Am 18. September 1924 verließen Nikolaus und Elsbeth Langmandel mit ihren Kindern Elisabeth, Gregor, Hermann und Michael den Auswandererdampfer Crefeld im Hafen von Buenos Aires. Dass sie wohlbehalten angekommen waren, erfuhren die Angehörigen in Moos durch ein Telegramm des Bremer Schifffahrtsunternehmens Norddeutscher Lloyd, in dessen Würzburger Niederlassung der 33-jährige Nikolaus die dreieinhalbwöchige Passage gebucht hatte.
Die 1922 in Dienst gestellte Crefeld mit ihren 192 Mann Besatzung war vor allem für den Transport von Emigranten konzipiert und verzichtete auf jeden Luxus. Die Langmandels hatten ihre Reise am Bahnhof im nahegelegenen Geroldshausen begonnen und waren dann nach Bremen gefahren. Für die Nachlieferung des Hausrats würde einer von Nikolaus’ Brüdern sorgen.
Die Schiffsreise brachte die Familie aus Moos mit den vier Kindern zwischen zwei und sechs Jahren in der dritten Klasse hinter sich. Eine erste Klasse hätte es auf der Crefeld sowieso nicht gegeben, dafür eine zweite mit Kabinen für bis zu 282 Passagiere und eben jene dritte Klasse für 756 Menschen, die in Kammern oder auf dem "Wohndeck", einem Massenquartier, mehr recht als schlecht unterkamen.
Hoffnung auf bessere wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten
Die Grafikdesignerin Analia Langmandel, eine Enkelin von Nikolaus und Elsbeth, hat die Geschichte ihrer Familie recherchiert. Am 12. Februar 2024 kommt sie mit Mann und zwei Kindern nach Moos und wird dort als erste zurückgekehrte Angehörige der Emigranten empfangen. Über die Passage ihrer Vorfahren schrieb sie: "Für die Auswanderer wurde die Reise zu einem Albtraum aus Menschenmassen, üblen Gerüchen, übermäßiger Kälte oder Hitze, je nach Jahreszeit, und allgemeiner unerträglicher Promiskuität."
Nikolaus Langmandel und seine ein Jahr jüngere Ehefrau Elsbeth hatten sich zu dem Abenteuer entschlossen, weil sie die politische Entwicklung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg kritisch sahen und wahrscheinlich auch, weil sie in Argentinien bessere wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten für sich und ihre Kinder erhofften.
Bevor sie im September 1924 das Schiff verlassen durften, untersuchte ein Arzt alle Passagiere; auch die Papiere und das Gepäck wurden überprüft. Danach verbrachten die Langmandels wohl einige Tage im Einwanderer-Hotel direkt neben dem Hafen. Dieses zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtete große vierstöckige Gebäude, das heute ein Museum beherbergt, war für bis zu 3000 Menschen konzipiert, für die es zwölf Schlafsäle gab, in denen sich jeweils 250 Personen aufhielten.
Analia Langmandel hat die Zeit in jenem ungewöhnlichen Hotel rekonstruiert: "Die Wachen weckten die Einwanderer sehr früh. Das Frühstück bestand aus Kaffee mit Milch, Matetee und Brot, das in der hoteleigenen Bäckerei gebacken wurde. Während des Vormittags widmeten sich die Frauen häuslichen Aufgaben wie dem Wäschewaschen in der Waschküche oder der Betreuung der Kinder, während die Männer sich um ihre Unterbringung im Arbeitsbüro kümmerten."
Mittags wurde in drei Schichten im großen Speisesaal Essen für jeweils bis zu tausend Personen ausgegeben, um 15 Uhr bekamen die Kinder eine Kleinigkeit, ab 18 Uhr traf man sich zum Abendessen und um 19 Uhr waren die Schlafsäle geöffnet.
Nikolaus Langmandel konnte Land erwerben
Nikolaus Langmandel suchte freilich keine Arbeitsstelle in Buenos Aires. Der Bauernsohn aus Moos hatte ein klares Ziel vor Augen: Er wollte das betreiben, was er aus der alten Heimat kannte: Landwirtschaft. Es gelang ihm, Land in dem Ort Monte Comán zu erwerben, gelegen etwa 930 Kilometer westlich von Buenos Aires an den Ausläufern der Anden in der Provinz Mendoza, die noch heute für ihre Weine bekannt ist. Dass Einwanderer aus Europa ein Drittel der Einwohnerschaft dieser Provinz in der Nähe der Grenze zu Chile ausmachten, mag Nikolaus in der Entscheidung beeinflusst haben.
