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WÜRZBURG
Gefangen am Galgenberg
Erster Weltkrieg: Von 1915 bis 1917 saß der französische Soldat Septime Gorceix am Hubland hinter Stacheldraht. Im November 1916 durfte er an einer Beerdigung auf dem Würzburger Hauptfriedhof teilnehmen.
Im Gefangenenlager am Galgenberg lebten im Ersten Weltkrieg bis zu 6000 Franzosen hinter Stacheldraht. Das Aquarell schuf 1916 der Gefangene Albéric Dreux. Alle Illustrationen sind dem Buch „Flucht vom Galgenberg“ entnommen.
Foto: Sammlung Flade | Im Gefangenenlager am Galgenberg lebten im Ersten Weltkrieg bis zu 6000 Franzosen hinter Stacheldraht. Das Aquarell schuf 1916 der Gefangene Albéric Dreux.

Von unserem Redaktionsmitglied

Roland Flade

 |  aktualisiert: 16.11.2016 03:30 Uhr

Genau hundert Jahre ist das jetzt her. Der Erste Weltkrieg war 27 Monate alt und in den Schützengräben lagen sich französische und deutsche Soldaten gegenüber, jederzeit bereit, einander zu töten. Auf dem Würzburger Hauptfriedhof fand in jenem November 1916 eine besondere Beerdigung statt.

Am Samstag vor dem Totensonntag packte Hoffotograf Christian Bauer, Inhaber einer Fotohandlung in der Wilhelmstraße, seine Ausrüstung zusammen. Es galt, im hintersten Winkel des Friedhofs an der Mauer zur Siligmüllerstraße eine denkwürdige Szene festzuhalten. Ein französischer Gefangener aus dem Lager am Galgenberg sollte hier mit militärischen Ehren zur letzten Ruhe gebettet werden.

„Eine sanfte Sonne heftet ihre Strahlen auf die letzten verkümmerten gelben Blätter“, erinnert sich später der 26-jährige Gefangene Septime Gorceix, ein Lehramtsstudent aus Limoges. Der junge Franzose gehört zu einer Delegation aus dem Lager, in dem zeitweise bis zu 6000 Männer hinter Stacheldraht in Baracken leben, die dem Begräbnis beiwohnen darf.

Es ist nicht die erste Beerdigung eines französischen Gefangenen. „Wir durchqueren die Hauptallee des Friedhofs zwischen sorgsam eingefassten deutschen Grabsteinen hindurch“, schrieb Gorceix, inzwischen Geschichtsprofessor in Paris, 1930 in einem Buch, das jetzt unter dem Titel „Flucht vom Galgenberg“ neu erschienen ist. „Wir erreichen das Karree schlichter weißer Kreuze, wo die Unseren ruhen.“

Der Tote ist in einem der zahlreichen Würzburger Lazarette gestorben, der verschlossene Sarg war vor der Leichenhalle aufgebahrt. Nun tragen ihn vier deutsche Soldaten gemessenen Schrittes auf ihren Schultern quer durch den Friedhof. Wenig später werden sie an der Front in Nordfrankreich wieder Franzosen erschießen – an diesem Novembersamstag sind sie Teil einer ehrfurchtsvollen Zeremonie.

Der Fotograf Christian Bauer hält das anschließende Geschehen – wie auch andere Beerdigungen von Gefangenen – fest: Ein deutscher Priester in feierlichem Ornat spricht die traditionellen Gebete vor den französischen Soldaten, zu denen sich inzwischen auch Offiziere gesellt haben, die in einem Lager auf der Festung inhaftiert sind.

„Der Priester liest einer bewegten Zuhörerschaft die Messe“, heißt es in Gorceix? Buch. „Die einen denken an ihnen nahe Menschen, die vor Kurzem gestorben sind, die anderen sehen die Gesichter derer vor sich, die sie einst kannten, fröhlich, voller Leben, und die nun hier liegen, den Mund für immer geschlossen.“

Der Sarg senkt sich ins Grab, das deutsche Begleitkommando schießt drei Ehrensalven, die französischen Gefangenen defilieren am offenen Grab vorbei und werfen einer nach dem anderen eine Schaufel Erde auf den Sargdeckel. Dann geht es streng bewacht wieder zurück zu den Baracken am Galgenberg und auf die Festung. Wie konnte das sein? Ehrensalut für einen gestorbenen Gegner?

Der deutsche Blick auf die Kriege des 20. Jahrhunderts ist stark vom Zweiten Weltkrieg mit seinen Vernichtungslagern und der unmenschlichen Behandlung von Gefangenen geprägt, die den Tod von Millionen vor allem russischer Soldaten zur Folge hatte.

Der Erste Weltkrieg war anders, wie Septime Gorceix? Schilderung in „Flucht vom Galgenberg“ zeigt. Es gab zwar die kleinen Sadisten, die ihr Mütchen an den Gefangenen kühlten, aber alles in allem bewegte sich deren Behandlung im Rahmen der Genfer Konvention. Ab dem Moment im April 1915, in dem Gorceix nicht mehr feindlicher Soldat an der Front bei Verdun, sondern Gefangener war, wurde er als Mensch behandelt – in dem breiten Rahmen, in dem Menschen einander behandeln.

