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Würzburg
"Die ersten Tage in Freiheit waren voller Angst, Einsamkeit, Ohnmacht": Würzburger über das Leben nach langer Haft
Fast fünf Jahre Gefängnisalltag in der JVA Würzburg. Wie schwer ist es, in die Gesellschaft zurückzufinden? Wie fühlt es sich an, wieder frei zu sein? Ein Mann erzählt.
Viereinhalb Jahre war Albert K. in der JVA Würzburg inhaftiert. Als er endlich in die Freiheit entlassen wird, bieten sich ihm neue Chancen - und Herausforderungen. 
Foto: Christoph Weiss | Viereinhalb Jahre war Albert K. in der JVA Würzburg inhaftiert. Als er endlich in die Freiheit entlassen wird, bieten sich ihm neue Chancen - und Herausforderungen. 
Gina Thiel
 |  aktualisiert: 02.12.2023 02:51 Uhr

Plötzlich ging die Tür auf und da stand Albert K. nun. Viereinhalb Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet, immer wieder hatte er mit den Therapeutinnen und Therapeuten der Justizvollzugsanstalt Würzburg (JVA) alles durchgesprochen. Bei Freigängen und im Hafturlaub hatte sich Albert K., der eigentlich anders heißt, auf diesen Moment vorbereitet.

Doch als es endlich so weit war, überströmten ihn die Emotionen. Das Gefühl der Freiheit: überwältigend. Plötzlich war alles wieder möglich, alles, worauf er viereinhalb Jahre hatte verzichten müssen. Aber mit der Freude über die neugewonnene Freiheit kamen auch ernstere Gedanken auf, erzählt Albert K.: Versagensangst, Druck, Selbstzweifel. "Jetzt muss ich all das umsetzen, was ich mir im Gefängnis vorgenommen habe."

In eine Abwärtsspirale geraten: Alkohol, Schicksalsschläge, Straftaten

Albert K. ist Ende 30, er stammt nicht aus Würzburg. Sein Erscheinungsbild ist unauffällig, zierliche Statur, kleine Nase. Er wollte Pilot werden, doch sein Traum scheiterte aus gesundheitlichen Gründen. Der erste von vielen Rückschlägen in seinem Leben. Ablehnung habe er oft erfahren und den Umgang damit lange Zeit nicht gelernt, erzählt er. Sein leiblicher Vater hatte die Familie früh verlassen und den Sohn nie kennenlernen wollen – mit der Zurückweisung habe er lange zu kämpfen gehabt.

Finanziell hätten seine Mutter und sein Stiefvater immer versucht, ihm ein unbeschwertes Leben zu ermöglichen, sagt K.. Doch Konflikte mit dem Stiefvater seien nicht ausgeblieben. Und über Gefühle wurde in der Familie nur selten gesprochen. Ein Grund, warum er sich als Elfjähriger seinen Eltern nie anvertraut habe, als der ältere Nachbarsjunge sich ihm immer häufiger näherte und ihn zu sexuellen Handlungen zwang.

Haftstrafe wegen Trunkenheit am Steuer: ein Weckruf

Im Alter von 13 Jahren trank K. zum ersten Mal Alkohol. Es folgten regelmäßige Exzesse, irgendwann erste Straftaten im Zusammenhang mit Alkohol. 2007 dann der erste große Tiefpunkt: Unter Alkoholeinfluss verursacht K. einen Autounfall, der Beteiligte überlebt nur knapp. Zwei Jahre später kommt K. zum ersten Mal ins Gefängnis wegen Trunkenheit am Steuer – fünf Monate Haftstrafe mit anschließender Bewährung.

Für ihn ein längst überfälliger Weckruf, wie Albert K. rückblickend sagt. Er habe sich aufgerappelt, sich vorgenommen, alles besser zu machen und sein Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken:  Alkoholkonsum in "gesellschaftlich akzeptiertem Maß", fester Job, stabiler Freundeskreis.

"Das hat mir komplett den Boden unter den Füßen weggezogen."
Albert K. über den Tod von Mutter, Stiefvater, Oma

2013 bringt ein Schicksalsschlag alles zum Einsturz. Innerhalb weniger Wochen verliert K. seine Mutter, seinen Stiefvater und seine Oma. "Das hat mir komplett den Boden unter den Füßen weggezogen." Erneut findet er Trost im Alkohol und gerät während der Bewährungszeit wieder auf die schiefe Bahn.

Trunkenheit am Steuer, Glücksspiel, verschiedene Sexualdelikte an Jugendlichen - 2018 nimmt die Polizei Albert K. endgültig in Gewahrsam. "Es liefen zu viele offene Verfahren gegen mich", erinnert er sich. Der Richter verurteilt ihn zu insgesamt viereinhalb Jahren Gefängnisstrafe. K. wird an die JVA Würzburg überstellt und fasst in Haft den Entschluss, hier neu anzufangen: neue Stadt, neues Umfeld, neues Leben. 

