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Würzburg
Kliniken im Winter-Lockdown: Enormer Andrang auf Psychiatrie
Die dunkle Jahreszeit und Corona lassen Menschen seelisch leiden, viele suche Hilfe. Doch Kliniken in der Region sind schon voll belegt und können nur noch Notfälle behandeln.
Wenn die Psyche leidet: Laut der Kassenärztlichen Vereinigung in Bayern (KVB)  gab es im Jahr 2020 in Unterfranken rund acht Prozent weniger Anfragen nach psychotherapeutischen Sprechstunden als im Vorjahr. Gestiegen aber ist die Nachfrage für Termine zur Akutbehandlung. 
Foto: Julian Stratenschulte, dpa | Wenn die Psyche leidet: Laut der Kassenärztlichen Vereinigung in Bayern (KVB)  gab es im Jahr 2020 in Unterfranken rund acht Prozent weniger Anfragen nach psychotherapeutischen Sprechstunden als im Vorjahr.
Gisela Rauch
 |  aktualisiert: 15.07.2024 09:39 Uhr

Der mehrfach verlängerte Winter-Lockdown belastet die Menschen seelisch viel stärker als der erste Corona-Shutdown im Frühjahr. Das spüren in Unterfranken die Hausärzte, die Psychotherapeuten und die Leiter psychiatrischer Kliniken. Sie alle berichten von einer stark zunehmenden Zahl von Terminanfragen und von immer mehr hilfesuchenden Patienten.

"Der Lockdown im Frühjahr war hart, aber dann wurde es zum Sommer hin besser", sagt der Direktor der Psychiatrie an der Uniklinik Würzburg, Professor Jürgen Deckert. "Seit November aber folgt ein Lockdown auf den nächsten. Und die Menschen leiden darunter, dass es keine klare Aussicht auf ein Ende gibt.“ Reguläre Behandlungstermine sind an seiner Klinik bis zum Ende des Quartals alle vergeben, sagt Deckert. Es gebe nur noch "Zeitfenster für Notfälle“.

Auch die psychiatrische Bezirksklinik in Lohr (Lkr. Main-Spessart) ist nach eigenen Angaben bis zum Anschlag ausgelastet, kann nur noch schwere Fälle aufnehmen und muss aktuell leichter erkrankte Patienten auf Juni-Termine vertrösten. "Die Situation ist dramatisch“, sagt der Lohrer Klinikleiter Professor Dominikus Bönsch.

Hausärztin: Sorge um betagte Patienten, die seit Monaten keine Kontakte mehr haben

Hausärzte sind aktuell oft die erste Anlaufstelle für Menschen, die den harten Lockdown-Winter kaum noch aushalten. "Ich sehe zunehmend hochbetagte alte Menschen, die seit Monaten keine sozialen Kontakte mehr haben und darunter so sehr leiden, dass sie sagen: Das ist kein Leben mehr!“, berichtet Allgemeinmedizinerin Dr. Marion Krassnitzer-Geyer aus Reichenberg (Lkr. Würzburg). Viele ihre alten Patienten verfingen sich aufgrund der Corona-Isolation in einer Art Grübel-Spirale und entwickelten in der Folge Schlafstörungen oder Depressionen. "Zunehmend treten behandlungsbedürftige Ängste oder Depressionen aber auch bei Jüngeren auf. Bei Leuten, die wegen Kurzarbeit, drohender Arbeitslosigkeit oder Jobverlust um ihre Existenz fürchten“, berichtet die Ärztin.

Psychotherapeut: Blick auf psychisch vorbelastete Patienten

Menschen mit behandlungsbedürftigen Depressionen könnte eine Psychotherapie helfen. Doch Behandlungsplätze sind in Unterfranken ohnehin nicht üppig und meist nur mit Wartezeit zu bekommen.  "Bei uns war es auch schon vor Corona sehr voll, die Termine waren ausgebucht“, sagt etwa der Würzburger Psychotherapeut Burkard Glaab. Er sorgt sich am meisten um jene Patienten, "die ohnehin psychisch belastet sind“. Sie erkrankten im Lockdown am ehesten, sagt Glaab. "Resiliente Menschen reagieren flexibel und können Ressourcen aktivieren. Sie murren und leiden auch, können mit Belastungen aber besser umgehen. Wer alleine ist, wer vorher schon Angsterkrankungen oder Depressionen hatte, der kann die Belastung schlechter wegstecken.“