So gab es am Galgenberg deutsche Offiziere, die die Franzosen schikanierten, aber es gab auch einen Bewacher, der sich so freundlich verhielt, dass unter den Lagerinsassen nach seinem Tod der Gedanke aufkam, für einen Kranz zu seiner Beerdigung zu sammeln.

Ein Würzburger Jesuitenpater kümmerte sich um die Gefangenen, ermöglichte ihren den Bau einer kleinen Bühne in einer leerstehenden Baracke und versorgte sie mit Instrumenten, so dass mitten im Ersten Weltkrieg am Galgenberg französische Theaterstücke aufgeführt und Konzerte gegeben werden konnten.

Die Lagerleitung genehmigte sogar die allwöchentliche Veröffentlichung einer Lagerzeitschrift („L?Intermede“), die von Gefangenen redigiert und in der Fränkischen Gesellschaftsdruckerei hergestellt wurde. Ein Band mit sämtlichen Exemplaren befindet sich heute in der Romanistik-Bibliothek auf dem Campus Hubland Süd, nur wenige hundert Meter vom ehemaligen Lager entfernt.

Auch misslungene Fluchten wurden nicht sonderlich streng geahndet. Zuerst hatten die Franzosen befürchtet, erschossen zu werden, wenn sie wieder eingefangenen wurden. Doch musste beispielsweise Septime Gorceix nach seinem ersten Fluchtversuch lediglich eine dreiwöchige Haft im Gefängnis in der Ottostraße absitzen, was ihm nicht sonderlich hart vorkam. Dies sei für einen Gefangenen nicht allzu betrüblich, schrieb er, „denn aufgrund seines Lebens in schlechten Bretterbaracken findet er ein richtiges Gebäude aus soliden Mauern angenehm, selbst wenn es ein Gefängnis ist.“

Der junge Franzose unternahm einen weiteren Fluchtversuch, nach dessen Scheitern er in einem Lager in der böhmischen Stadt Deutsch-Gabel landete. Hier fasste er einen aberwitzigen Entschluss: Wenn schon die neutrale Schweiz nicht zu Fuß zu erreichen war, sollte er die Flucht vielleicht einmal mit der Eisenbahn quer durch Österreich-Ungarn versuchen?

Der Plan ging auf; im Juni 1918 kam er nach abenteuerlichen Fahrten und Wanderungen über Wien, Budapest und Bukarest im östlichen Teil Rumäniens an, der nicht von deutschen Truppen besetzt war.

Im Jahr 1935 besuchte Septime Gorceix als Tourist erneut das nationalsozialistisch gewordene Würzburg und wieder führte ihn sein Weg zum Hauptfriedhof. Die Holzkreuze fand er nicht mehr; seine toten Kameraden waren exhumiert und nach Frankreich überführt worden. Er legte Blumen in den französischen Nationalfarben vor einem Denkmal nieder, das die Franzosen für ihre Toten hatten errichten lassen und das noch heute neben dem Ehrenfriedhof steht.

Gorceix traf in Würzburg Anton Englert, den ehemaligen deutschen Dolmetscher im Gefangenenlager am Galgenberg. Englert war Inhaber des Hotels Franziskaner und Gorceix nahm sich dort ein Zimmer. Als er nach einigen Tagen abreiste, weigerte sich Englert, Geld von ihm zu nehmen. „So verlasse ich mit einem günstigen letzten Eindruck diese Stadt, in der ich zwanzig Jahre zuvor tieftraurig und voller böser Vorahnungen angekommen war“, schrieb Gorceix.

Am Mittwoch, 23. November, wird die deutsche Neuauflage der Erinnerungen von Septime Gorceix um 20 Uhr im Theater am Neunerplatz vorgestellt. Aus Paris reist der 88-jährige Sohn des 1964 gestorbenen Autors an. Antoine Gorceix und seine Frau werden auch von Oberbürgermeister Christian Schuchardt empfangen und über das Gelände der künftigen Landesgartenschau am Hubland geführt.

Das Ehepaar übernachtet – fast möchte man sagen: natürlich – im Hotel Franziskaner, das noch heute im Besitz der Nachfahren von Anton Englert ist.

Flucht vom Galgenberg: Die von Roland Flade und Hartmut Pürner herausgegebenen und von Hartmut Pürner übersetzten Erinnerungen von Septime Gorceix sind im Verlag Königshausen & Neumann erschienen. Mit aufgenommen wurden zahlreiche Illustrationen sowie die Passagen über Gorceix? Besuch in Würzburg 1935.

Der Franzose Septime Gorceix war von 1915 bis 1917 am Galgenberg inhaftiert.
| Der Franzose Septime Gorceix war von 1915 bis 1917 am Galgenberg inhaftiert.
 
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