Als Thomas das erste Mal zur Therapie kommt, denkt er noch, "es" würde vielleicht einfach wieder weggehen. Die Fantasien würden wieder verschwinden. Junge Mädchen, teils noch Kinder - seit nunmehr fast drei Jahren kreisen die Gedanken an sie in seinem Kopf. Doch schon am Anfang sagen ihm die Therapeuten, dass er sich nicht allzu große Hoffnung machen solle. Dass "das" eben nicht mehr einfach so weggehe. Er müsse lernen, damit zu leben. Lernen, einen der stärksten Triebe des Menschen zu unterdrücken. Den Sexualtrieb.
Thomas heißt nicht wirklich Thomas. Der Name ist ein Pseudonym, das er für die Therapie benutzt. Seine Stimme klingt jung am Telefon, auf die Frage nach seinem Alter antwortet er: grob 30. Bloß nicht zu viel verraten – zu groß ist das Risiko, dass man Rückschlüsse auf seine wahre Identität ziehen könnte. Dass Freunde, Familie oder der Arbeitgeber plötzlich wüssten, dass er pädophil ist. Wie Schätzungen zufolge 250 000 Männer in Deutschland.
Thomas' Geschichte beginnt Ende 2016. Vielleicht auch schon früher, gemerkt habe er vorher jedenfalls nichts. Dann sind da Fantasien mit einem jungen Mädchen, 13 Jahre alt, aus einer Wohngruppe. Thomas ist gelernter Erzieher und betreut die Jugendlichen, die dort leben. Erst spielt er die Gedanken herunter, denkt, er bilde sich das bloß ein, das könne doch gar nicht sein. Abends im Bett stellt er sich vor, wie das Mädchen in seinem Arm liegt, wie sie sich küssen, sich berühren. Am Telefon macht er eine kurze Pause. Dann sagt er: "Mir war klar, dass das falsch ist."
Ein unscheinbares Gebäude in der Innenstadt von Bamberg. Es gehört der Sozialstiftung. Im zweiten Stock öffnet ein Mann die Tür, der Empfang ist unbesetzt, die Flure sind wegen Corona leer. Er führt in sein Büro, das aussieht wie ein Krankenzimmer, in dem einst zwei Betten standen. Jetzt stehen dort ein Schreibtisch, zwei schwarze Ledersessel, dazwischen ein kleiner runder Holztisch, darüber hängt ein Gemälde an der Wand. Auf dem Schildchen an seiner Brust steht: Dr. R. Bergner-Köther, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut.
Wer sich zu Kindern hingezogen fühlt, kann sich freiwillig melden
Wer in sein Zimmer kommt, kommt freiwillig und anonym. Wer hier empfangen wird, muss seinen echten Namen nicht nennen, muss seine Krankenkarte nicht einlesen und damit auch nicht die Diagnose Pädophilie an die Krankenkasse weitergeben lassen. Psychologe Ralf Bergner-Köther betont, dass hier, in der Ambulanz des Präventionsnetzwerks "Kein Täter werden", auch andere Patienten behandelt werden. Schließlich soll niemand denken: Da gehen doch nur die Pädophilen rein.
Auf den Flyern auf dem Tisch steht eine Frage, deren Beantwortung bei Betroffenen einem Eingeständnis gleichkommt: "Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?" Wer diese Frage mit "Ja" beantwortet oder sich nicht ganz sicher ist, kann sich an "Kein Täter werden" wenden. Die Voraussetzungen: Es darf kein strafrechtliches Verfahren wegen eines sexuellen Vergehens an Kindern vorliegen. Das heißt, der Betroffene hat entweder keine Straftaten begangen oder diese sind bis heute unentdeckt geblieben, also im sogenannten Dunkelfeld. Zudem sollte die Pädophilie über einen längeren Zeitraum – mindestens über sechs Monate – bestehen.
Die Gedanken verschwinden nicht - Thomas sucht Hilfe
Bei Thomas gingen die Gedanken nicht weg. Nicht in sechs Monaten, nicht später. Dem Mädchen in seinen Fantasien folgen andere Jugendliche. Bald schon kommen Kinder dazu. Der Erzieher merkt, wie er bei der Arbeit mit ihnen seine sexuelle Erregung verstecken muss, die Situation nicht mehr richtig unter Kontrolle hat. Thomas weiß, dass er Hilfe braucht, und wendet sich an das Präventionsnetzwerk in Bamberg. Vor dem ersten Gespräch, sagt er, sei er "aufgeregt wie sonst was" gewesen. Wer will schon über etwas reden, worüber man mit niemandem reden möchte. Worüber Thomas bis heute mit niemandem außer den Therapeuten und der Reporterin gesprochen hat.