Lösungen für psychisch erkrankte Patienten zu finden, ist aktuell für Therapeuten eine Herausforderung. Niederschwellige Ansätze aus der Zeit vor der Corona-Pandemie - etwa die Empfehlung, Kontakte zu Freunden zu intensivieren, Selbsthilfegruppen oder Gruppentherapien zu besuchen oder Sport zu treiben - funktionieren angesichts der vielen Corona-Beschränkungen schlecht oder gar nicht mehr. „Unser Werkzeugkoffer ist ausgedünnt“, sagt Psychotherapeut Glaab.

Psychiater: Beobachtung von wahnhafteren und suizidalen Tendenzen

Der Ausfall niederschwelliger ambulanter Angebote jedweder Art macht auch den Leitern psychiatrischer Kliniken in Unterfranken Sorgen: "Wenn die ambulante Weiterbegleitung entlassener Patienten wegfällt, dann erleben diese Patienten mehr Rückfälle, kommen eher und früher wieder“, berichtet der Lohrer Klinikleiter Dominikus Bönsch. Eine Betreuung per Video oder im Chat würden  viele Patienten nicht akzeptieren.

Bönsch berichtet von einem "aktuell unglaublich großen Andrang“ auf die Psychiatrie, von 100-prozentiger Auslastung im Jahr 2020 und von derzeit extrem hilfebedürftigen Patienten. "Der Schweregrad der Erkrankungen ist dramatisch angestiegen“, sagt der langjährige Leiter der Lohrer Psychiatrie. Patienten seien aufgrund fehlender Kontakte extrem antriebslos. Und im Vergleich zu früheren Jahren zeigten mehr Menschen als sonst "deutlich wahnhaftere Tendenzen und auch mehr Bedrohung durch Suizidalität“. Zugenommen habe auch die Zahl der gewaltbereiten Patienten, die eingewiesen werden müssten.

Weil ambulante Unterstützung, Tagespflege-Angebote oder die Hilfe der Nachbarn coronabedingt aktuell häufig wegfallen, verzweifeln viele Angehörige an der Pflege ihrer dementen Familienangehörigen. Die Folge sind vermehrt Anfragen bei Psychiatrien. 
Foto: Jens Kalaene, dpa | Weil ambulante Unterstützung, Tagespflege-Angebote oder die Hilfe der Nachbarn coronabedingt aktuell häufig wegfallen, verzweifeln viele Angehörige an der Pflege ihrer dementen Familienangehörigen.

Zusätzlich belastet werden die unterfränkischen Psychiatrien durch die Aufnahme einer hohen Zahl von schwer dementen Patienten, die sonst zu Hause betreut werden. "Wir erleben das gerade oft, dass uns Angehörige bitten, ihren alten Vater oder die demente Mutter zu übernehmen, weil sie es angesichts erschwerter Umstände selbst nicht mehr schaffen“, sagt Jürgen Deckert von der Uniklinik Würzburg.

Wie Bönsch erlebt auch Deckert die aktuelle Situation in der Psychiatrie als extrem belastend; auch fürs Personal: Denn einerseits habe man mehr ambulante Notfälle und Notfallaufnahmen als sonst, andererseits stünden aufgrund der Corona-Abstandsregelungen gerade in der ambulanten Betreuung weniger Plätze zur Verfügung. Und immer mal wieder gebe es auch durch Quarantäne oder Krankheiten Ausfälle beim Personal. Allerdings sieht der Psychiatrie-Direktor der Uniklinik für das Frühjahr einen kleinen Hoffnungsschimmer: „Bei uns ist oder wird jetzt immer mehr medizinisches Personal geimpft. Das erlaubt uns dann bald auch wieder, Patienten zu Hause aufzusuchen“, sagt Deckert.

