Man sollte ein paar Mal tief durchatmen. Bevor man sich Fragen stellt wie: Verleiht man einer Hinrichtung so etwas wie Würde, wenn der Henker Gehrock und Zylinder trägt? Will man glauben, dass der Tod „sanfter“ eintritt, wenn ein Fallbeil den Kopf vom Körper trennt? Und was ist von einem Menschen zu halten, der nach über 3000 vollzogenen Todesurteilen sagt: „Ich hab keinem wehgetan“?
Ein paar Mal tief durchatmen.
Der Mann ist in Vergessenheit geraten. Weil er seit gut 40 Jahren tot ist. Und weil er einen Beruf hatte, über den man am liebsten den Mantel des Schweigens legt.
Dann plötzlich taucht die Guillotine auf. Seine Guillotine. Die gearbeitet und gearbeitet hat. Wenn es sein musste, im Dreiminutentakt. Unter der die Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl starben. Lange hieß es, sie sei in der Donau verschollen. Tatsächlich steht sie seit 40 Jahren im Depot des Bayerischen Nationalmuseums in München, und keiner will es gemerkt haben. Seit wenigen Wochen ist die Welt schlauer. Jetzt geht es darum, ob man die Maschine ausstellen soll.
Die Todesmaschine. Es ist ja nicht so, dass sie von alleine funktioniert hat. Jemand musste sie bedienen. Dieser Jemand hieß Johann Reichhart. Bayerns letzter Henker.
Landsberg am Lech, Justizvollzugsanstalt. Der riesige Schlüssel gleitet ins Schloss. Tür auf, Tür zu. Der Beamte geht voraus. Man befindet sich schon im Gefängnis, aber noch im Außenbereich. Der Weg macht nach etwa 100 Metern einen Rechtsknick. Wieder geradeaus, wieder 100 Meter. Dann bleibt der Vollzugsbeamte stehen. „Hier ist es“, sagt er. Man sieht: ein Stück Rasen, einen Gartenstuhl, der in der Ecke lehnt. Sonst nichts. Was auch? Es ist über 60 Jahre her, dass Landsberg die letzte Hinrichtung erlebt hat. Also warum sollte man davon jetzt noch etwas sehen?
Reichhart fährt damals, so kurz nach Kriegsende, auch nicht mit seiner Guillotine vor. Diese Form der Exekution ist den Amerikanern fremd. Sie bevorzugen den Strang. Dafür sind Galgen nötig.
„Hier“, sagt der Beamte und deutet auf ein kleines hellgraues Verbindungsgebäude, „hier standen sie.“ Einer rechts von der Treppe mit den drei Stufen, ein Zweiter, wenn er gebraucht wurde, links. Wendet man sich um 90 Grad nach rechts, steht man vor dem Festungsbau. Hier saß 1923/24 Hitler entspannt seine Strafe ab. Da waren die Amerikaner noch weit weg. Das muss man sich mal vorstellen: Der Henker, der sich Gedanken über Menschlichkeit und Würde macht, stellt 1945 die Guillotine zur Seite, um sich fortan in der Perfektionierung des Hängens zu üben. Und noch krasser: Nun richtet er in Landsberg diejenigen hin, für die er – verkürzt ausgedrückt – noch kurz zuvor gearbeitet hat.
Ein paar Mal tief durchatmen.
Wer die Geschichte von Johann Reichhart erzählen will, muss bei seinem Onkel Franz Xaver beginnen. Auch der ist Henker; ein Begriff übrigens, der erstmals 1276 im Stadtbuch von Augsburg erwähnt wird. Der Beruf des Scharfrichters gilt über Jahrhunderte hinweg als unehrenhaft. Wer ihn ausübt, wird geächtet. Manche leiden schwer darunter. So erklären sich mehrere Suizide, wie Historiker später herausfinden, darunter einer im Jahr 1600 in Donauwörth, ein anderer 1790 in Augsburg. Kaum ein Betrieb will jemandem, der aus einer solch blutbehafteten Sippe stammt, Arbeit geben. Oft bleibt nur, das Familienerbe zu pflegen und selbst Henker zu werden.
Franz Xaver Reichhart vollzieht 58 Todesurteile. 1898 etwa am Mädchenmörder Jakob Wegele, 1902 am berühmten Räuber Matthias Kneißl. Beide sterben in Augsburg unter der Guillotine, einem Gerät, das in Bayern erstmals 1854 eingesetzt und bis 1945 verwendet wird. Als Reichhart 1924 altersbedingt aufhört, beerbt ihn Neffe Johann. Er ist 31. Und wird der meistbeschäftigte Henker Deutschlands.
