
Im 18. und 19. Jahrhundert war die Auswanderung aus dem Gebiet des heutigen Deutschland eine nicht außergewöhnliche Erscheinung. Ziele waren Osteuropa und in besonderem Maße Nordamerika.
Ganz allgemein wird Auswanderung begünstigt von negativen Verhältnissen im eigenen Land, zum Beispiel wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Krisen, mangelnden oder fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten, religiöser oder politischer Intoleranz und Verfolgung, und positiven Verhältnissen im Einwanderungsland, wie prosperierender Wirtschaft, besonderen Zusagen für den Fall der Ansiedlung, Freiheit und Toleranz. Je größer das Missverhältnis zwischen den Zuständen im eigenen und im fremden Land, je geringer die Beschränkungen einer Aus- beziehungsweise Einwanderung, je unproblematischer die Reise, desto leichter fällt der Entschluss, die Heimat zu verlassen und die nicht abschätzbaren Risiken einer Auswanderung und der Ansiedlung in der Fremde auf sich zu nehmen.
Auswanderungswelle auf den Balkan
Nach den Bevölkerungsverlusten des 30-jährigen Krieges war Franken zunächst Zuwanderungsgebiet aus den nicht oder weniger vom Krieg betroffenen Gebieten. Eine rasche Bevölkerungszunahme verschlechterte aber die vorübergehend günstigeren Wirtschafts- und Lebensbedingungen seit Beginn des 18. Jahrhunderts. Die Missernte von 1723 und die Werbung des über die Türkei siegreichen Habsburg für eine Siedlung auf dem Balkan lösten eine erste Auswanderungswelle aus, der eine zweite nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756 bis 1763) nachfolgte.

Auch aus vielen Gemeinden unseres Landkreises wanderten Menschen in die entvölkerten Gebiete auf dem Balkan aus. Zum Beispiel: Zwischen 1720 und 1803 lassen sich nach Hugo Friedl allein aus Frammersbach 148 Erwachsene, als Einzelpersonen oder mit ihrer Familie, als Auswanderer feststellen. Viele blieben in der neuen Heimat zumindest am Anfang zusammen, so die Frammersbacher in Mecseknádasd/Nadasch in der Nähe von Pecs/Fünfkirchen in Südungarn. Im ungarischen Városlöd bei Veszprém, in dem Auswanderer aus Wiesthal, Habichthal, Heigenbrücken, Neuhütten und Rothenbuch sesshaft wurden, begründete die Erinnerung an die Einwanderung 1990 eine Gemeindepartnerschaft mit Wiesthal.
Schon im 18. Jahrhundert wurde auch für eine Auswanderung nach Amerika geworben. Die Neuenglandstaaten waren aber eher ein Ziel für die Auswanderer aus evangelischen Gebieten, zum Beispiel aus den heute zur Stadt Marktheidenfeld gehörenden Gemeinden der Grafschaft Wertheim, Altfeld, Glasofen, Michelrieth und Oberwittbach. Die Auswanderung setzte hier 1749 ein und hatte einen Schwerpunkt in den 1750er Jahren. Bevorzugte Siedlungsgebiete waren zunächst die Grafschaften in Pennsylvania, dann das Gebiet des späteren Bundesstaates Ohio.

Zu den Auswanderern der 1750er Jahre gehört auch der Altfelder Hans Gerberich, dessen Familie schließlich nach Germantown/Ohio fand, wo noch heute das Familiengrab an die fränkischen Auswanderer erinnert. Zwischen Germantown und Marktheidenfeld bestehen seit den 1980er Jahren freundschaftliche Beziehungen.
Im 19. Jahrhundert wurden die inzwischen unabhängigen Vereinigten Staaten zum Hauptziel der deutschen Auswanderer. Diese Auswanderung setzte mit der rapiden Bevölkerungszunahme nach den Befreiungskriegen und der damit bestehenden Überbevölkerung ein. Die Hungerjahre 1825/26, 1828, 1831 und 1846/47 veranlassten viele Menschen zur Aufgabe ihrer Heimat. Die Erschütterung der alten Ordnung in den Jahren 1848 und 1849 sowie erneute Missernten 1852/53 ließen dann die Auswandererzahlen rasch ansteigen; der Auswanderungsstrom wurde schließlich zur Flut, da in Amerika eine expandierende Wirtschaft mit großem Arbeitskräftebedarf und vergleichsweise hohen Löhnen lockte.
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Erst die von Amerika ausgehende Weltwirtschaftskrise von 1857 ließ die Zahl der Auswanderer absinken, und der amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 verhinderte dann zunächst ein erneutes Ansteigen. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und der nachfolgenden Wirtschaftsblüte der Gründerzeit sank die Auswandererzahl ab. Wirtschaftskrisen in Amerika und Deutschland ließen die Zahl noch weiter zurückgehen.
Als mit Beginn der 80er Jahre die depressive Wirtschaftsphase in den Vereinigten Staaten zu Ende ging, stieg die Auswandererzahl noch einmal steil an. Ab 1885 begann die Zahl zu stagnieren, ab 1890 ging sie dann zurück. In Deutschland hatte sich die Industrie inzwischen so weit entwickelt, dass die Überbevölkerung auf dem Lande durch die Abwanderung in Industriegebiete fast vollständig abgebaut werden konnte. In den Vereinigten Staaten dagegen fand zu dieser Zeit die freie Siedlung auf Regierungsland ihren Abschluss, und eine Wirtschaftskrise löste 1893 die Wirtschaftsblüte der 80er Jahre ab.
Jüdische Auswanderung
Die jüdische Auswanderung im 19. Jahrhundert ist nur ein Teil der Auswanderung aus den verschiedenen deutschen Staaten. Sie hat aber jeweils ihre besonderen Gründe. Mit dem bayerischen Judenedikts von 1813, das Ende 1816, auch im heutigen Unterfranken eingeführt wurde, begrenzte der Matrikelparagraph bis 1861 die Zahl der Juden am Ort. Er erschwerte die Gründung von Familien, verhinderte die Freizügigkeit im eigenen Staat, zwang zur Auswanderung, vor allem nach Übersee.
Für das gesamte 19. Jahrhundert werden 110 – 120.000 jüdische Emigranten aus Deutschland angenommen, mit verstärkter Auswanderung nach 1850. Bekannt sind als Auswanderer aus Unterfranken, die es in Amerika zu etwas brachten, beispielsweise Marcus Goldmann aus Trappstadt (1848), Joseph und Samuel Sachs aus Rödelmaier, Heinrich Lehmann aus Rimpar und Lazarus Morgenthau aus Kleinwallstadt, der Großvater des späteren amerikanischen Finanzministers Henry Morgenthau.

