
Wie ergeht es einem katholischen Priester, der sich innerhalb der Kirche für einen verzweifelten Menschen einsetzt – für eine Person, die ihm anvertraut hat, dass sie als Jugendliche von einem Priester sexuell missbraucht worden sei? "Ich war naiv", sagt der 43 Jahre alte Mann rückblickend über seine Erfahrungen. Heute ist Christian K. nicht mehr als Seelsorger im Bistum Würzburg tätig. Das ist seine Geschichte.
Als er vor über zehn Jahren die Frau zusammen mit dem damaligen externen Missbrauchsbeauftragten ins Würzburger Ordinariat begleitete, habe er sich nicht vorstellen können, welche Folgen das für ihn haben könnte. Er wollte die Frau, die er bereits seit 2008 aus seiner Gemeindearbeit kannte, unterstützen, etwas zur Aufklärung beitragen, Offenheit und Transparenz herstellen.
Noch immer nagt es an ihm, wie sich seine Kirche ihm gegenüber verhalten hat. "Nicht im Geiste Jesu", fasst der Theologe seine Erfahrungen zusammen. Christian K. spricht von Druck, von Manipulationen, von Zermürbungen, von Unterstellungen – von Macht und Ohnmacht, aber auch von Widerstand gegen ein "kirchliches Vertuschersystem".
Am Dienstag, 8. April, wird das Missbrauchs-Gutachten des Bistums Würzburg veröffentlicht. Der Mann, der inzwischen distanziert und kritisch auf die Kirche als Institution schaut, nahm an dieser Studie teil. K. führte vor zwei Jahren ein langes Gespräch mit dem Wiesbadener Rechtsanwalt Hendrik Schneider. Der Jurist hat im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Bistum Würzburg (UKAM) das Gutachten erarbeitet.
Die Betroffene, für die sich Christian K. ab 2014 bei seinen Dienstherren einsetzen wollte, hat ebenfalls mit Schneider gesprochen – obwohl sie nicht mehr mit ihrem Fall konfrontiert werden will. Sie beschuldigt einen hochrangigen Geistlichen des Bistums des schweren sexuellen Missbrauchs. Ihre Glaubwürdigkeit wurde 2021 in einem staatlichen Gutachten festgestellt.
K. bezeichnet das Gespräch mit Rechtsanwalt Schneider als gut und zielführend. "Ich habe in seiner Kanzlei in Wiesbaden einen breiten und offenen Gesprächsraum vorgefunden."
Ganz anders seien die Unterredungen Jahre zuvor in Würzburg mit Verantwortlichen im Bistum Würzburg gewesen. Als "krass" bezeichnet K. die "Vernehmung" durch einen Mann, der die Vorwürfe der Frau kirchenintern aufklären sollte: Lorenz Wolf, damals Vorsteher des Kirchengerichts im Erzbistum München-Freising und Leiter des Katholischen Büros. Ihn hatte der frühere Würzburger Generalvikar Karl Hillenbrand mit der kirchenrechtlichen Voruntersuchung des Falls betraut.
Dass der externe Würzburger Ansprechpartner für Missbrauchsopfer, der inzwischen verstorbene Kriminologie-Professor Klaus Laubenthal, die Vorwürfe gegen den hochrangigen Geistlichen für plausibel hielt, spielte weder im Würzburger Ordinariat noch im Münchner Kirchengericht eine Rolle. Die damalige Würzburger Bistumsleitung, Bischof Friedhelm Hofmann und Generalvikar Thomas Keßler, seien ihm nicht gefolgt, sagte Laubenthal 2016 im Gespräch mit dieser Redaktion. Die Staatsanwaltschaft, wie von ihm gefordert, sei nicht informiert worden.
Vor neun Jahren wurde der Fall öffentlich bekannt. "Ab da wurde der Druck gegen mich immens erhöht", so Christian K., "durch die Aufforderung zu Gesprächen, die für mich eher Verhöre waren".
Was hatte er erwartet? "Dass mir kein Misstrauen entgegenschlägt, sondern dass fair und unparteiisch aufgearbeitet wird, mit Respekt gegenüber den Betroffenen", sagt er. Gespürt habe er jedoch "förmlich Kälte, dabei ging es mir um Gerechtigkeit".
K. sieht es rückwirkend nicht als Fehler an, sich für eine Missbrauchsbetroffene eingesetzt zu haben. "Es war gut, dazu stehe ich heute noch." Aber: "Wer am System Kirche und seinen hierarchischen Schutzmechanismen Kritik übt, muss damit rechnen, bekämpft zu werden."