Dass sein blutiges Werk nicht ganz hinter dem Vorhang der Geschichte verschwindet, ist dem früheren Dachauer Polizeihauptkommissar Johann Dachs zu verdanken. Er veröffentlicht 1996 eine Biografie über Reichhart und nennt sie „Tod durch das Fallbeil“. Dachs ist ihm als junger Mann begegnet. Reichharts Geschichte lässt ihn ein Leben lang nicht los. Immerzu stellt er sich die Frage: Was treibt einen solchen Menschen an?
Wahrscheinlich, findet Dachs heraus, ist es mehr als pure Existenznot. Bei Reichhart, 1893 unweit von Regensburg geboren und gelernter Metzger, komme „eine gehörige Portion Eitelkeit“ hinzu. Und zu einem gewissen Grad auch der Reiz an der „Macht, einen Menschen vom Leben zum Tode zu befördern“. Er brüstet sich damit, der „schnellste Scharfrichter“ des Landes zu sein.
Es gibt eine Guillotine für ganz Bayern, im Gefängnis München-Stadelheim. Steht eine Exekution im Freistaat an, wird sie auf Reisen geschickt. Reichhart fährt per Bahn, später mit dem eigenen Auto, köpft den Delinquenten, eine Sache von vier, fünf Minuten, erhält 150 Mark und reist wieder heim. Aber er kommt nur schwer über die Runden. Nebenbei versucht er sich als Fuhrwerksunternehmer. Er ist Gastwirt, dann Tanzlehrer, dann verkauft er die katholische Erziehungsschrift „Von Mädchenglück und Frauenliebe“.
Akribisch geht er seiner Arbeit nach. Er heiratet, hat drei Kinder. Aber er wird gemieden. Reichhart ist unglücklich. Die Ehe scheitert. Es ist zynisch, dass der Mann erst in der NS-Zeit so etwas wie Achtung erfährt. Dachs schreibt, Reichhart habe dem Nationalsozialismus „zustimmend“ gegenübergestanden. Er tritt der Partei bei. Erstmals erhält er ein festes Gehalt. Jahre, in denen er ein vermögender Mann ist.
Hitlers Schreckensjustiz tut alles, um seinen Job auszufüllen. Reichhart, einer von nur drei Henkern in Deutschland, hetzt von Termin zu Termin. Er ist für ganz Süddeutschland zuständig, später auch für Österreich und Böhmen. Er baut die Guillotine so um, dass ein Akt nicht mehr vier, fünf Minuten, sondern nur mehr ein paar Sekunden dauert.
Ab 1937 gibt es nur noch einen bayerischen Exekutionsort: Stadelheim. Anfangs liegen vor ihm fast ausschließlich Mörder. Später kommen immer mehr „Volksverräter“ und Widerstandskämpfer hinzu. Reichhart hinterfragt nicht. Er arbeitet. Mit jenem Gerät, auf das nun viele Jahrzehnte später die Weltöffentlichkeit blickt.
Dann ist Hitler-Deutschland am Ende. Nicht aber Reichharts Arbeit. Die Amerikaner machen den Nazi-Schergen den Prozess. Sie beschließen, Todesurteile auch im Landsberger Gefängnis zu vollstrecken. Sie wollen nur den einen Scharfrichter: Johann Reichhart. Der hat keine Wahl. Aus Hitlers Henker wird der Henker der Militärregierung.
Klaus Weichert hat die Geschichte des an Geschichten so reichen Gefängnisses aufgeschrieben. Er denkt eine Weile nach, dann entfährt es ihm: „Wie das mit Reichhart lief, ist schon unglaublich.“ Der 69-Jährige, selbst viele Jahre Anstaltslehrer in Landsberg, kann einiges über den Scharfrichter in Erfahrung bringen. Demnach exekutiert Reichhart dort erstmals am 19. November 1945 – per Strang. Angeblich drei deutsche Zivilisten, die US-Piloten getötet haben. 153 Kriegsverbrecher werden folgen.
Gut sechs Monate lang dasselbe Bild: Morgens fährt ein US-Jeep vor Reichharts Wohnung nahe München vor. Der Scharfrichter steigt ein, man plauscht, es gibt Süßigkeiten und Zigaretten. Nach getaner Arbeit in Landsberg geht es zurück.
Ende Mai 1946 scheint es zu einer Namensverwechslung zu kommen. Reichhart erfährt, dass er vermutlich zwei Unschuldige hingerichtet hat. Er „lernt“ noch den amerikanischen Sergeant John Charles Woods an, der später nach den Nürnberger Prozessen zehn Hauptkriegsverbrecher exekutiert. Aber er weigert sich, selbst weitere Todesurteile zu vollstrecken. Es ist das Ende einer blutigen Karriere. 3166 Menschen sind durch seine Hand gestorben.
