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Würzburg
"Deshalb mussten wir uns wie Verbrecher wegschleichen": Die erste Deportation in Würzburg am 27. November 1941
Vor 82 Jahren begannen die Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Würzburg. Unter ihnen war die junge Käte Frieß, deren Bericht einen bewegenden Eindruck vermittelt.
Georg und Käte Frieß, 1941.
Foto: Panstwowe Muzeum na Majdanku/Serry Adler | Georg und Käte Frieß, 1941.
Rotraud Ries
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:34 Uhr

"Nachdem wir in einer Halle gewartet haben, bis es nachts drei Uhr wurde, mussten wir antreten, um durch die nächtliche Stadt heimlich zu marschieren. Sicher wäre das für die Würzburger ein zu jämmerlicher Anblick gewesen, deshalb mussten wir wie Verbrecher davonschleichen! Aber diesen Marsch werde ich nie vergessen! Eine Menschenschlange von 200 Personen kroch entsetzlich langsam die Straße entlang. Stockdunkel war es, zu beiden Seiten marschierte noch und noch SS-Bewachung. Ab und zu blitzte ein Licht auf, um zu kontrollieren, ob auch keiner von uns ausrückt."

Am 27. November 1941, nach entwürdigenden Kontrollen und einer kurzen Nacht auf dem Fußboden der Schrannenhalle, wurde eine erste Gruppe Würzburger Jüdinnen und Juden zum Güterbahnhof in der Aumühle getrieben. Dort mussten sie einen Zug nach Nürnberg besteigen, von wo sie mit 806 weiteren Menschen zwei Tage später nach Riga im besetzten Lettland in das Außenlager Jungfernhof deportiert wurden.

Die Nazis setzten Gustav Kleemann schon ab 1933 zu

Die junge Käte Frieß und ihr Mann Georg gehörten zu den Deportierten. Käte überlebte wie 15 weitere Personen dieses ersten Transports. Sie liefert mit der zitierten Passage in ihrem autobiographischen Bericht von 1945 eine Beschreibung des Fußmarschs zur Aumühle, die sich mit einem Foto aus der Bildserie der Gestapo zu den Deportationen deckt.

Im Vordergrund der unscharfen und überbelichteten Aufnahme ist ein großer, stattlicher Mann in hellem Mantel mit einer Aktentasche zu erkennen. Es war vermutlich Gustav Kleemann, der für den Transport zum Ordner eingeteilt war. Auf einem anderen Foto ist er – in hellem Mantel – bei der Kontrolle seines Gepäcks mit einer Ordnerbinde zu sehen.

Am DenkOrt Deportationen am Würzburger Hauptbahnhof: Auf der Stele im Vordergrund ist ein Foto der Deportation vom 27. November 1941 angebracht. Der Mann im hellen Mantel ist vermutlich Gustav Kleemann.
Foto: Rotraud Ries | Am DenkOrt Deportationen am Würzburger Hauptbahnhof: Auf der Stele im Vordergrund ist ein Foto der Deportation vom 27. November 1941 angebracht. Der Mann im hellen Mantel ist vermutlich Gustav Kleemann.

Käte Frieß charakterisierte ihn so: "Unser jüdischer Lagerältester war ein Würzburger und hieß K. Ein entzückender, feiner, vornehmer Mensch. Mit grauen Haaren, groß und stattlich, eben ein vollendeter Gentleman. Sämtliche Frauen waren begeistert von ihm."

Gustav Kleemann war 1881 in Werneck geboren worden, wo seine Familie bis 1905 wohnte. Nach seiner Ausbildung zum Kaufmann in einer Münchener Getreidegroßhandelsfirma trat er in die Pferde- und Futtermittelhandlung seines Vaters in Würzburg ein. Mit seinem Bruder Max übernahm er später die Firma und war an zwei großen landwirtschaftlichen Gütern beteiligt. Daneben brachte er sich an vielen weiteren Stellen ein: im städtischen Versorgungswesen und in verschiedenen berufsständischen Organisationen, in der Politik und in verschiedenen jüdischen Vereinigungen.

Die Nationalsozialisten begannen ab 1933 sofort, diesem selbstbewussten und erfolgreichen Mann ökonomisch zuzusetzen, ihn mit Anklagen zu überziehen und ihn sowie seine Angehörigen letztlich an der Emigration zu hindern. Nach seiner Verhaftung im Novemberpogrom 1938 und der erzwungenen Auflösung der Firma arbeitete der polyglotte Kleemann als Auswanderungs- und Kapitalberater. Parallel betrieb er ein großes Auswanderungsprojekt für mehr als 100 Personen nach Südamerika – letztlich erfolglos, weil ihm vor allem die Würzburger Stellen ständig Steine in den Weg legten.

Käte Frieß wurde kurz vor Kriegsende befreit, ihr Mann starb im KZ

So wurden Gustav Kleemann und seine Frau Erna letztlich am 27. November 1941 zusammen mit dem Bruder Max und dessen Tochter Lore nach Riga deportiert. Gustav wurde nach der Ankunft in Riga-Jungfernhof zum Lagerältesten ernannt. Er hatte die Befehle der Lagerleitung weiterzugeben und umzusetzen und sich um organisatorische Belange zu kümmern. Bei den Mitgefangenen war das nicht sonderlich beliebt.

