Die sechs Familienmitglieder aus dem 220-Einwohner-Dorf Moos, gelegen zwischen Geroldshausen und Kirchheim, hatten ihre besten Kleider an, als sie am 15. August 1924 das Fotoatelier von Fritz Jäger in der Würzburger Domerschulstraße betraten. Als es "klick" machte, schaute die Mutter, die 32-jährige Elsbeth Langmandel, freundlich in die Kamera. Ihr ein Jahr älterer Mann, der den Namen des Ortsheiligen Nikolaus trug, blickte eher streng. Bei den Kindern Elisabeth, Gregor, Hermann und Michael leuchtete Ungewissheit über das bevorstehende Abenteuer aus den Augen, aber auch eine gewisse Neugier.
Eine Woche später sollte es mit dem Schiff in die 12.000 Kilometer entfernte 1,8-Millionen-Einwohner-Stadt Buenos Aires gehen. Keiner der sechs Auswanderer aus dem unterfränkischen Dorf würde jemals aus Argentinien zurückkehren.
Die Aufnahme aus dem Würzburger Fotoatelier und viele weitere Bilder und Infos hat Analia Langmandel, die Enkelin von Nikolaus und Elsbeth, gesammelt. Die 57-jährige Grafikdesignerin aus Buenos Aires, die wie in Argentinien üblich noch den Geburtsnamen trägt, wird mit ihrem Mann Fabio Bustos, einem Elektroingenieur, und den Kindern Daniel (20) und Paula (16) am 12. Februar in Moos, das heute zu Geroldshausen gehört, empfangen. Es ist der erste Besuch von Nachfahren der Auswanderer in der alten Heimat.
Eine lange Familiengeschichte in Moos
Langmandels gehören schon immer zu Moos. Ein Mitglied der Familie war nach dem Dreißigjährigen Krieg Bürgermeister, ein anderer in den 1830er Jahren Gemeindevorsteher. Ihr landwirtschaftliches Anwesen ("Hof 4") umfasste zwei mehrstöckige Gebäude an der Einbiegung des heutigen Buchenwegs in die Würzburger Straße; eines der Häuser steht immer noch.
Nikolaus, der älteste der sechs Auswanderer, wurde am 16. April 1891 in Moos als Sohn des Bauern Georg Langmandel geboren. Dieser hatte viel Unglück erlebt: Seine erst Frau Sybilla brachte vier Kinder zur Welt, von denen drei kurz nach der Geburt starben. Auch Sybilla selbst überlebte die letzte Geburt nur um wenige Monate. Georg heiratete erneut und hatte mit seiner zweiten Frau Apollonia 13 weitere Kinder, von denen wieder vier früh starben.
Eines dieser Kinder, der Emigrant Nikolaus, muss durch seine zehn Jahre ältere Schwester Magdalena mit dem Gedanken vertraut gewesen sein, dass man nicht unbedingt im Land der Vorfahren zu bleiben brauchte. Magdalena war als Missionarin der "Dienerinnen des Heiligen Geistes" in Steyl nach Neuguinea gegangen. Auch zwei ihrer vier Schwestern traten in Orden ein, Ottilie in der niederländischen Stadt Venlo, Theresia in Würzburg. Zufällig geschah Theresia Langmandels Eintritt in die Kongregation der Erlöserschwestern am 1. Oktober 1924, einen Monat nach der Auswanderung ihres Bruders Nikolaus.
Offensichtlich wollte dieser sein Brot nicht als Landwirt in Moos verdienen. Laut Analia Langmandel machte er Abitur. Auch der fünf Jahre jüngere Bruder Leonhard hatte Höheres im Sinn: Er studierte, promovierte und trat in die Reichsfinanzverwaltung ein. Der 1888 geborene Bruder Michael, der im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hatte, studierte ebenfalls und leitete zuletzt als Oberstudiendirektor eine Schule. Nur das jüngste Kind, der 1901 geborene Hermann, blieb in Moos und führte die landwirtschaftliche Familientradition fort.
Kontakt zur Familie in Unterfranken blieb bestehen
Fotos aus dem Bestand von Analia Langmandel zeigen die Neuguinea-Missionarin Magdalena mit von ihr unterrichteten Kindern sowie Apollonia, die Mutter der Geschwister – Letztere in der in Moos üblichen Tracht. Die Auswanderer blieben in brieflichem Kontakt mit zurückgebliebenen Familienmitgliedern; in den Schreiben fanden sie außer Neuigkeiten aus der verlorenen Heimat auch Bilder wie diese.
Nikolaus und Elsbeth, die aus der Gegend von Braunschweig stammte, hatten sich 1916 mitten im Ersten Weltkrieg in Metz kennengelernt, einer Stadt, die damals noch zu Deutschland gehörte und in deren Lazarett Elsbeth als freiwillige Sanitäterin arbeitete. Der junge Leutnant Nikolaus Langmandel war hier zeitweise stationiert, ebenso wie Elsbeths Vater, ebenfalls ein Leutnant.
Im Mai 1916 schenkte der aus einem streng katholischen Haus stammende Nikolaus der 24-jährigen Elsbeth Beese, in die er sich verliebt hatte und die er Else nannte, das Gebet- und Andachtsbüchlein "Stern des Heiles", das acht Jahre später die Reise nach Argentinien mitmachte und heute von der Enkelin Analia aufbewahrt wird. Im Februar 1917 fand die Hochzeit statt.
