
Wenn aus Sexismus sexualisierte Gewalt wird, liegt eine Straftat vor. Dass betroffene Frauen sich oft allein gelassen fühlen, liegt auch an der nur halbherzigen Verfolgung und Bestrafung. Auch im Sport, wo in den Vereinen und Verbänden Männer die Mehrheit der Entscheidungsträger bilden. Sarah Scheurich reicht es. Vergangene Woche ging die 27-jährige Boxerin einmal mehr an die Öffentlichkeit und sagte: "Ich weiß, dass es auch in anderen Sportarten derartige Probleme gibt. Allerdings begünstigen die Strukturen im männerdominierten Boxen sexualisierte Gewalt ganz offensichtlich.“
Erst vor wenigen Tagen waren sexuelle Übergriffe durch Boxtrainer in Baden-Württemberg publik geworden. Es wurde Anzeige erstattet gegen drei Trainer, "denen Vorfälle, die zum Teil bis ins Jahr 2012 zurückreichen und durch die eine Vielzahl von Athletinnen betroffen sein sollen, zur Last liegen", wie die Staatsanwaltschaft Heidelberg mitteilte. Die Ermittlungen laufen.

Für Sarah Scheurich, die für den BC Traktor Schwerin kämpft und Mitglied der deutschen Nationalmannschaft ist, nicht überraschend: "Es spielt sich viel in alten Denkmustern ab, im Boxen sind Frauen immer noch das schwache Geschlecht, deshalb würde ich schon sagen, dass Chauvinismus und Sexismus im Boxen weiter verbreitet sind als im Rest der Gesellschaft", sagt die 27-Jährige. "In vielen Trainingshallen ist es unmöglich, sich als emanzipierte Frau wohlzufühlen."
Die EM-Zweite von 2014 fordert von den Boxverbänden: "Wir brauchen klare Regeln, die dafür sorgen, dass Täter mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen haben. Die Strafen müssen abschreckend sein." Scheurich war vor zwei Jahren eine der Initiatorinnen
der Kampagne "Coach, don't touch me!" ("Fass mich nicht an, Trainer!"), die sich gegen sexualisierte Gewalt im Boxen richtet.
Die Täter sind meist Männer
Sexualisierte Gewalt - ganz besonders gegenüber Kindern und Jugendlichen - ist im Sport keine Seltenheit: Einer Studie des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) von 2016 zufolge haben 37 Prozent der Kader-Athletinnen und -athleten sexualisierte Gewalt erlebt, wie die "taz" berichtete. Überwiegend sind Frauen und Mädchen die Opfer, die Täter Männer.
Hintergrund sei nicht zuletzt der Leistungsdruck: Sportlerinnen und Sportler wissen, dass sie, um nach oben zu kommen, wirklich alles zu ertragen haben. "Bis ihr kotzt" - um es in der Trainersprache zu sagen. Hinzu kommt das enge Verhältnis der teils noch kindlichen Sportlerinnen und Sportlern zu ihren Trainern.
Gewalt-Prävention in immer mehr Vereinen
An einer Vereinsbefragung des DOSB zum Thema sexualisierte Gewalt nahmen rund 13 000 Sportvereine teil. In knapp der Hälfte schätzt man die Prävention sexualisierter Gewalt als ein relevantes Thema ein, 36 Prozent gaben an, dass ihr Verein über fundierte Kenntnisse zur Vorbeugung von sexualisierter Gewalt verfüge. In elf Prozent der Vereine existiert eine Ansprechperson für Prävention, neun Prozent führen interne Schulungen durch. Und zwölf Prozent der Vereine haben einen Verfahrensplan zum Umgang mit Verdachts- und Vorfällen. Im Erfassungszeitraum von 2011 bis 2015 habe es in zwei Prozent der befragten Sportvereine Vor- oder Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt gegeben - immerhin in 260 Vereinen.
Ein Problem: In der öffentlichen Wahrnehmung ist Frauensport oft eng mit dem Faktor Erotik verbunden. So zum Beispiel beim Beachvolleyball der Frauen. Wer kennt nicht die Nahaufnahmen der Popos mit gespreizten Fingern davor, die der weiter hinten postierten Mitspielerin eine taktische Variante andeuten sollen?