Er habe erlebt, was beim Thema Missbrauch inzwischen in mehreren Studien anderer Bistümer klar analysiert wurde: Der Schutz der Institution stand und steht teilweise immer noch an erster Stelle. In dieser Härte habe er das nicht erwartet.
"Ich habe mich nicht erwartungskonform verhalten", sagt K. Damals sei es ein Tabubruch gewesen, einem Vorwurf gegen einen "Mitbruder" Glauben zu schenken. Erschwerend sei seiner Meinung nach hinzugekommen, dass nicht ein Kaplan oder Pfarrer beschuldigt wurde, sondern ein hochrangiger Geistlicher.
Er sollte vor allem von dem Münchner Kirchenjuristen Lorenz Wolf "gefügig" gemacht werden. So hat es K. empfunden. Zum Gespräch mit dieser Redaktion hat er viele Unterlagen mitgenommen: neben Gedächtnisprotokollen auch offizielle Korrespondenzen oder eine verschriftlichte Tonbandaufnahme des Gesprächs im Würzburger Ordinariat.
Geladen war er als Zeuge. Vorgekommen sei er sich als Beschuldigter. So wurde er gefragt, ob seine Beziehung zu der Betroffenen nicht ganz in Ordnung sei. "Wohl, um mich unter Druck zu setzen." Zudem soll er der Frau erst "eingeredet" haben, dass der hochrangige Geistliche sie missbraucht habe. Und ihre "falschen Erinnerungen" ausgelöst haben.
"Es wurde etwas konstruiert, was nicht den Tatsachen entsprach, und es wurde gegen mich instrumentalisiert", beschreibt Christian K. seine Erinnerungen an die schriftlichen und mündlichen Kontakte mit dem Münchner Kirchenrichter. Er fühlte sich einer "einschüchternden Autorität" ausgesetzt. Einen neutralen Standpunkt habe er nicht erkennen können. Vielmehr habe Wolf immer versucht, ihn zu manipulieren – mit einer perfiden Gesprächsführung: mal freundlich mit harmlosen, dann kühl mit inquisitorischen Fragen. Mit Erfolg, wie sich im Protokoll nachlesen lässt.
Aus Angst vor beruflichen Konsequenzen habe er angefangen, Wolf nach dem Mund zu reden. Das hält sich Christian K. heute noch vor. "Ich hätte mich dem entziehen müssen, mehr Widerstand leisten müssen."
Christian K. soll den Beschuldigten zu Unrecht belastet haben
Stattdessen habe er vertraut, dass er offen mit dem von Würzburg bestellten Aufklärer Wolf reden könne, dass es einen respektvollen Umgang gibt, "dass man ganz im Geiste Jesu und des Evangeliums etwas unvoreingenommen sagen kann".
Es sei aber vielmehr um Gehorsam, um das Mitspielen im System gegangen. "Ich denke, dass die Priesterausbildung bereits auf diese Prägung ausgelegt ist." Und als er nicht funktioniert habe, sei er Ende 2016 erpresst worden. Sein Eindruck: Er sollte zur Kirche halten, den beschuldigten Geistlichen verteidigen. "Von mir wurde ein aktiver Beitrag zu dessen Rehabilitierung verlangt, weil ich ihn angeblich zu Unrecht belastet hätte."
Christian K. suchte sich therapeutische Hilfe
Dieser Anweisung ist er nicht nachgekommen. K. wollte, sagt er, durch sein Engagement mehr Empathie im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen erreichen, "dass man fair und unparteiisch urteilt, Betroffenen zuhört".
Ein weiteres anberaumtes Gespräch in München sagte er Ende 2016 ab. "Danach stürzte ich in eine Krise und suchte auch therapeutische Hilfe."
Nach Monaten habe er klarer gesehen, "was für mich, für mein Leben wichtig ist. Zu meiner Genesung gehörte auch die Erkenntnis: Ich konnte nicht mehr Teil dieser Kirche in Würzburg sein." Der Vertrauensbruch sei groß und "maßgeblicher Hintergrund" seines Abschieds gewesen. "Ich habe vor fast sieben Jahren mein Amt als Priester niedergelegt", sagt K. Der Würzburger Bischof Franz Jung, der bei den zuvor geführten Gesprächen noch nicht im Amt war, habe ihn daraufhin suspendiert. Eine Kritik von Jung an seinem Vorgänger war bei diesem Gespräch laut K. kein Thema.