Thomas weiß: Er hat es sich nicht ausgesucht, pädophil zu sein. "Menschen, die pädophil sind, haben eine sexuelle Neigung, für die sie nichts können", sagt Therapeut und Projektleiter Ralf Bergner-Köther. Dennoch würden Betroffene von der Gesellschaft in der Regel stigmatisiert. Und immer wieder taucht der Begriff Pädophilie im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch auf. "Man hört immer nur von den bösen Pädophilen, die wieder irgendwas gemacht haben. So sind wir bei weitem nicht alle", sagt Thomas. Er kenne das Bild ganz genau, das die Gesellschaft von Pädophilen habe. Krank, ekelhaft, pervers. "Und wenn ich dieses Bild von mir selbst habe – das ist schrecklich." Thomas spricht hochdeutsch, auch wenn ihm immer wieder ein fränkisches "a weng" durchrutscht.
In der Sexualmedizin macht man eine wichtige Differenzierung, um der Stigmatisierung vorzubeugen: "Wir unterscheiden bewusst zwischen Pädophilie und Pädokriminalität", erklärt Ralf Bergner-Köther. "Menschen, die kriminell handeln, sind pädokriminell. Menschen, die eine sexuelle Ansprechbarkeit auf den kindlichen Körper haben, haben eine Pädophilie. Aber sind deshalb nicht unbedingt schlecht, solange sie verantwortungsbewusst damit umgehen."
Nicht jeder Pädophile ist ein Missbrauchstäter
Dass nicht jeder Pädophile seinen Trieb auslebt und zum Täter wird, zeigen die Statistiken: Circa 40 Prozent der sexuellen Übergriffe auf Kinder werden von pädophilen Männern begangen. Die Mehrzahl, knapp 60 Prozent, wird von Männern ohne entsprechende Sexualpräferenz begangen. Der sexuelle Missbrauch eines Kindes ist für sie Ersatz für eigentlich gewünschte Sexualkontakte mit erwachsenen Partnern. Er geschieht beispielsweise, weil Erwachsene als zu unnahbar erlebt werden.
"Eine Pädophilie alleine stellt nach den Maßstäben der Weltgesundheitsorganisation keine Erkrankung dar", sagt Ralf Bergner-Köther. Von Erkrankung könne man erst sprechen, wenn sich eine pädophile Störung entwickelt habe, die zu Leid bei dem Betroffenen selbst oder bei anderen führe. Zu den Ursachen der Neigung ist wissenschaftlich wenig bekannt. Es könnte eine genetische Vererbbarkeit geben, die gepaart mit gewissen psychischen und sozialen Faktoren dann möglicherweise dazu führt. "Wir wissen zum Beispiel, dass die Rate der Pädophilen bei denjenigen, die selbst Missbrauchsopfer waren, etwas höher ist als in der normalen Bevölkerung", sagt Ralf Bergner-Köther. Gleichzeitig gebe es aber zahlreiche weitere Faktoren, die die Entstehung der sexuellen Präferenz beeinflussen.
In Gruppentherapien lernen die Betroffenen bei "Kein Täter werden" andere Pädophile kennen, bestärken sich gegenseitig in dem Vorhaben, Verantwortung für ihre Neigung zu übernehmen. "Ein wichtiger Schritt in der Therapie ist, dass die Patienten sich das erst einmal eingestehen, dass sie was haben, was sie vielleicht nicht haben wollen, aber dass das einfach da ist", sagt der Therapeut. "Ist es erst einmal im Bewusstsein, kann ich anfangen, mein Verhalten dementsprechend zu kontrollieren." Und das sei gut, denn: "Wenn ich ständig versuche es zu verdrängen, dann kann es sein, dass es mich irgendwann impulsiv überrascht – meine Lust oder mein sexueller Trieb."
Rat: Zwei Vertraute hinzuziehen - auch als Kontrolle
Psychotherapeut Ralf Bergner-Köther hält es für sinnvoll, dass Betroffene ein oder zwei enge Vertraute über ihre Neigung aufklären – auch als externe Kontrolle. Dabei denkt er über die Therapie hinaus: Entwickle der Patient Jahre nach der Therapie wieder Fantasien, die stärker werden, dann sei es schön zu wissen, dass es jemanden gibt, den man direkt darauf ansprechen könne, und man nicht erst wieder die Hemmschwelle zur Therapie überwinden müsse.