Monte Comán war eine erst 1908 gegründete Kolonie. Wahrscheinlich gab es auch in Buenos Aires Agenturen, die hier gelegene Parzellen an Menschen mit Pioniergeist verkauften und Reklame für die damit verbundenen Vorteile machten. Analia Langmandel entdeckte eine Werbebroschüre, die vielleicht auch ihr Großvater gelesen hat. Das Land in Monte Comán sei "aufgrund der reichlich vorhandenen Wasserrechte leicht zu kultivieren" und Obstbaumplantagen entwickelten sich "problemlos unter unschlagbaren Bedingungen", stand darin.
So machte sich die Familie Langmandel kurz nach der Ankunft in Buenos Aires auf eine weitere Reise. Der zehn Jahre zuvor erbaute elegante Bahnhof Retiro, in dem sie einen Zug bestiegen, lag direkt vor dem Einwanderer-Hotel, ihr Ziel war seit 1906 ans Eisenbahnnetz angeschlossen. Möglicherweise pflanzte die Pionier-Familie mit ihren vier Kindern in Monte Comán Reben an. Außer ihnen hatten sich hier zahlreiche baskische und italienische Einwanderer angesiedelt, die dem Weinanbau der Gegend eine stark europäische Prägung gaben. Warum also nicht eine unterfränkische Komponente hinzufügen?
Analia Langmandel, die viel über das Leben ihrer Vorfahren herausgefunden hat, muss an dieser Stelle freilich passen. Welchem Broterwerb sich die Langmandels in Monte Comán widmeten, bleibt letztlich ungeklärt. "Möglicherweise haben sie keinen Wein, sondern Früchte angebaut, denn dort gab es auch die Trockenobstindustrie", sagt sie, "oder Gemüse".
Schicksalsschlag durch ein schweres Erdbeben
Die Langmandels, die noch kurz zuvor ein ruhiges Leben in Moos geführt hatte, machten sich jedenfalls optimistisch an den Aufbau einer neuen Existenz. Hatte nicht der Werbeprospekt von "unschlagbaren Bedingungen" geschwärmt? Gleichzeitig vergrößerte sich die Familie. Nikolaus und Elsbeth hatten in den nächsten Jahren zwei weitere Töchter und einen Sohn: Maria Magdalena (1927), Antonio (1928) und Cecilia (1930). Zwischen den beiden letzten Geburten erfuhren sie, dass die Missionarin Magdalena, Schwester des Vaters, am 13. Februar 1929 im Alter von 47 Jahren in Neuguinea gestorben war.
Doch dann zeigte sich die Natur von einer unerwartet abweisenden Seite. 1927 ereignete sich in der Provinzhauptstadt Mendoza ein schweres Erdbeben, das auch die Menschen in Monte Comán in Angst und Schrecken versetzte. Ein weiteres Erdbeben im Jahr 1929 in Villa Atuel, noch näher bei Monte Comán gelegen, forderte mehrere Todesopfer und zerstörte die dortige Kirche und viele Häuser. Jetzt ließ sich nicht mehr verdrängen, dass das gesamte Gebiet entlang der Andenkette von starken Erdbewegungen betroffen war.
Als sei dies noch nicht genug des Unglücks, erwies sich auch die Versorgung des 1924 erworbenen Landes mit Wasser als äußerst problematisch, denn der nahegelegene Fluss Diamante lieferte das benötigte Nass nicht mit der nötigen Regelmäßigkeit. So beschlossen Nikolaus und Elsbeth Langmandel 1930, nur sechs Jahre nach dem Abschied von Moos und der Ankunft in Argentinien, mit ihren sieben Kindern anderswo in dem südamerikanischen Land einen neuen Versuch zu wagen.
Trotz sorgfältiger Recherche konnten nicht alle Rechteinhaber der Fotos ermittelt werden. Rechteinhaber werden gebeten, sich bei der Redaktion zu melden.
In der dritten und letzten Folge der Serie über die Familie Langmandel lesen Sie: Auch der zweite Versuch ist von Misserfolg überschattet. Kind Nummer acht und neun werden geboren. Zehn Jahre nach der Auswanderung stirbt 1934 der Vater.