Der mehrfach verlängerte Winter-Lockdown belastet die Menschen seelisch viel stärker als der erste Corona-Shutdown im Frühjahr. Das spüren in Unterfranken die Hausärzte, die Psychotherapeuten und die Leiter psychiatrischer Kliniken. Sie alle berichten von einer stark zunehmenden Zahl von Terminanfragen und von immer mehr hilfesuchenden Patienten.
"Der Lockdown im Frühjahr war hart, aber dann wurde es zum Sommer hin besser", sagt der Direktor der Psychiatrie an der Uniklinik Würzburg, Professor Jürgen Deckert. "Seit November aber folgt ein Lockdown auf den nächsten. Und die Menschen leiden darunter, dass es keine klare Aussicht auf ein Ende gibt.“ Reguläre Behandlungstermine sind an seiner Klinik bis zum Ende des Quartals alle vergeben, sagt Deckert. Es gebe nur noch "Zeitfenster für Notfälle“.
Auch die psychiatrische Bezirksklinik in Lohr (Lkr. Main-Spessart) ist nach eigenen Angaben bis zum Anschlag ausgelastet, kann nur noch schwere Fälle aufnehmen und muss aktuell leichter erkrankte Patienten auf Juni-Termine vertrösten. "Die Situation ist dramatisch“, sagt der Lohrer Klinikleiter Professor Dominikus Bönsch.
Hausärztin: Sorge um betagte Patienten, die seit Monaten keine Kontakte mehr haben
Hausärzte sind aktuell oft die erste Anlaufstelle für Menschen, die den harten Lockdown-Winter kaum noch aushalten. "Ich sehe zunehmend hochbetagte alte Menschen, die seit Monaten keine sozialen Kontakte mehr haben und darunter so sehr leiden, dass sie sagen: Das ist kein Leben mehr!“, berichtet Allgemeinmedizinerin Dr. Marion Krassnitzer-Geyer aus Reichenberg (Lkr. Würzburg). Viele ihre alten Patienten verfingen sich aufgrund der Corona-Isolation in einer Art Grübel-Spirale und entwickelten in der Folge Schlafstörungen oder Depressionen. "Zunehmend treten behandlungsbedürftige Ängste oder Depressionen aber auch bei Jüngeren auf. Bei Leuten, die wegen Kurzarbeit, drohender Arbeitslosigkeit oder Jobverlust um ihre Existenz fürchten“, berichtet die Ärztin.
Psychotherapeut: Blick auf psychisch vorbelastete Patienten
Menschen mit behandlungsbedürftigen Depressionen könnte eine Psychotherapie helfen. Doch Behandlungsplätze sind in Unterfranken ohnehin nicht üppig und meist nur mit Wartezeit zu bekommen. "Bei uns war es auch schon vor Corona sehr voll, die Termine waren ausgebucht“, sagt etwa der Würzburger Psychotherapeut Burkard Glaab. Er sorgt sich am meisten um jene Patienten, "die ohnehin psychisch belastet sind“. Sie erkrankten im Lockdown am ehesten, sagt Glaab. "Resiliente Menschen reagieren flexibel und können Ressourcen aktivieren. Sie murren und leiden auch, können mit Belastungen aber besser umgehen. Wer alleine ist, wer vorher schon Angsterkrankungen oder Depressionen hatte, der kann die Belastung schlechter wegstecken.“
Lösungen für psychisch erkrankte Patienten zu finden, ist aktuell für Therapeuten eine Herausforderung. Niederschwellige Ansätze aus der Zeit vor der Corona-Pandemie - etwa die Empfehlung, Kontakte zu Freunden zu intensivieren, Selbsthilfegruppen oder Gruppentherapien zu besuchen oder Sport zu treiben - funktionieren angesichts der vielen Corona-Beschränkungen schlecht oder gar nicht mehr. „Unser Werkzeugkoffer ist ausgedünnt“, sagt Psychotherapeut Glaab.
Psychiater: Beobachtung von wahnhafteren und suizidalen Tendenzen
Der Ausfall niederschwelliger ambulanter Angebote jedweder Art macht auch den Leitern psychiatrischer Kliniken in Unterfranken Sorgen: "Wenn die ambulante Weiterbegleitung entlassener Patienten wegfällt, dann erleben diese Patienten mehr Rückfälle, kommen eher und früher wieder“, berichtet der Lohrer Klinikleiter Dominikus Bönsch. Eine Betreuung per Video oder im Chat würden viele Patienten nicht akzeptieren.
Bönsch berichtet von einem "aktuell unglaublich großen Andrang“ auf die Psychiatrie, von 100-prozentiger Auslastung im Jahr 2020 und von derzeit extrem hilfebedürftigen Patienten. "Der Schweregrad der Erkrankungen ist dramatisch angestiegen“, sagt der langjährige Leiter der Lohrer Psychiatrie. Patienten seien aufgrund fehlender Kontakte extrem antriebslos. Und im Vergleich zu früheren Jahren zeigten mehr Menschen als sonst "deutlich wahnhaftere Tendenzen und auch mehr Bedrohung durch Suizidalität“. Zugenommen habe auch die Zahl der gewaltbereiten Patienten, die eingewiesen werden müssten.
Zusätzlich belastet werden die unterfränkischen Psychiatrien durch die Aufnahme einer hohen Zahl von schwer dementen Patienten, die sonst zu Hause betreut werden. "Wir erleben das gerade oft, dass uns Angehörige bitten, ihren alten Vater oder die demente Mutter zu übernehmen, weil sie es angesichts erschwerter Umstände selbst nicht mehr schaffen“, sagt Jürgen Deckert von der Uniklinik Würzburg.
Wie Bönsch erlebt auch Deckert die aktuelle Situation in der Psychiatrie als extrem belastend; auch fürs Personal: Denn einerseits habe man mehr ambulante Notfälle und Notfallaufnahmen als sonst, andererseits stünden aufgrund der Corona-Abstandsregelungen gerade in der ambulanten Betreuung weniger Plätze zur Verfügung. Und immer mal wieder gebe es auch durch Quarantäne oder Krankheiten Ausfälle beim Personal. Allerdings sieht der Psychiatrie-Direktor der Uniklinik für das Frühjahr einen kleinen Hoffnungsschimmer: „Bei uns ist oder wird jetzt immer mehr medizinisches Personal geimpft. Das erlaubt uns dann bald auch wieder, Patienten zu Hause aufzusuchen“, sagt Deckert.
Studie: Bei vielen Menschen Zunahme körperlicher Beschwerden
Wenn unterfränkische Hausärzte, Psychotherapeuten oder Psychiater die Menschen aktuell als „extrem belastet“ oder „hilfsbedürftiger als sonst“ einstufen, dann deckt sich das mit der Aussage etlicher aktueller Erhebungen. So hat etwa die Betriebskrankenkasse pronova jüngst bei 154 deutschen Psychiatern und Psychotherapeuten die Lage erfragt. Demnach diagnostizierten die befragten Behandler zu rund 80 Prozent öfter Angststörungen und Depressionen als vor der Krise. 70 Prozent der Behandler bemerkten bei ihren Patienten auch eine Zunahme körperlicher Beschwerden wie Müdigkeit, Erschöpfung, Schmerzen ohne organische Ursache und Schlafstörungen. Knapp ein Viertel der Therapeuten hat seit Beginn der Pandemie mehr Arzneimittel verschrieben.
Jeder, der Probleme hat, sollte ernst genommen werden, auch wenn wir die Probleme nicht nachvollziehen können. Das galt vorher schon und jetzt mit Corona erst recht.