Raus aus der JVA Würzburg –rein in die Einsamkeit 

In Würzburg sollte alles besser werden. Doch die erste Zeit nach der Haftentlassung sei alles andere als leicht gewesen, schildert K.: "Die ersten Tage waren voller Angst, Einsamkeit und Ohnmacht." Das erste Mal nach über vier Jahren war er auf sich allein gestellt, musste wieder selbst Verantwortung übernehmen.

"Einkaufen und Wäsche waschen – viereinhalb Jahre lang wurde mir das in Haft abgenommen", erinnert sich Albert K. an seinen ersten Abend nach der Entlassung. Kurz vor Ladenschluss sei er in den Supermarkt um die Ecke gerannt, weil er beinahe vergessen hatte, Frühstück für den nächsten Tag zu besorgen.

Vor kurzem aus langer Haft entlassen: Albert K. in Würzburg am Alten Kranen. Im Interview spricht er darüber, wie es sich anfühlt, plötzlich aus dem Gefängnis zu kommen.
Foto: Christoph Weiss | Vor kurzem aus langer Haft entlassen: Albert K. in Würzburg am Alten Kranen. Im Interview spricht er darüber, wie es sich anfühlt, plötzlich aus dem Gefängnis zu kommen.

Es sei vor allem das plötzliche Alleinsein gewesen, mit dem er anfangs am meisten zu kämpfen hatte. Im Gefängnis habe er immer Menschen um sich herum gehabt, sagt K.. Jeden Abend und jeden Morgen habe eine Beamtin oder ein Beamter seine Zelle auf und zu gesperrt und sich nach ihm erkundigt. Seine neu gewonnene Freiheit war vor allem eines: einsam. Die Stille in seiner Wohnung sei beinahe erdrückend gewesen, sagt K.. Etwas, worauf ihn niemand im Gefängnis hätte vorbereiten können.

Anbindung an Hilfsangebote nach der Haft sorgen für Stabilität und Unterstützung

Doch er sei besser auf die Entlassung vorbereitet gewesen als manch anderer, sagt K.. Aufgrund der Schwere seiner Straftat wurde er auch in Haft psychotherapeutisch betreut. Drei Jahre habe er in der Therapie an Strategien gearbeitet, auf die er in Freiheit zurückgreifen kann, wenn der Druck zu groß zu werden droht oder er in Versuchung gerät, wieder zur Flasche zu greifen. Das sollte helfen, sich wieder erfolgreich in die Gesellschaft "draußen" eingliedern zu können.

Erleichtert hat K. den neuen Start in die Freiheit aber vor allem eines: das Hilfsprogramm "ambulantes betreutes Wohnen" der Christophorus Gesellschaft in Würzburg. Ein Jahr vor der Entlassung hatte sich K. auf einen Platz in dem Wiedereingliederungsprogramm beworben. Die Perspektive auf eine eigene Wohnung bei Haftentlassung habe ihm eine Zukunftsperspektive und die nötige Stabilität gegeben, ist sich K. sicher.

Stefan Hohnerlein von der Beratungsstelle für Strafentlassene ist zuversichtlich 

Die Christophorus Gesellschaft in Würzburg ist Anlaufstelle für Menschen, die in seelische oder soziale Not geraten sind: Wohnungslose, strafentlassene oder verschuldete Menschen erhalten hier niedrigschwellig Hilfe und Angebote: "Für eine Bewerbung in unserem Hilfsprogramm müssen die Strafentlassenen komplett die Hose runterlassen", erklärt Stefan Hohnerlein, Einrichtungsleiter der Zentralen Beratungsstelle für Strafentlassene der Christophorus Gesellschaft in Würzburg. Dies sei zwar ein großer Schritt für viele, aber die nötige Vertrauensbasis für die Aufnahme in das Programm.

"Für eine Bewerbung in unserem Hilfsprogramm müssen die Strafentlassenen komplett die Hose runterlassen."
Stefan Hohnerlein, Einrichtungsleiter in der Christophorus Gesellschaft in Würzburg

Hohnerlein begleitet Albert K. seit seiner Entlassung und besucht ihn regelmäßig in der Wohnung, die die Gesellschaft angemietet hat. Der Sozialpädagoge ist zuversichtlich, was die Zukunft von K. und die Herausforderungen der Freiheit betrifft: "Er ist sehr offen, transparent und meldet sich immer freiwillig, wenn er der Meinung ist, dass seine Stabilität zu kippen droht." Auch seinen Alltag habe K. schnell und selbstständig zu strukturieren begonnen –ein gutes Zeichen, sagt der Sozialarbeiter. "Er hat sich sehr schnell ehrenamtlich engagiert und um einen Job bemüht."