Studie: Bei vielen Menschen Zunahme körperlicher Beschwerden 

Wenn unterfränkische Hausärzte, Psychotherapeuten oder Psychiater die Menschen aktuell als „extrem belastet“ oder „hilfsbedürftiger als sonst“ einstufen, dann deckt sich das mit der Aussage etlicher aktueller Erhebungen. So hat etwa die Betriebskrankenkasse pronova jüngst bei 154 deutschen Psychiatern und Psychotherapeuten die Lage erfragt. Demnach diagnostizierten die befragten Behandler zu rund 80 Prozent öfter Angststörungen und Depressionen als vor der Krise. 70 Prozent der Behandler bemerkten bei ihren Patienten auch eine Zunahme körperlicher Beschwerden wie Müdigkeit, Erschöpfung, Schmerzen ohne organische Ursache und Schlafstörungen. Knapp ein Viertel der Therapeuten hat seit Beginn der Pandemie mehr Arzneimittel verschrieben.

Was der Psyche hilft

Bei Befindlichkeitsstörungen: Sport
Auf die Corona-Krise und die Beschränkungen reagieren viele Menschen mit typischen Krisen-Symptomen wie Nervosität, Angespanntheit, Gereiztheit oder Getriebenheit. Dies ist nach Einschätzung von Dr. Martin Hauschild, Leitender Oberarzt des Zentrums für Seelische Gesundheit im Würzburger König-Ludwig-Haus, in Krisen "wie Corona oder Krieg“ eher normal. Bei leichteren Befindlichkeitsstörungen helfe "tatsächlich Sport und Bewegung am besten“. Der Mensch sei ausgelegt auf 10 000 Schritte am Tag, sagt Hauschild: Spaziergänge oder Joggen brächten mit Sicherheit "spürbare Entlastung für Stunden“.
Hilfreich seien auch Entspannungsmethoden wie Yoga oder Qi Gong. Psychologen empfehlen weiterhin, die Tage zu strukturieren und sich im Rahmen des Möglichen positive Ziele zu setzen, etwa sich vorzunehmen, jede Woche ein Bild zu malen, fürs Frühjahr einen Gartenschuppen zu bauen oder online Englisch zu lernen. Am leichtesten tun sich den Psychologen zufolge Pragmatiker, die sich auf das Mögliche konzentrieren können statt an den Sachen zu hängen, die aktuell verloren oder verboten sind.
In schweren Fällen: Psychotherapie
Wenn Angehörigen sagen würden, "Jetzt geht das nicht mehr mit Dir“ oder man selbst merke, dass man in ein Loch abdrifte, sei eine Therapie wichtig, sagt Oberarzt Martin Hauschild. Niedergelassene Psychotherapeuten haben vielfach lange und auf Monate ausgelegte Wartelisten. Jedoch kann jeder bis zu drei Sprechstunden, die nicht durch Krankenkassen genehmigungspfllichtig sind, bei Psychotherapeuten ausmachen. Diese können nach Einschätzung regionaler Therapeuten meist binnen einiger Wochen stattfinden. Bei Bedarf hilft die Termin-Servicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung (Tel. 0921 88099-40410) , einen Therapeuten zu finden.
Quelle: Zentrum für Seelische Gesundheit im König-Ludwig-Haus Würzburg/grr 
 
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  • FNB
    Genau wegen dieser doch beunruhigenden Entwicklungen für belastete Menschen finde ich den ständigen Vergleich mit den Menschen in Kriegs-und Nachkriegszeit problematisch. Das ist doch jetzt alles Peanuts im Vergleich, oder? Sollen sich die Menschen doch nicht so anstellen, oder?
    Jeder, der Probleme hat, sollte ernst genommen werden, auch wenn wir die Probleme nicht nachvollziehen können. Das galt vorher schon und jetzt mit Corona erst recht.
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  • juergenmagic@t-online.de
    Ist doch irgendwie die logische Folge. Wenn Alleinstehende auch noch in den Kontakten reduziert werden, dann ist es doch normal, dass einige sprichwörtlich balla-balla oder depressiv werden. Aber auch Kinder leiden darunter. Der Mensch ist nun mal ein Lebewesen, das Kontakte benötigt. Auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen. Na dann gibt es wenigstens mildernde Umstände, wenn jemand was im psychischen Zustand begeht zwinkern
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