Was bitte ist nun daran lustig? Michael Lerchenberg muss nicht lange überlegen: „Vielleicht ist es die einzige Möglichkeit, sich mithilfe von Humor diesem Thema anzunähern.“ Der Regisseur und Autor, bekannt durch seine Nockherberg-Auftritte als Bruder Barnabas, sitzt im Auto auf dem Weg zur Theaterprobe in Landshut. Lerchenberg inszeniert für das Landestheater Niederbayern ein Stück von Christian Lex, das sich mit Reichharts Leben beschäftigt: „Von der Unachtsamkeit der Liebe“. Premiere ist am 28. Februar. „Kein Gruselschocker, sondern der Versuch einer behutsamen Annäherung an einen unheimlichen Charakter“, sagt Lerchenberg. Eine Art Wink des Schicksals, dass ausgerechnet jetzt Reichharts Guillotine auftaucht? Lerchenberg lacht am Handy: „Vielleicht ist das ein gottgewollter Zufall.“
Aber noch einmal: Warum ausgerechnet eine Komödie? Lerchenberg sagt: „Das komische Prinzip liegt darin, dass Entsetzen und Scherz nahe beieinanderliegen.“ Oder anders: „Die Kunst besteht darin, mit dem Entsetzen Scherze zu treiben.“ Karl Valentin sei ein Meister dieses Fachs gewesen.
„Sehen Sie sich das Leben Reichharts an“, sagt Lerchenberg. „Er wundert sich, dass er als Gastwirt keine Gäste hat, er, der Henker – kann man noch naiver scheitern?“ Oder: „Er muss zwei Sexualverbrecher hinrichten, die ihm im Ersten Weltkrieg das Leben gerettet haben. Beide heißen Sepp, und kurz vor der Vollstreckung sagt der eine zu Reichhart: Hans, mach schnell – wie absurd ist das?“
Johann Reichhart wird auf der Bühne Anton Reichmann heißen. Wie sieht Lerchenberg die historische Figur? „Er war ein Todeskünstler. Er hat seine Arbeit perfektioniert. Und er hat es sich nicht leicht gemacht. Bei aller Schuld: Er hat auch unter seiner Arbeit gelitten.“ Man dürfe schließlich nicht vergessen, sagt Lerchenberg dann noch: „Die Richter des Nationalsozialismus, die Unschuldige in den Tod schickten, wurden nicht belangt. Der Scharfrichter, der auf dem Boden des Gesetzes gehandelt hat, aber schon.“
Es beginnt damit, dass Reichhart schwer erkrankt. Im Garmischer Internierungslazarett wird er von Nazis fast zu Tode geprügelt. Später kommt er in Haft und muss sich im Zuge der Entnazifizierung juristisch verantworten. Die Strafe – eineinhalb Jahre Arbeitslager – gilt als getilgt. Doch wieder ist er ein Geächteter, mehr als je zuvor. Sohn Hans wird damit nicht fertig. 1950 nimmt er sich das Leben.
Der Vater schleppt sich durch den einsamen Alltag. Er züchtet Hunde, stellt Haarwasser und Parfüm her. 1972 stirbt er in einem Pflegeheim in Dorfen bei Erding.
Ein paar Mal tief durchatmen.
Die Guillotine
Erfunden wurde die Guillotine in den Folgejahren der Französischen Revolution. Sie geht auf den französischen Arzt Joseph-Ignace Guillotin und seine Idee einer „humanen Köpfmaschine“ zurück. Premiere hatte die Tötungsmaschine 1792. Fortan wurde die Guillotine zum Symbol der Schreckensherrschaft der Jakobiner. Am 21. Januar 1793 starb König Ludwig XVI. unter der Guillotine. Seit dem 19. Jahrhundert wurden auch auf deutschem Boden (in Bayern ab 1854) zum Tode Verurteilte mit der Guillotine hingerichtet. Auch während der Nazi-Zeit ließen Scharfrichter mit dem Fallbeil töten. Unter den Opfern waren die Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“ – die Geschwister Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Willi Graf, Alexander Schmorell sowie der Universitätsprofessor Kurt Huber Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 war die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland abgeschafft. Trotzdem gab es noch bis Mitte 1951 Hinrichtungen infolge von Kriegsverbrecherprozessen. In Bayern wurde die Todesstrafe rein formell erst 1998 aus der Bayerischen Verfassung gestrichen. Text: AZ