Etwa zwei Drittel derjenigen, die sich an die Ambulanz in Bamberg wenden, haben sich entweder Missbrauchsabbildungen im Internet angeschaut oder - im Dunkelfeld - auch schon einen Missbrauch begangen. Für die Therapeuten gilt die Schweigepflicht, selbst wenn der Patient ihnen einen zurückliegenden Missbrauch gesteht. "Wenn wir jeden Patienten, der irgendwas gemacht hat, anzeigen würden, dann kommt keiner mehr. Dann können wir auch keinen Schutz mehr für Kinder und Jugendliche bieten", sagt Bergner-Köther. Anders sehe das aus, wenn eine akute Gefahr für Kinder im Umfeld des Patienten bestehe. "Wir dulden keine sexuellen Missbräuche nach Beginn der Therapie."
Thomas sagt, er habe nie ein Kind missbraucht. "Ich hatte nie das Bedürfnis, ein Kind anzufassen." Fantasien und Gedanken sind für ihn okay, doch er ziehe eine Grenze: Sex mit Kindern sei ein No-Go – selbst in Gedanken. Er klingt stolz, als er das sagt. Auch als er betont, er habe sich bisher keine Missbrauchsabbildungen von Kindern im Internet angeschaut. "Ich habe mir Zeichnungen angeschaut, hauptsächlich japanische Sachen." Auch wenn dabei keine echten Kinder zu sehen gewesen seien, habe er sich dabei schlecht gefühlt.
Anfang 2020 steht für Thomas der Entschluss fest, nicht mehr mit Kindern arbeiten zu können. Als Schutz für die Kinder und für ihn selbst. Bei seinem alten Arbeitgeber schiebt er Gründe für den Jobwechsel vor. Dass er pädophil ist, erwähnt er nicht. Er besucht weiter alle zwei Wochen die Therapie bei "Kein Täter werden" – wenn auch wegen Corona nur über das Telefon. Dann bespricht er mit dem Therapeuten, wie es ihm in den vergangenen zwei Wochen ergangen ist.
"Kein Täter werden" wird finanziert vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen und dem Bayerischen Justizministerium. Seit der Öffnung der Ambulanz in Bamberg 2016 sind circa 130 Personen zum Erstgespräch gekommen. Die Therapiedauer ist individuell, insbesondere, weil die Patienten freiwillig hier sind. Die einen sind nach zehn Sitzungen sicher, mit ihrer Neigung umgehen zu können, andere kommen nach zwei Jahren noch. Und dann gibt es noch diejenigen, deren sexueller Trieb so stark ist, dass die Therapie mit Medikamenten begleitet wird. Beispielsweise mit Antidepressiva, bei denen der Verlust der Libido eine häufige Nebenwirkung ist, oder Testosteron-Blocker.
Fantasien hin zu Erwachsenen verlagern
Ralf Bergner-Köther hält es für möglich, dass Personen, die sich nicht ausschließlich zu Kindern, sondern auch zu Erwachsenen hingezogen fühlen, die Intensität und Häufigkeit ihrer Fantasien hin zu Erwachsenen verlagern können. Das macht Thomas Hoffnung, denn er ist nicht kernpädophil, das heißt, er findet auch Erwachsene anziehend. Vielleicht, sagt er, könne auch er irgendwann eine "normale" Sexualität haben. In den vergangenen Jahren seien eine Beziehung und sexuelle Kontakte für ihn undenkbar gewesen. Weil er, wie er sagt, selbst nicht mit sich im Reinen war.
Thomas hat einen Wunsch an die Gesellschaft: "Mir würde es schon reichen, wenn Pädophile nicht mehr verteufelt werden." Es gebe genug Pädophile, die sich ein "normales" Leben wünschten. Die sich wünschten, mit einem gleichaltrigen Partner zusammen zu sein und ein Sexualleben führen zu können.
Dann wird Thomas' Stimme ein wenig lauter, er klingt bestimmter. "Ich würde alles dafür tun, nicht mehr pädophil zu sein." Mit Nachdruck betont er das Wort: "alles!". Er macht eine Pause und sagt dann nüchtern: "Aber ich kann nicht. Darum versuche ich, ein Leben zu leben, das so normal ist wie möglich."