An die Verschleppung und Ermordung von Jüdinnen und Juden erinnert der DenkOrt Deportationen am Würzburger Hauptbahnhof.
Foto: Silvia Gralla | An die Verschleppung und Ermordung von Jüdinnen und Juden erinnert der DenkOrt Deportationen am Würzburger Hauptbahnhof.

So auch bei Käte Frieß, die zuweilen mit spitzer Feder über Kleemann und seine Frau schrieb. Anders als die recht arrivierten Kleemanns gehörten Käte und Georg Frieß zu den jungen Menschen in dem Transport aus Würzburg. Beide stammten aus Familien mit jeweils einem nichtjüdischen Elternteil. Georg, dessen Vater im 1. Weltkrieg gefallen war, wuchs jedoch in der jüdischen Tradition auf, ging auf die Präparandenschule in Höchberg und anschließend auf die Israelitische Lehrerbildungsanstalt in Würzburg. Er arbeitete als Lehrer und Kantor im hessischen Sterbfritz und als Lehrer an der Jüdischen Volksschule in Würzburg. Ende 1940 heiratete er Käte Solms aus Stettin, die eher säkular aufgewachsen war.

Vor dem ersten Transport nach Osten fragte die Jüdische Gemeinde Georg Frieß, ob er bereit sei, mit seinen Schülern in die Evakuierung zu gehen. Man hatte wohl noch die Hoffnung auf ein halbwegs normales Leben mit Schulunterricht für die etwa 20 Würzburger Kinder im Schulalter. Das junge Ehepaar willigte ein. Käte Frieß verdanken wir einen ausführlichen, präzisen und emotionalen Bericht über ihre dreieinhalb Jahre in verschiedenen Lagern in Lettland, auf dem Weg zurück nach Westen, in Hamburg und Kiel.

Anfang März 1945 wurde das Paar getrennt und Georg starb im April in Bergen-Belsen. Käte dagegen wurde kurz vor Kriegsende befreit und nach Schweden gerettet, wo sie ihren Bericht niederschrieb. Sie starb 1997 in den USA. Christin Sandow veröffentlichte den Bericht 2017 unter dem Titel "Schießen Sie mich nieder!"

Ermordung vor dem offenen Massengrab im Hochwald von Bikernieki

Auf Kleemann, seine tragische Rolle und die seiner Nichte Lore kommt Frieß in Zusammenhang mit der Selektion der Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers Ende März 1942 zu sprechen – vor den Massenerschießungen im Wald von Bikernieki. "[Major Dr. Rudolf] Lange erschien bei K.[leemann], lobte seine Arbeit und meinte, in Dünamünde […] wäre ein neues Lager einzurichten, und da K. sich hier so vorzüglich bewährt habe, möge er auch dort die Einrichtung des neuen Lagers übernehmen. Klang das nicht nett und menschlich? K. fühlte sich geschmeichelt, und arglos meldeten sich fast alle freiwillig für dieses neue Lager in der Hoffnung, es dort besser anzutreffen oder sich gleich ein Pöstchen zu sichern." Nur ein kleiner Teil der Lagerbewohner, die Jungen und Kräftigen, "sollte zur landwirtschaftlichen Arbeit unter Lagerleiter Seck am Jungfernhof zurückbleiben". Dazu gehörte auch das Ehepaar Frieß.

Gedenkstätte Bikernieki, 2001 eingeweiht; eines der Massengräber der Gedenkstätte mit Umrahmung
Foto: Rotraud Ries | Gedenkstätte Bikernieki, 2001 eingeweiht; eines der Massengräber der Gedenkstätte mit Umrahmung

"An der Lore K., des Lagerältesten Nichte, hatte Seck Gefallen gefunden. Alles Weinen, Flehen, des stolzen, schönen Mädchens, das mit seinen Angehörigen nach Dünamünde gehen wollte, war vergeblich. 'Lore, du bleibst!' war stets Secks Antwort." In einem seltenen Anfall von Menschlichkeit gab er dann jedoch nach. "Da trafen uns Secks Worte wir Messerstiche, 'Lore, Du wirst es bitter bereuen und in einer halben Stunde blutige Tränen weinen …' Nur Lore begriff nichts und stürmte selig hinaus auf den Appellplatz in den letzten Wagen, der sie zu ihren Angehörigen ins neue Lager bringen sollte." – Wie viele hundert andere Lagerbewohner, darunter ihr Vater, Onkel und Tante, wurde sie kurz darauf im Hochwald von Bikernieki bei Riga vor einem offenen Massengrab erschossen.

Gedenkstätte Bikernieki, 2001 eingeweiht.
Foto: Rotraud Ries | Gedenkstätte Bikernieki, 2001 eingeweiht.

In Würzburg wurden Stolpersteine für die Mitglieder der Familie Kleemann verlegt und im Hochwald von Bikernieki erinnert seit 2001 eine Gedenkstätte an alle dort ermordeten Menschen. Nie wieder ist jetzt!

Rotraud Ries ist Historikerin. Von 2009 bis 2022 leitete sie das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken.

Nähere Informationen zu den jüdischen Gemeinden und ihren Shoa-Opfern, an die erinnert wird, gibt es auf der Seite www.juf-gedenken.de.

 
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