"Heute arbeite ich als Theologe an einer Universität, schreibe gerade an meiner Habilitation." K. ist zuversichtlich, obwohl die Suspendierung ihm bereits einmal eine berufliche Benachteiligung eingebracht hätte.
K. weiß nicht, ob und wie sein Bericht im Würzburger Gutachten einfließt. Er ist skeptisch. Aber auch zufrieden, dass es die Gelegenheit zum Gespräch gab. Er sei sich im Klaren: "Meine Sicht der Dinge ist durchaus auch perspektivisch". Deshalb sei es ihm wichtig gewesen, sie im Würzburger Gutachten einzubringen, "um sie von Dritten wahrnehmen und prüfen zu lassen". Zudem habe er sich etwas von der Seele reden können.
Als er sich noch als Priester sah, als Mitarbeiter der Kirche in Würzburg, sei er von der klerikalen Macht fast erdrückt worden. Sein Abgang wurde nur mit einem Satz im Würzburger Amtsblatt erwähnt – viele Wochen nach seiner Entscheidung.
K. habe die "Feindseligkeit des Systems im Umgang mit systemimmanenten Kritikern" hautnah erlebt. Diese hätten in der Kirche damals wie heute keinen guten Stand, ist er sich sicher.
Christian K. suchte nach weiteren Personen mit ähnlichen Erfahrungen
Solidarität gebe es nur bedingt. "Mit mehreren befreundeten Kirchenleuten habe ich damals geredet", sagt K. Die meisten hätten ihm nur stumm zugehört, danach nichts getan.
Hat er es als Genugtuung empfunden, dass Lorenz Wolf vor zwei Jahren, nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens, selbst in die Kritik geraten ist? Ihm wurde Fehlverhalten vorgeworfen. Wolf habe zu sehr zugunsten der Priester und Täter gehandelt und zu wenig im Sinne der Opfer. Wolf selbst schrieb damals in einer Stellungnahme, "auch bekenne ich, dass ich mich nicht nachhaltig genug an die Seite der Opfer gestellt habe".
K. sagt: "Diese Aussagen waren für mich der Auslöser, nach weiteren Personen zu suchen, denen es innerhalb eines kirchlichen Kontextes so ergangen ist wie mir." Gefunden hat er bislang niemanden. Dass es niemanden gibt, glaubt Christian K. indes nicht.
Meine Hoffnung in die, nun auch nicht mehr so neue, Kirchenführung im Bistum Würzburg, namentlich Bischof Franz Jung und Generalvikar Jürgen Vorndran, beim Thema Missbrauch deutlich engagierter und konsequenter zu sein als die Vorgänger, besteht weiterhin.
Gerade Altbischof Friedhelm Hofmann habe ich als Mann erlebt, der ob seiner Ansichten, etwa zum Thema Kruzifix in öffentlichen Gebäuden, scheinbar in einem anderen Jahrhundert lebt. Dies lässt Rückschlüsse auf seinen offenbar sehr konservativen Charakter zu. Wenn ich diese Reportage lese, wird mein Eindruck nur bestätigt.
Ich prophezeie: Wenn die Kirche, gerade auch hier im Bistum, sich nicht radikal vom jahrzehnte-, oder besser gesagt jahrhundertelangen System des Vertuschens, Verleugnens und Schönredens von sexuellem wie geistlichem Missbrauch lossagt, wird sie zu einer Sekte verschrumpfen.
Wie das nach außen wirkt, bekommen die in ihrer Blase mitunter gar nicht mit, wird verdrängt - und oftmals gelingt ja die aggressive Vertuschung und Täuschung, die der Bericht so schön beleuchtet.
Auch dieser Bericht ist ja nur möglich, weil eine Person, Christian K., sich beharrlich gegen strukturelle Einschüchterung und Machtmissbrauch zur Wehr setzt.
Hier geht es nicht nur um Missbrauch aus einer Institution heraus, deren Agieren hier als besonders widerwärtig und verlogen anzusehen ist - sondern auch um Vertuschung mittels strukturelle Gewalt, Täter-Opfer-Umkehr unter Ausnutzung und im Schutz des Nimbus dieser Institution.
nichts von relativieren!!! Tatsache ist, dass die kirchenfeindliche Propaganda wieder fest mitmischt.
Wenn Sie nicht wissen, was Relativierung bedeutet, ist das nicht das Problem Ihres Gegenübers!
Sie relativieren die Fälle kirchlichen Missbrauchs um die es hier geht mit Verweisen auf fiktive Fälle bei "Sportvereinen" etc., die hier weder das Thema sind noch in irgendeiner Weise den Missbrauch durch kirchliche "Würdenträger" weniger abstoßend machen.
