Es ist eine schwere Erkrankung, die gerade junge Betroffene aus ihrem Alltag reißt und zu Pflegefällen macht. Etwa 500.000 Menschen leiden in Deutschland nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS. ME/CFS ist eine eigenständige neuroimmunologische Multisystemerkrankung, bei der bei den meisten Betroffenen das Symptom Erschöpfung komplett abwesend ist, während die Belastungsintoleranz als Leitsymptom im Vordergrund steht. Die Anzahl der Erkrankten habe sich durch die Corona-Pandemie verdoppelt.
Auch in Unterfranken gibt es immer mehr Menschen, die nach einer Virusinfektion an ME/CFS leiden. Bisher gibt es für diese Patientinnen und Patienten kaum eine medizinische Anlaufstelle in der Region. Am Klinikum Würzburg Mitte (KWM) beschäftigt sich der Tropenmediziner und Infektiologe Prof. Dr. August Stich mit dem Krankheitsbild. Denn, sagt der Chefarzt der Missioklinik, "es kommen immer mehr Patientinnen und Patienten zu uns, die nach Infektionskrankheiten ein ME/CFS entwickelt haben und zu wenig Unterstützung in ihrem Leiden finden". Früher seien Erkrankte nach dem Denguefieber an die Missioklinik gekommen, "heute eher nach einer Coronainfektion".
Wie sieht Stich die Situation und was rät er Betroffenen?
Prof. Dr. August Stich: Das ist in der Tat ein ganz großes Problem, dem wir uns in der Schulmedizin noch nicht richtig zugewandt haben. ME/CFS gab es schon immer, allerdings sehen wir seit einiger Zeit eine deutliche Zunahme der Fälle. Es gibt immer noch viele Kolleginnen und Kollegen, die diese Krankheit nicht ernst nehmen. Allerdings haben wir Ärztinnen und Ärzte auch wenig Möglichkeiten, effektiv zu behandeln. Die Unsicherheit der Ärzte überträgt sich dann wieder auf unsere Patienten.
Stich: Das liegt natürlich auch an der Corona-Pandemie. Mittlerweile hat statistisch gesehen jeder Corona mindestens einmal durchgemacht. Wir erinnern uns, es gab riesige Infektwellen. Und in der Folge hat sich auch die Anzahl der Menschen gehäuft, die nach der überstandenen Infektion in ein ME/CFS gerutscht sind.
Stich: ME/CFS ist eine schwere körperliche Erkrankung, die häufig nach einem Virusinfekt wie einer Grippe, Corona oder dem Pfeifferschen Drüsenfieber oder selten auch nach einer Impfung auftritt. Das Hauptsymptom ist eine ausgeprägte körperliche und geistige Erschöpfbarkeit mit einer sehr hohen Belastungsintoleranz. Die Ursachen sind uns nicht wirklich klar. Man diskutiert sogenannte Autoimmun-Phänomene, die sich im Verlauf der Erkrankung entwickeln und Entzündungsvorgänge im zentralen Nervensystem auslösen. Auch kleine Blutgefäße können Schaden nehmen. Bisher gibt es allerdings keinen Test, der ME/CFS im Blut nachweisen kann.
Stich: Zunächst muss man versuchen, andere schwere Erkrankungen wie eine Unterfunktion der Schilddrüse oder klassische neurologische oder psychische Erkrankungen auszuschließen.
Stich: Wer durch eine Krankheit, welche auch immer, aus dem Leben geworfen wird, der hat auch psychisch damit zu kämpfen. Das ist klar. Jeder, dem so etwas passiert, wird dadurch traurig. Allerdings muss man gut zwischen ME/CFS und einer klassischen Depression unterscheiden. Das ist oft schwierig, aber wichtig, da die Therapien ganz unterschiedlich sind. Vor der Diagnose "Depressive Störung" sollte man sich nicht fürchten, denn dies ist keine eine Schande, kein Stigma. Aber man sollte auch nicht vorschnell Kranke in die Schublade "nur psychisch" stecken.
Stich: Ich bin kein Experte, aber ich studiere Veröffentlichungen von Experten und versuche, das Krankheitsbild selbst zu verstehen. Zunächst geht es darum, andere Krankheiten auszuschließen. Ich möchte den Patienten Vertrauen geben und ihre Krankheit ernst nehmen. Und dann versuchen wir gemeinsam auszutarieren, welche Aktivitäten der Patient noch schafft, ohne danach einen "Crash" zu erleiden. Die Patientinnen und Patienten selbst müssen als ersten Schritt akzeptieren, dass sie krank sind und ihr Schicksal annehmen. Darauf aufbauend können wir dann den Weg gemeinsam weitergehen.
