Als am Abend des Dreikönigstags 2021 ein ICE trotz Notbremsung in das Banner rauschte, das über das Gleis der Werntalbahn gespannt war, wirkte das wie ein Fanal für eine Radikalisierung der Gegner der Corona-Maßnahmen. Im Prozess um das Plakat fand vor dem Landgericht Würzburg jetzt das Berufungsverfahren statt: Der heute 39-jährige Angeklagte aus Bad Bocklet sowie die 63-jährige Beschuldigte aus Bad Kissingen, die in erster Instanz verurteilt worden waren, bestritten ihre Beteiligung an der Tat.
Das Amtsgericht Gemünden (Lkr. Main-Spessart) hatte beide im Dezember 2022 wegen fahrlässigen und gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr in Tateinheit mit Nötigung zu Gefängnisstrafen verurteilt. Doch der 39-Jährige will überhaupt nicht am Tatort gewesen sein, sondern gemeinsam mit der Angeklagten an jenem Dreikönigstag am Kreuzberg Parolen in den Schnee gesprüht haben.
Am Landgericht Würzburg war man offenbar davon ausgegangen, dass die Berufungsverhandlung Unterstützer anziehen sollte: Jeder, der die Verhandlung an diesem Mittwoch besuchen wollte, musste eine zusätzliche Einlasskontrolle vor dem Gerichtssaal passieren. Der erhöhte Sicherheitsaufwand war jedoch nicht nötig, es kam keine unerwarteten Gäste.
Selbstbewusster und wortgewandter Beschuldigter
Der 39-Jährige ist seiner eigenen Darstellung nach eine der zentralen Figuren in der unterfränkischen "Querdenker"-Szene. Er habe bis vor etwa einem Jahr gut 200 Demonstrationen in der Region Schweinfurt und Bad Kissingen organisiert, darunter auch die Würzburger Großdemo mit Querdenken-Gründer Michael Ballweg.
Das Schöffengericht erlebte einen entsprechend selbstbewusst auftretenden Angeklagten, der sich – unterstützt von Rechtsanwalt Jens-Peter Schneider aus Gotha - wortgewandt verteidigte. Für eine Tat, die er nicht begangen habe, könne er auch nicht verurteilt werden. Seine Verurteilung basiere lediglich auf Vermutungen. Es sei der Staat, der hart gegen die vorgehe, die Widerstand leisteten.
Die 62-jährige Angeklagte zog es vor, zu schweigen. Bei einer Hausdurchsuchung habe sie damals, als die Polizei die Tür mit einem Rammbock öffnete, einen doppelten Bruch des Mittelfußes erlitten. Auf die Frage des Richters, warum sie trotz der Schmerzen nicht zum Arzt gegangen sei, erklärte sie, dass sie hierfür eine Maske hätte tragen müssen.
Ein mitgeschnittenes Telefonat als zentraler Beweis im Indizienprozess
Bei der Hauptverhandlung in Gemünden hatten der Angeklagte und seine damalige Anwältin in erster Linie die Verwertbarkeit eines mitgeschnittenen Telefonats infrage gestellt. Das Telefongespräch mit einem Mitglied der "Anwälte für Aufklärung" diente als zentrales Beweisstück des Indizienprozesses. Nun jedoch soll es der entscheidende Beweis für die Entlastung des Mannes sein. Und die Anwältin, die das Verfahren inzwischen abgegeben hat, soll als Entlastungszeugin auftreten.
Richter Thomas Trapp fiel es spürbar schwer, diese neue Verteidigungsstrategie ernst zu nehmen. Zu eindeutig erschienen ihm die Beweise. Die Corona-Zeit sei vorbei, appellierte er vergeblich an den vierfachen Vater, über den Einspruch und das damit verbundene Risiko einer deutlich höheren Haftstrafe nochmals nachzudenken: "Es muss doch mal ein Ende haben." Die Freiheit sei schließlich das Wichtigste im Leben.
Angeklagter: Fotos vom Ort des Anschlags nur geschickt bekommen
Der 39-Jährige sieht dazu jedoch keinen Grund. Von den Plakaten auf dem Bahngleis will er erst ein oder zwei Tage später erfahren haben. Die nachweisbar von ihm kurz nach dem Vorfall in eine Telegramm-Gruppe eingestellten beiden Bilder vom Anschlagsort habe er geschickt bekommen und ohne größeres Nachdenken in die Gruppe eingestellt. Sein am Tatort, dem Friedhof Stetten, beobachteter weißer Volvo sei damals von der gesamten Aktionsgruppe verwendet worden. "Ultimativer Beweis" für seine Unschuld sei, dass er zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt mit dem Handy nicht am Tatort eingeloggt gewesen sei. Eben zu diesem Zeitpunkt habe er sich am Kreuzberg befunden.
Anwalt Schneider, der ebenso wie die Verteidigerin zuvor den "Anwälten für Aufklärung" angehört, sieht kein Motiv. "Man mag davon halten, was man will, der Angeklagte hat immer seine Fahne gegen die Corona-Maßnahmen hochgehalten", stellte er fest. Die über die Bahnstrecke gespannten Plakate mit Aufschriften wie "Letzte Warnung Gleisbruch" oder "Diesmal Fake" würden keinerlei Verbindung zu den Corona-Protesten erkennen lassen, argumentiert Schneider.
Notbremsung mit 72 Fahrgästen im ICE - und zum Glück keine Verletzten
Die gefertigten Aufsteller waren am Tattag vermutlich gegen 17 Uhr aufgestellt worden. Wenig später rauschte der ICE 1556 aus Schweinfurt mit 100 Stundenkilometern und 72 Fahrgästen in das erste Plakat. Trotz sofortiger Notbremsung blieb der Zug erst 200 Meter nach der ersten Plane stehen. Nur durch Glück gab es keine Verletzten.
Das Gericht hat drei Fortsetzungstermine bis Ende Mai angesetzt.
Was die Frage aufwirft, wo das Handy zur Tatzeit „eingeloggt“ war.
In unserem Staat werden halt manche immer noch zu wenig verurteilt.
Und für den nächsten Prozesstag vormerken: Verhandelt wird nicht vor einem Schöffengericht ( 5. Absatz), sondern vor einer Strafkammer des Landgerichts. Scheinbar dasselbe, ein Richter, zwei Schöffen, aber halt die nächste Instanz.
Dass der Angeklagte unschuldig sein könnte, findet in dieser Gedankenwelt offenbar nicht einmal als Möglichkeit Platz.
Eine Berufung ist eine Tatsaxheninstant, auch in Würzburg!
Angeklagte, die diese Berufungsinstanz als Rechtsmittel in Anspruch nehmen, mit „Drohungen“ zu einer Rücknahme der Berufung zu bewegen, ist ungeheuerlich.