Für Sie zur Erklärung: " Whataboutismus (von englisch What about …? Was ist mit …?“) ist ein rhetorisches Verfahren, das eine Kritik durch den Verweis auf andere Missstände relativiert oder vom eigentlichen Thema ablenkt." (Wikipedia)
Aber ich fürchte, eine frühe katholische Sozialisierung richtet bisweilen irreparable Schäden an.
die lt. Wikipedia alle vier Evangelisten schildern - die Vertreibung der Geldwechsler etc. aus dem Tempel. Alle "verdienen" (und sichern sich Machtstellungen) im Namen der Kirche, aber sicher nicht im Geiste Jesu Christi. Habe auch schon mal die Mutmaßung gehört, der würde wahrscheinlich heutzutage ob seines Revoluzzer-Denkens glatt selber exkommuniziert...
Alles erdenklich Gute für Herrn K., auf dass er jetzt mehr positive Erfahrungen mache im Leben!!
Die Exzellenzen, „Hochwürden“, Eminenzen … usw. in all ihrer Pracht verantworten mehrheitlich eine krasse Irreführung in Dienste des Machterhalts... Und an der Wand hängt ein entkleideter Mann, einen Schurz vor den Genitalen …
Ich hatte schon fast wieder verdrängt, das ich aus dieser unchristlichen Vereinigung "katholische Kirche" längst austreten wollte.
Solche Organisationen darf man einfach nicht mehr unterstützen.
aber was erwarten Sie (sich) davon?
Die genannten Herrschaften wissen sicherlich selber, welchem Sumpf sie gegenüberstehen, aber dagegen (ernsthaft) was zu unternehmen?! Um Himmels Willen!
Die sind glatt in der Lage und beauftragen auch noch ChatGPT mit einer schönen ebenso salbungsvollen wie nichtssagenden Antwort...
Jedoch "die Kirche", Menschen in Führungspositionen, die vorgeben, den christlichen Idealen nach zu eifern, wähnen sich eher als elitärer Haufen und halten den "Laden"Kirche mit aller Macht zusammen, eher mit Methoden, wie man sie in mafiösen Strukturen erkennen kann.
Inquisition: Dieser Begriff ist für mich mit Folter, Qual und Leid verbunden !
Ich verstehe die exponierte Stellung dieses Vereins "Kirche" nicht. Wenn jemand mißbraucht wird, sollte der erste Weg zu Polizei/Staatsanwaltschaft sein.
Wieso sollte dieser Verband sich über unsere Gesetze hinwegsetzen dürfen und schwerste kriminelle Taten in Eigenverantwortung nach "Kirchengesetzen"regeln dürfen???
Hier ist absolut Handlungsbedarf vorhanden, denn als souveräner Staat darf ich mir von so einer Institution nicht auf der Nase herumtanzen lassen, siehe Kirchenasyl!
Fassade ist alles, Fehler werden mit allen Mitteln vertuscht, wer Widerstand leistet wird manipuliert, stigmatisiert, ausgegrenzt, eingeschüchtert.
Existenzen werden skrupellos zerstört, unter Ausnutzung von Nimbus und Netzwerken.
Diese strukturelle Gewalt in autoritär-hierarchischen Systemen wird immer noch nicht strafrechtlich verfolgt oder gesellschaftlich so geächtet, wie es sein müsste - weil viele Menschen immer noch nicht verstehen, was da läuft.
Die drakonische Verfolgung von Kleinstdelikten oder von "Betatschen" als sexuelle Gewalt oder "Vergewaltigung", das Aufpumpen von Beleidigungen zu "Hass und Hetze" etc., diese ganze Stimmungsmache lenkt von all dem folgenschweren Machtmissbrauch bestens ab - die Obrigkeitshörigkeit tut ein übriges.
Der Vertrauensverlust in die Institutionen spricht für sich - wie lange glaubt man noch so weitermachen zu können?
Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Whistleblower, die in Unternehmen, Behörden etc. auf Missstände oder Gesetzesverstöße hinweisen, in der Regel auch heute immer noch so oder ähnlich ergeht.
Eine Ausnahme habe ich bisher erlebt. Das war bei der Bundeswehr. Dort entsteht, wegen der doch häufigeren Versetzungen bei den Offiziersdienstgraden und der wirklich unabhängigen Wehrbeauftragten, nicht so leicht dieses Geflecht aus gegenseitiger Abhängigkeit und in der Folge Vertuschung und Bestrafung der Unschuldigen.