Stich: Ich erlebe oft Eltern, die durch die Sorge, ihre Angehörigen zu überlasten, Untersuchungstermine nicht wahrnehmen oder gar verhindern. Wir brauchen aber unbedingt auch die Befunde von Neurologen, Psychiatern und anderen Fachärzten, um sicher zu gehen, dass nicht eine andere schwere Krankheit dahintersteckt, die vielleicht ganz anders behandelt werden muss. Man sollte vorsichtig sein, was man den Patienten zumutet, aber auch nicht wichtige Untersuchungen verweigern.
Stich: Ein falsch verstandener sportlicher Ehrgeiz kann die Symptome noch verschlimmern. Zuviel Antreiben tut nicht gut. Wir setzen auf das sogenannte Pacing. Das heißt, schonend mit den eigenen Ressourcen umzugehen und zu erkennen, wo die eigenen Grenzen liegen. Es besteht immer die Gefahr, dass die Patienten sich zu viel zumuten und einen schweren Rückschlag erleiden. Jeder muss daher seinen eigenen Belastungskorridor erkennen und festlegen. Bisher können wir die Krankheit nur symptomatisch behandeln, aber dabei auch viel Unterstützung geben.
Stich: Ein Teil der Patienten bildet Antikörper gegen ihr eigenes Gewebe, die man nachweisen und messen kann. Durch die Plasma-Apherese ist es möglich, solche Antikörper vorübergehend aus dem Blut herauszufiltern. Wissenschaftlich ist der Effekt bei dieser neuroimmunologischen Erkrankung jedoch nicht eindeutig nachgewiesen. Das Krankheitsbild ist sicher viel komplexer, als dass man es durch ein Wegfiltern von Eiweißstoffen im Blut beheben könnte.
Stich: Wir brauchen sicher viel mehr Expertise, und das kann nie an einer Person alleine hängen. Man braucht ein Team, das Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter und viele andere Bereiche zu dem Themenfeld zusammenführt. Unser medizinisches System läuft aber leider in eine völlig andere Richtung. Jede apparative Untersuchung, jeder Herz-Katheder bringt mehr als ein Gespräch dem Patienten. So sind wir Ärztinnen und Ärzte gezwungen, immer weniger Zeit für die Patienten zugunsten von technischen Untersuchen anzusetzen. Seit unser Gesundheitssystem wie ein ökonomisch orientiertes Unternehmen funktionieren soll, sind wir immer mehr mit der Frage konfrontiert: "Welche Patienten können wir uns leisten?" Hier brauchen wir eine grundlegende Änderung in unserem Gesundheitssystem und darüber hinaus in unserer Gesellschaft!
Stich: Manche Patienten heilen tatsächlich aus, viele verbessern sich im Laufe der Zeit unter den entsprechenden Hilfen. Aber ich bin noch lange nicht mit den Ergebnissen zufrieden.
Auf die Frage nach Patienten, die zu krank für das Krankenhaus sind, hätte ich mir allerdings eine differenziertere Antwort gewünscht.
Es sollte bei ME/CFS immer individuell abgewogen werden, ob sich der Patient diese Untersuchungen derzeit leisten kann, oder daraus ein irreversibler Krankheitsschub folgen würde und wie stattdessen vorgegangen werden könnte.
Hier sind kreative Lösungen nötig.
Statt einem Besuch im Schlaflabor sollte der Polysomnograph nach Hause geschickt werden.
Statt dem Test auf Myasthenia Gravis würde Mestinon wohl langsam eindosiert, weil es in geringeren Dosen auch bei ME/CFS helfen kann.
Das MRT kann man nicht zu Hause durchführen, daher muss abgewogen werden, ob es sofort dringend nötig ist, oder man noch ein paar Monate warten kann, bis der Patient durch die richtige medikamentöse Therapie soweit stabilisiert ist, dass ein sedierter Krankentransort möglich ist etc.
Auch die Schwer- und Schwerstbetroffenen brauchen Versorgung in Unterfranken.
Im moderaten ME/CFS Stadium kann eine Brustkrebstherapie mit Endoxan sogar ME/CFS verbessern.
Bei schwereren Stadien muss individuell abgewogen werden, ob bei Verdacht auf Krebs die Krebsbehandlung noch möglich ist, oder der Patient wegen vorbestehender schwerer ME/CFS dadurch wohl versterben würde.
Dafür sind Fachwissen und Hausbesuche nötig.