Zu den Olympischen Spielen 2004 in Athen hatte der Weltverband FIVB die offizielle Vorschrift erlassen, dass die Bikinihöschen an der Seite nicht breiter als sieben Zentimeter sein dürfen. Erst 2012 kippte der FIVB die Regel wieder, aus Rücksicht vor religiösen Einschränkungen beispielsweise muslimischer Spielerinnen.
Nun waren auch langärmlige Shirts und lange Hosen erlaubt. Die meisten Sportlerinnen blieben aber bei den Bikinis. Die deutsche Spielerin Ilka Semmler sagte einmal, dass die Bikins selbstverständlicher Teil ihres Sports seien und sie über den Schnitt mitbestimmen dürfe. Bei Temperaturen wie 2016 in Rio sei das ein optimales Outfit. Ihre Kollegin Katrin Holtwick ergänzte jedoch, es mache "keinen Unterschied, ob man in kurzen oder langen Sachen spielt". Die Männer machen's mit luftigen Achselshirts und knielangen Surfshorts ja vor.

Apropos Hosen. Dass auch der traditionelle Volleyball-Sport gegenüber Delikatem nicht gefeit ist, mussten Spielerinnen des Erstligisten VfB Suhl ein Jahr lang plakativ beweisen. Auf ihren Hotpants prangte rückseitig der Werbeslogan des Tourismusverbandes Schmalkalden-Meiningen: "Prachtregion". Die Spielerinnen störte das nicht. Doch Mitte 2019 war Schluss damit, nachdem der Deutsche Werberat geurteilt hatte: sexistisch und respektlos.
Der Grat zwischen Sexismus und sexualisierter Gewalt ist schmal. "Männer handeln, Frauen treten auf" - zu dieser allgemeinen Erkenntnis kam 1974 der britische Autor John Berger. 46 Jahre später lässt sich das gut auf den Sport herunterbrechen. "Das System Sport ändert sich, es kommt zu einer wachsenden Mediatisierung, Ökonomisierung und Sexualsierung des Sports", analysierte Prof. Thomas Schierl, der an der Deutschen Sporthochschule in Köln das Institut für Medien- und Kommunikationsforschung leitet, schon vor geraumer Zeit.
Siege und Rekorde bescheren Männern Bekanntheit und gut dotierte Werbeverträge. Frauen müssen über andere Eigenschaften verfügen, um Aufmerksamkeit zu generieren - sei es über attraktive Ausstrahlung oder eben nackte Haut. Ganz typisch in den leichtathletischen Sprint- und Sprung-Disziplinen: perfekt ausdefinierte Körper, gebräunte Haut, lange Haare - viele der Sportlerinnen wirken wie Models und multiplizieren ihre optischen Reize mit immer körperbetonter gewordener Kleidung.
Nackte Haut für bessere Werbeverträge
Und wer noch etwas mutiger ist: Athletische Erotik-Fotos im "Playboy", das funktionierte in Deutschland nicht nur für Eis-Sternchen Tanja Szewczenko, die Leichtathletinnen Susen Tiedtke und Sina Schielke, oder Box-Weltmeisterin Regina Halmich. "Ich muss Frau Halmich doch erst mal als Frau bekannt machen", sagte seinerzeit ihr Manager.
Realisieren Frauen irgendwann nicht mehr, dass aus dem Streben nach einem höheren Werbewert Zwang geworden ist, befinden sie sich bereits in einer Gewaltspirale. Worauf die feministischen Aktivistinnen von "Femen" mehrfach mit Protestaktionen aufmerksam gemacht haben - mittels verfremdeter, beispielsweise beschrifteter, nackter Haut.