in Würzburg in Aktion.
Da er von der Scharfrichtertätigkeit seine Familie nicht ernähren konnte, ergriff er nacheinander verschiedene Nebenbeschäftigungen; unter anderem pachtete er ein Restaurant, verkaufte katholische Traktate in Oberbayern und betrieb in Den Haag – wo er im Fall einer geplanten Hinrichtung per verschlüsseltem Telegramm stets erreichbar sein musste – einen Gemüsehandel.
Mit Beginn der NS-Zeit wuchs die Zahl der Hinrichtungen schnell an
In einem Buch schrieb der Autor Johann Dachs über Johann Reichhart, dieser habe sich in einer verzweifelten Situation befunden: "Sein blutiges Handwerk brachte ihm viel zu wenig ein, hinderte ihn aber daran, in einem bürgerlichen Beruf Erfolg zu haben. Denn wer wollte schon einen Scharfrichter einstellen oder mit ihm geschäftlich oder privat zu tun haben."
Das änderte sich durchgreifend, als 1933 die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten begann. Nicht nur wurde Reichharts Gehalt mehrmals angehoben, auch die Zahl der Hinrichtungen wuchs schnell an. Zunächst richtete er in Bayern und angrenzenden Gebieten vor allem Raubmörder und Sexualtäter hin, dann aber viele, die wegen des Widerstands gegen das NS-System zum Tod verurteilt worden waren, darunter die Geschwister Scholl.
"Das Fallbeil kam nur noch selten zur Ruhe", schrieb Johann Dachs: "Reichhart tötete damit im Auftrag der NS-Justiz, täglich und oft im Dreiminutentakt. Manchmal zehn, zwanzig, ja sogar bis zu dreißig Menschen starben durch ihn an einem einzigen Tag." Nach Kriegsende setzte er seine Arbeit im Auftrag der Alliierten fort und vollstreckte 156 Hinrichtungen verurteilter nationalsozialistischer Kriegsverbrecher, teilweise am Galgen.
In der DDR wurde die Todesstrafe erst 1987 abgeschafft
Reichharts Tätigkeit machte ihn zu einer einsamen Person. Seine Ehe scheiterte, sein Sohn Hans brachte sich 1950 im Alter von 23 Jahren um. Der Beruf des Vaters und dessen Entnazifizierungsverfahren, bei dem er zunächst als Hauptschuldiger, dann als Belasteter eingestuft wurde, hatten ihm stark zugesetzt. Johann Reichhart starb 1972 mit 78 Jahren. Insgesamt hatte er 3165 Menschen hingerichtet.
In der Bundesrepublik wurde die Todesstrafe 1949 abgeschafft, in der DDR erst 1987. Hier waren noch 164 Menschen mit dem Fallbeil oder per "unerwartetem Nahschuss" mit einer Pistole von hinten getötet worden.
Mit freundlichen Grüßen
Johannes Bullmann, MPA