Die Kinder und Jugendlichen, die Oberarzt Florian Daxer berät und behandelt, sind zwischen sechs und neunzehn Jahren alt. Im Gegensatz zu fast allen anderen Patienten der Uniklinik Würzburg sind Daxers Patienten nicht krank - sie sind anders. Zu Daxer kommen Familien mit Mädchen, die lieber Jungs wären. Und Familien mit Jungs, die sich als Mädchen fühlen. Für manche der jungen Patienten ist der erste Besuch bei Daxer der Beginn einer langen, anstrengenden Reise, die von einem Geschlecht zum anderen führt.
Sprechstunde mit großem Zulauf
Als Daxer, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, gemeinsam mit seinem Team vor rund zwei Jahren erstmals die „Sprechstunde für sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität“ anbot, wurde er von Ratsuchenden förmlich „überrannt“. Allein im ersten halben Jahr gab es zwanzig Anmeldungen. Nach wie vor ist der Zulauf groß; pro Woche melden sich ein bis zwei neue Patienten an. Die große Nachfrage erklärt sich auch dadurch, dass die Uni Würzburg mit der Spezialsprechstunde allein auf weiter Flur steht. Erst in München gibt es ein weiteres Beratungsangebot.
Ist unklare Geschlechtsidentität eine Modeerscheinung?
Wieso sehnen sich heutzutage vergleichsweise viele Kinder nach dem gegengeschlechtlichen Körper? Ist die unklare Geschlechtsidentität eine durch Transgender-Promis und Medien gehypte Mode? Oder gab es unklare Geschlechtsidentität früher auch - bloß eben im Verborgenen?
„Diese Fälle hat es immer gegeben; sicher auch in gleicher Zahl wie heute“, sagt Daxer. Bloß hätten Betroffene früher weder die Möglichkeit gehabt, ihre Transidentität auszuleben noch die Möglichkeit, durch Behandlung und Operationen das Geschlecht „anzupassen“. Daxer: „Betroffene haben früher eher ihr Leben unglücklich verbracht, in dem Wissen, dass ihr Körper nicht zu ihnen passt.“
Der Würzburger Oberarzt sagt, er kenne Patienten, verheiratet, drei Kinder, die sich erst im Seniorenalter oder nach dem Tod des Partners getraut hätten, ihr gefühlt richtiges Geschlecht auszuleben. Die Angst, sich zu outen, sei früher so groß gewesen, weil Transsexualität mit einer psychischen Erkrankung gleichgesetzt wurde. Daxer sagt, transidente Menschen seien früher nach einem langen Leidensweg oft in der Psychiatrie gelandet. „Betroffene hatten oft Depressionen, Ängste und Symptome von Borderline-Störungen, weil sie ihr wahres Ich so lange verborgen haben.“
Wie Beratung bei Kindern mit unsicherer Geschlechtsidentität helfen kann
Dem Team der Uniklinik um Daxer ist es daher ein Anliegen, junge Menschen mit unsicherer Geschlechtsidentität möglichst so zu unterstützen, dass sie gut mit dem Anderssein leben können. Schon sehr früh im Leben eines Menschen könne Geschlechtsidentität Thema werden, sagt Daxer. Und erzählt von einem Mädchen, das mit drei Jahren mit Jungsfreunden im Matsch spielte, mit vier Jahren auf einem Jungsnamen bestand und mit sechs immer hartnäckiger fragte, wann ihr ein Penis wachse? Sie sei doch ein Junge! „Die Eltern des Kindes kamen zu uns in die Sprechstunde. Nicht weil sie größere Probleme mit dem Kind hatten, sondern weil es eingeschult werden sollte. Sie wollten wissen, wie sie und die Schule mit dem Mädchen, das sich als Junge fühlte, umgehen sollten.“
In dem Fall, berichtet Daxer, sei die Schule der Familie entgegengekommen. Im Unterricht wird das Kind mit dem Jungennamen angesprochen - im Zeugnis bleibt der Mädchenname. „Bei Kindern vor der Pubertät machen wir als Ärzte nicht viel mehr als eine ausführliche Aufklärung der Eltern und des Kindes.“ Man müsse Tests machen, um psychische Erkrankungen auszuschließen, auch wenn man die unsichere Geschlechtsidentität mittlerweile nicht mehr als psychische Störung werte. „Besteht eine Depression? Ängste?“. Bei Kindern, die in ihrem Anderssein von der Umwelt akzeptiert würden, sei dies weniger häufig der Fall als bei Kindern, deren Anderssein auf Ablehnung stoße,
Rät der Arzt dazu, das Kind einfach die andere Geschlechtsrolle leben zu lassen? „Schwieriger Punkt!“, sagt Daxer. Vom kompletten Rollenwechsel in dem frühen Alter rät er ab; denn es gibt Fälle, wo das atypische Geschlechtsverhalten nicht bleibt. „Bei manchen Kindern überdauert es nicht.“ Bei präpubertären Kindern empfiehlt er „Insellösungen“, also geschützte Räume, in denen das Kind seine gefühlte Identität ausleben könne. Wie bei einem 11-jährigen Transmädchen, einem biologischen Jungen, der in seinem Heimatort mit Bikini ins Freibad gehen wollte. „Im Ort weiß aber jeder, dass das Kind ein Junge ist. Da ist das Risiko, gemobbt zu werden, zu groß. Wir haben den Eltern empfohlen, ein Bad zu wählen, wo niemand das Kind kennt. Oder den geschützten Garten.“
Ob Kinder dauerhaft transident bleiben, entscheidet sich Daxer zufolge in der Pubertät. „Es gibt Kinder, die spielen mit der Idee des anderen Geschlechts“, sagt er. „Und dann gibt es jene Kinder, die SIND das andere Geschlecht, auch wenn ihr Körper nicht passt.“ Diese Kinder litten „extremst“ unter der Puberät. „Bei Mädchen, die sich als Jungen fühlen, ist es die erste Menstruation, die sie in völlige Verzweiflung stürzt, bis hin zu Selbstverletzung und Suizidgedanken.“ Bei Jungen, die sich als Mädchen fühlten, könne der Stimmbruch Depressionen auslösen. „Ich habe Patienten, die die Körperhygiene vernachlässigen, die nur im Dunkeln duschen, weil sie ihren Körper im Spiegel nicht ertragen.“ Sei der Leidensdruck so groß, bieten Daxer und Team nach einer ausführlichen Diagnostik den Jugendlichen Psychotherapie an, eventuell auch medikamentöse Unterstützung.
Die Pubertät schmerzt oft und verlangt Jugendlichen Entscheidungen ab
Das Einsetzen der Pubertät ist auch der Zeitpunkt, wo der junge Mensch und seine Familie gemeinsam mit dem Ärzteteam der Uni über die nächsten Schritte entscheiden müssen. Soll der Hormonspezialist Pubertätshemmer spritzen - Medikamente, die verhindern, dass der Körper Sexualhormone produziert und die die körperliche Entwicklung anhalten? Sollen, später dann, gegengeschlechtliche Hormone gegeben werden, die dazu führen, dass ein biologischer Junge Brüste bekommt, ein biologisches Mädchen Stimmbruch? Wollen der Transmann oder die Transfrau, wenn sie das Erwachsenenalter erreichen, auch den letzten Schritt gehen und ihr Geschlecht operativ angleichen lassen? „Es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, ob bei den jungen Menschen eine unsichere Geschlechtsidentität vorliegt oder ob sie innerlich das andere Geschlecht sind“, sagt Daxer.