Vor allem aus Würzburger Sicht ist Tilman Riemenschneider in Sachen spätgotischer Bildhauerkunst das Maß aller Dinge. Das liegt einerseits natürlich an der außergewöhnlichen Ausdruckskraft seiner Figuren, andererseits daran, dass über sein Leben und Wirken erheblich mehr bekannt ist als über das der meisten seiner Zeitgenossen.
So hat der Bildhauer einer ganzen Epoche seinen Namen gegeben, einer Blütezeit sogar: In der Riemenschneider-Zeit, an der Wende des Mittelalters zur Neuzeit, sind religiöse Bildwerke außerordentlich gefragt. Einige Künstler unterhalten große Werkstätten mit mehreren Angestellten, um die Nachfrage nach Einzel- oder Altarfiguren mit schneller Produktion und hohen Stückzahlen bedienen zu können.
Blütezeit bedeutet aber auch, dass nicht nur Würzburg und Riemenschneider von Bedeutung sind. Auch Ulm (später Augsburg), Bamberg, Nürnberg oder Straßburg sind wichtige Zentren der Bildhauerei – bis mit der Reformation der Markt jäh einbricht.
Gegenpol zum Riemenschneider-Bestand
Das Mainfränkische Museum zeigt nun mit gerade mal 17 Meisterwerken der Riemenschneider-Zeit aus der Sammlung des Frankfurter Liebieghauses, wie reich und vielfältig das Schaffen im 15. und frühen 16. Jahrhundert war. Das Liebieghaus, eines der bedeutendsten Skulpturenmuseen, hat für die aktuelle Sonderausstellung „Heilige Nacht. Die Weihnachtsgeschichte und ihre Bilderwelt“ einen Großteil seiner Dauerpräsentation beiseitegeräumt, das Mainfränkische Museum wurde damit zum Nutznießer und kann so bis 12. Februar mit den ausgesuchten Leihgaben und einigen Arbeiten aus der eigenen Sammlung einen Gegenpol zum eigenen Riemenschneider-Bestand aufbauen und in der Sondersausstellung„Meisterwerke der Riemenschneider-Zeit aus der Liebieghaus-Skulpturensammlung“ den Blick bis an die Schwelle der Renaissance weiten.
Die meisten der Leihgaben tragen ihre originale Farbfassung – das allein ist ungewohnt. Und aus konservatorischer Sicht durchaus problematisch: „Das ist so ziemlich das Heikelste, was es gibt“, sagt Museumsleiterin Claudia Lichte. Die Brücke zum eigenen Bestand bildet ein Heiliger Nikolaus von Riemenschneider, ihm gegenüber steht ein Heiliger Leonhard aus Tirol, der in seiner dicken braunen Kutte ungleich wuchtiger wirkt als sein Widerpart.
Spätgotisches Wimmelbild
Vier Flachreliefs mit höchst lebendigen Szenen aus dem Leben Johannes des Täufers gehören zum sogenannten Schlüsselfelder Altar, von dem das Museum einige Gemäldetafeln besitzt. Aus konservatorischen Gründen können die Tafeln nicht gemeinsam gezeigt werden, aber an einem Modell können Besucher ausprobieren, wie der Flügelaltar mit seinen mehrfach klappbaren Teilen funktionierte.
Die Ausstellung setzt sowohl geografische wie zeitliche Schwerpunkte. Die Entwicklung während drei Generationen Ulmer Schaffens wird ebenso nachvollziehbar wie die stilistische Vielfalt der Skulptur allein in Franken und Bayern. Auffällig ist, dass Riemenschneider mit seiner unverkennbar ernsten, asketischen Bildsprache beinahe allein steht. Mit einer Ausnahme: Die beiden Propheten-Büsten des Michel Erhart aus Ulm um 1490 weisen klar in Richtung des Würzburger Meisters. Ein Eindruck, den Claudia Lichte bestätigt: „Es ist zwar nicht belegt, aber es stellt sich die Frage, ob Riemenschneider bei Erhart gelernt hat. Meiner Meinung ist das so.“ Wie eine niederländische Genreszene aus dem prallen Leben wirkt das farbig gefasste Relief „Geburt Mariens“ von Daniel Mauch um 1515. Ein spätgotisches Wimmelbild, wenn man so will. Während sich oben Anna von der Strapaze der Geburt erholt, wird an einem Tisch getafelt, und unten steckt die Hebamme, die neugeborene Maria im Arm, den nackten Fuß in den Badebottich, um die Wassertemperatur zu prüfen.
Es lohnt das Innehalten
Direkt nebenan das vielleicht beeindruckendste Stück der Schau: Mauchs „Nackte Alte“ um 1520, eine kleine, schonungslos naturalistisch gearbeitete Buchsbaumfigur, die die Endlichkeit des menschlichen Daseins drastisch vor Augen führt.
Eine angedeutete Gebetsnische mit einer schwäbischen Muttergottes steht für ein weiteres Anliegen der Ausstellung: Alle Arbeiten stehen in religiösem Kontext. Den Zeitgenossen dienten sie als Anker der Andacht und der Einkehr – eine Funktion, die in Zeiten spiritueller Globalisierung vielfach die Buddha-Figur übernommen hat. Die Heiligenlegenden werden den wenigsten Betrachtern geläufig sein, Claudia Lichte hat deshalb unter anderem ein Heiligenlexikon und eine Bibel ausgelegt.
Vor allem aber lohnt das Innehalten. Nichts an diesen Figuren ist ohne Bedeutung, weder der Faltenlauf der Kleider, noch die Haltung der Körper. Eine Figur wie die „Weibliche Heilige“ von Hans Multscher um 1465 fasziniert zwar auf den ersten Blick durch unendlich viele meisterhaft gearbeitete Details. Die stille, selbstvergessene Trauer aber, die sie ausstrahlt, wird nur den zutiefst anrühren, der sich ein wenig länger auf sie einlässt.
Mainfränkisches Museum: Meisterwerke der Riemenschneider-Zeit aus der Liebieghaus-Skulpturensammlung. Bis 12. Februar. Geöffnet Di.-So. 10-16 Uhr. Weitere Informationen, etwa zum Begleitprogramm unter mainfraenkisches-museum.de