K. ist in der Gesellschaft angekommen – doch Herausforderungen bleiben

Mittlerweile ist ein Jahr vergangen, seit K. die JVA verlassen hat. In Würzburg fühlt er sich inzwischen Zuhause. Er hat einen festen Job, erste soziale Kontakte geknüpft und "muss nicht mehr bei jeder kleinen Strecke Google-Maps nutzen". Was für viele vielleicht nebensächlich sein mag, bedeutet für ihn, dass er angekommen ist – in Würzburg und in der Gesellschaft.

Die Herausforderungen bleiben: "Ich muss jetzt den Rest meines Lebens halten, was ich mir selbst versprochen habe: Ich werde kein Täter mehr sein", sagt K. entschlossen. Dass dies nicht unrealistisch ist, bestätigt Ralf Bergner-Köther, Leiter Abteilung Sexualmedizin in der psychiatrischen Institutsambulanz in Bamberg. "Bei Personen, die bereits in Haft waren, ist die Chance gar nicht so schlecht, dass sie straffrei bleiben", sagt Bergner-Köther. Unter 10 Prozent aller verurteilten Sexualstraftäter würden früher oder später wieder straffällig werden.

"Bei Personen, die bereits in Haft waren, ist die Chance gar nicht so schlecht, dass sie straffrei bleiben."
Ralf Bergner-Köther, Abteilungsleiter in der psychiatrischen Institutsambulanz in Bamberg

Durch die Therapie während und nach der Haft habe K. gelernt, die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, sagt er. Früher habe er seine Fehltritte immer mit dem Alkohol entschuldigt und damit, "dass andere böse zu mir waren". Heute weiß er: "Ich habe andere Menschen ausgenutzt und ihnen das Leid zugefügt, was ich eigentlich in meinem Inneren selbst gespürt habe."

Größte Herausforderung aktuell: Sich selbst wieder vertrauen

Es habe sich viel geändert, sagt K.. Er sei inzwischen ein anderer Mensch geworden – und doch im Kern auch immer noch der Gleiche geblieben. Das auszubalancieren falle ihm teilweise noch schwer. "Die Person, die ich die vergangenen viereinhalb Jahren in Haft war, die lässt sich nicht eins zu eins mit nach draußen nehmen. Und die Person, die ich vor der Haftzeit war, die möchte ich nicht mehr sein." Sich in diesem Zwist auch selbst neu kennenzulernen, daran arbeite er jetzt in der Therapie.

Fünf Jahre steht K. noch unter Führungsaufsicht, muss regelmäßig Termine bei der Bewährungshilfe und der Christophorus Gesellschaft wahrnehmen, sie über seine Entwicklung auf dem Laufenden halten und melden, wenn er den Wohnort wechselt oder in den Urlaub fährt. Er darf sich bestimmten Orten wie Schulen und Spielplätzen nicht nähren und muss sich regelmäßig im Jahr bei der Polizei melden. Auch die therapeutische Nachsorge gehört zu den Auflagen. Bei Ausreißern droht ihm die sofortige Rückkehr in Haft.

Rückfallprävention: Strategiepapier als doppeltes Sicherheitsnetz

Eine wichtige Rolle spielt die Alkohol-Abstinenz, erklärt Psychotherapeut Ralf Bergner-Köther. "Ein entscheidender Faktor dabei, wie es zu Straftaten kommen kann, stellt auch der Substanzmissbrauch dar, weil das natürlich die Hemmschwelle nochmal nach unten setzt."

Um nicht rückfällig zu werden, besucht K. regelmäßig Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker. Und er hat ein Strategiepapier erstellt, das ihm helfen soll, frühzeitige Rückfallanzeichen zu erkennen. Um auf Nummer sicher zu gehen, hat er das Papier auch Stefan Hohnerlein von der Christophorus Gesellschaft, seiner Bewährungshilfe und den Therapeuten zukommen lassen.

"Dass er so etwas erstellt hat, ist super und auch, dass er es mit anderen Leuten, denen er vertraut, teilt", sagt Bergner-Köther. Für ihn sei es sein doppeltes Sicherheitsnetz, sagt Albert K. selbst. Nach all dem, was passiert sei, falle es ihm schwer sich selbst zu vertrauen. Das Wissen, dass andere einen Blick auf ihn haben, und auch die strengen Bewährungsauflagen würden ihm Sicherheit geben. 

Albert K.s langfristiges Ziel: das Vertrauen in sich selbst zurückzugewinnen. Mit jedem Tag, an dem er straffrei bleibt und nicht rückfällig wird, falle ihm das leichter. 

 
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  • Roland Rösch
    Weil das so das Gericht entschieden hat, auch ob dies notwendig ist vielleicht noch mit Gutachter Einschätzung.
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  • Martin Deeg
    Sehr gut, die Perspektive der Menschen, die Haft und Strafvollzug unmittelbar betrifft, findet viel zu wenig statt.

    Wieso aber JVA, wenn maßgeblicher Faktor der Alkoholmissbrauch war, weshalb kam hier nicht § 64 StGB zur Anwendung?

    Am Rande beleuchtet auch dieses Schicksal wieder: Täter wurde zuvor selbst Opfer....
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