Die junge Familie wuchs schnell: Die Tochter Elisabeth wurde Ende 1917 noch in Metz geboren, der Sohn Gregor 1920 in Garching bei München, wo die Familie bis zu Nikolaus‘ Demobilisierung einige Zeit lebte. 1920 ließ man sich in Moos nieder, wo die Langmandels den Hof Nummer 4 besaßen, in dem bereits Angehörige wohnten. In Moos kamen zwei weitere Kinder zur Welt, die Söhne Hermann (1921) und Michael (1922).
Die vier Langmandel-Kinder wuchsen in einem typischen unterfränkischen Dorf auf, in dem kirchliche Feste sowie Aussaat und Ernte den Rhythmus des Lebens bestimmten. Außer der kleinen katholischen Kirche St. Nikolaus mit Altären von Johann Georg Auwera prägt vor allem das 1745 nach Plänen von Balthasar Neumann erbaute Gut Moos mit seinem schlossähnlichen Haupthaus den 1133 erstmals erwähnten Ort. Für das Gut, das ehemals den Prämonstratensern von Oberzell gehörte, arbeiteten Menschen aus Moos und Umgebung; seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist es in Privatbesitz. Derzeit dient das Gut als großer Ausbildungs- und Pensionsstall, in dem bis zu 80 Pferde untergestellt werden.
Das Gut besaß schon zu Nikolaus Langmandels Zeiten eine Pferdekoppel, dazu eine eigene Schmiede, in der Eisenräder auf hölzerne Wagen aufgezogen, Maschinen repariert und Pferde beschlagen wurden. Nebenan stand das Milchhäusle, die örtliche Milchsammelstelle, und natürlich hatte Moos auch ein Gasthaus.
Viele Menschen suchten damals ihr Glück in der Auswanderung
Doch Nikolaus Langmandel trieb es in die Ferne – wie viele Deutsche jener Zeit. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg waren das Reich und mit ihm Bayern zwar Republiken mit demokratischer Staatsform geworden, doch Umsturzversuche von links und rechts – zuletzt im November 1923 der Hitlerputsch in München – sowie die außer Kontrolle geratene Inflation und die enormen Reparationsforderungen der Alliierten verunsicherten zahllose Menschen und ließen sie nach Alternativen suchen.
In der Familie erzählt man sich, dass Nikolaus und Elsbeth auswanderten, "weil sie mit der politischen Situation nicht einverstanden waren" (Analia Langmandel). Diese Stimmung griff damals um sich. Auch der 36-jährige Würzburger Finanzamtsangestellte Adelbert Gümbel spielte "infolge Inflation und sonstiger misslicher Verhältnisse in unserem Staate" mit dem Gedanken, mit Frau und vier Kindern zu emigrieren, wie er am 27. Februar 1924 in seinem Tagebuch notierte, das heute im Staatsarchiv liegt. Gümbel hatte das nördlich von Argentinien liegende Brasilien ins Auge gefasst. Er holte Erkundigungen ein, erfuhr, wie er seinem Tagebuch anvertraute, von "großen Sorgen und schwerer Arbeit" und verlor alle Illusionen, denn viele Neubürger hatten keinen Erfolg und erlagen "dem Sumpffieber und anderen tropischen Krankheiten". Daher blieb Gümbel in Würzburg.
Nikolaus Langmandel, nur drei Jahre jünger als Adelbert Gümbel, plagten solche Vorbehalte nicht. Er buchte im Büro des Schifffahrtsunternehmens Norddeutscher Lloyd in der Würzburger Domstraße, direkt über dem Textilgeschäft von Carl Schlier, eine Passage für sich und seine Familie und fuhr zum damals noch existierenden argentinischen Konsulat in Nürnberg, wo er Geburtsurkunden und andere Dokumente beglaubigen ließ.
Die argentinische Regierung förderte den Zuzug
Dass es damals ein solches Konsulat gab, lag an der bedeutenden Zahl von Menschen, die in das südamerikanische Land auswandern wollten. Argentinien, fast sechsmal so groß wie Deutschland, hatte damals lediglich rund 10 Millionen Einwohner, während im Reich 63 Millionen lebten. Es schien also genug Platz für unternehmungslustige Emigranten zu geben. Die argentinische Regierung förderte den Zuzug aus dem Ausland durch den Verweis auf positive wirtschaftliche Perspektiven und die Verfügbarkeit großer und fruchtbarer Ländereien. Auch Reedereien wie der Norddeutsche Lloyd rührten die Werbetrommel, da sie Atlantikpassagen verkaufen wollten.
Im Jahr 1914 war mehr als jeder dritte Einwohner Argentiniens im Ausland geboren worden. 1923 kamen allein 200.000 Einwanderer ins Land. Darunter waren zahlreiche Deutsche, zu denen sich 1924 auch die sechs Mitglieder der Familie Langmandel aus Moos gesellten. Am 18. September 1924 trafen sie als Passagiere des Dampfers Crefeld nach dreieinhalbwöchiger Reise in Buenos Aires ein.
Trotz sorgfältiger Recherche konnten nicht alle Rechteinhaber der Fotos ermittelt werden. Rechteinhaber werden gebeten, sich bei der Redaktion zu melden.
In der nächsten Folge der dreiteiligen Serie über die Familie Langmandel: Wie Dürre und Erdbeben die Hoffnungen der Auswanderer zunichte machten.