Ein Beispiel aus unserem Landkreis ist Jakob Mosenfelder (1823-1912) aus Urspringen, dessen bescheidenes Elternhaus hinter der Synagoge stand. 1849 verließ er die Armee und wanderte 1850 in die USA aus. Er folgte damit dem Beispiel seiner Cousins Götz Nathan Mandelbaum, geb. 1816, Moses Lazarus Waldauer, geb. 1813, Moses Nathan Mandelbaum, geb. 15. Januar 1808, und Abraham Waldauer, geb. 1818, die 1838, 1840, 1841 und 1849 in Baltimore amerikanischen Boden betreten hatten. Über Philadelphia kam er schließlich nach Rock Island, eine Stadt am Mississippi an der Grenze von Illinois und Iowa gelegen, wo er ein Geschäft eröffnete und 1912 hoch geachtet verstarb. Und aus Urspringen kamen auch Mitglieder der Familien Adler, Fränkel, Freudenreich, Heilner, Schloss und Trepp nach Amerika.
Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang die Familie Stein aus Weickersgrüben, heute Ortsteil von Gräfendorf. Die Enkelin der Auswanderer, die Anfang des 20. Jahrhunderts hochberühmte amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein (1874-1946), beschreibt in ihrem Buch „The Making of Americans“, veröffentlicht 1925/26, in den Personen David und Martha Hersland die Auswanderung ihrer Großeltern Michael und Hanna Stein mit ihren Kindern 1841. Auf den Passagierlisten des Schiffs „Pioneer“ mit Kurs auf Baltimore finden sich die Namen der Familie Stein und weiterer jüdischer Auswanderer aus Heßdorf, Bonnland und Mittelsinn.
Manche Auswanderer kamen zurück
Aus Marktheidenfeld allein wanderten insgesamt rund 190 Personen im 19. Jahrhundert in die USA aus. Zu den ersten nachweisbaren Auswanderer gehören bisher Stefan Spettel und die Familie Brokers, die zusammen mit Auswanderern aus Erlenbach, Steinfeld, Urspringen und Kreuzwertheim von Bremen aus mit dem Schiff „Lucilla“ am 3. August 1840 nach Baltimore kamen.
Nicht alle Auswanderer vermochten aber in der Fremde Fuß zu fassen. Beispiele sind aus Marktheidenfeld Johann Georg Römisch und Kordula Spettel, die beide 1854 nach Amerika auswanderten, aber schon um 1857 wieder in ihrer Heimat zurück waren. Sie vermochten sich aber in Marktheidenfeld nicht mehr einzuleben. Johann Georg Römisch wanderte 1858 ein zweites Mal nach Amerika aus, während Kordula Spettel, die in Amerika Lorenz Klüh geheiratet hatte, mit ihren Kindern nach Australien wegzog.
Zum Autor: Dr. Leonhard Scherg war von 1984 bis 2008 Bürgermeister von Marktheidenfeld, er ist Kreisarchivpfleger für den Altkreis Marktheidenfeld und Rothenfels.
Literatur: www.altvorderen.de (Frammersbach; Auswanderung nach Ungarn); Leonhard Scherg, Auswanderer aus Homburg, in: Homburg am Main, 2. Band, Triefenstein 1982, S. 91-99, 102 und Marktheidenfelder Auswanderer, in: Marktheidenfeld. Von den Anfängen bis zum Ende des 2. Weltkriegs, Marktheidenfeld 2014, S. 345-354 (dort jeweils weiterführende Literatur).
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.