Hilft Religion, Schmerz anzunehmen und zu verarbeiten? Frömmigkeit ersetze zwar keine medizinische Schmerzbehandlung, sagt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm. Doch sie könne ein "Resilienzfaktor" sein. Das evangelische Studienwerk Villigst hat einen Promotionsschwerpunkt zum Thema Schmerz ausgelobt: Dort soll es um experimentelle medizinische und psychologische Untersuchungen zum Schmerz gehen. Und auch um Sinnfragen, das Leid der Patienten und theologische Perspektiven.
Die Psychologen Paul Pauli aus Würzburg und sein Kollege Stefan Lautenbacher aus Bamberg hatten sich gemeinsam beworben - und waren erfolgreich. Jetzt wurde der interdisziplinäre Promotionsschwerpunkt erstmals der Öffentlichkeit präsentiert: „Resilienzfaktoren in der Schmerzverarbeitung“ lautet das Thema. An der Schnittstelle von Medizin, Psychologie und evangelischer Theologie werden sechs Professoren und zehn Doktoranden das Thema Schmerz aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Psychologieprofessor Paul Pauli und Medizinprofessorin Heike Rittner, Leiterin der Schmerztagesklinik des Zentrums für Interdisziplinäre Schmerzmedizin an der Uniklinik Würzburg, erklären, was Schmerz bedeutet.
Dass eine Medizinerin und ein Psychologe mit Theologen zusammen forschen – nicht gerade gewöhnlich, oder?
Prof. Paul Pauli: Das ist ungewöhnlich, stimmt. Eine Herausforderung.
Prof. Heike Rittner: Mediziner und Psychologen haben eine ähnliche Sprache und klinisch viele Berührungspunkte. Die Zusammenarbeit mit Theologen – das ist einfach neu.
Für die Medizinerin ist Schmerz . . .
Rittner: . . . etwas sehr Sinnvolles, eine Wächterfunktion des Körpers. Das Schmerzsystem ist ein Kontroll- und Alarmsystem, das eine Verletzung oder Entzündung meldet, die mit entsprechenden Gefühlen verbunden ist. Beim chronischen Schmerz ist dann die ursprüngliche Verletzung nicht mehr so offensichtlich.
Und für den Psychologen?
Pauli: Dasselbe. Was ich noch hinzufügen würde: Dass der Schmerz durch das Bewusstsein entsteht. Ich kann das System, das Schmerz verarbeitet, aktivieren. Aber ob ich dann auch Schmerz empfinde, ist etwas anderes. Schmerz ist mehr als nur die Aktivierung des Schmerzsystems. Der Schmerz muss eingeordnet werden. Deswegen kann „Schmerz“ auch losgelöst sein von einer Verletzung.
Und das Einordnen ist dann von Mensch zu Mensch unterschiedlich?
Pauli: Entscheidend ist, ob der Mensch sagt, er hat Schmerzen. Wir können noch so viel Aktivität im Gehirn messen: Schmerz ist dann da, wenn ein Mensch ihn empfindet. Rittner: Wobei man nie „die eine“ Schmerzregion im Gehirn gefunden hat. Es gibt wahrscheinlich eher ein komplexes Netzwerk, das wir noch völlig unzureichend verstehen.
Das heißt, es gibt Fälle, da sagt jemand, er hat Schmerzen. Sie sehen bei Ihren Messungen in seinem Gehirn aber nichts?
Pauli: Das gibt es, die Reaktion im Gehirn passt nicht zur Schmerzäußerung. Aber die Schmerzen muss man demjenigen auch glauben. Er hat diese Schmerzen, sie sind für ihn da. Aber es ist unklar, was diese Schmerzen auslöst. Gerade bei chronischen Schmerzen weiß man häufig gar nicht mehr, wo kommen sie her, was war der Auslöser?
Was ist aus psychologischer Sicht der Sinn von Schmerzen?
Pauli: Sie sind ein Signal, ein Warnsignal, das mir zeigt, dass ich etwas verändern muss. Dieses Signal kann sich aber irgendwann losgelöst haben von einer echten Verletzung. Wobei auch ein Psychologe nicht sagen würde, dass es keine biologische Grundlage dafür gibt. Es gibt dann keinen einzelnen, einzigen Grund für den Schmerz. Das Bild ist komplex.
Rittner: Vieles verstehen wir auch noch nicht richtig. Wir haben teils noch gar nicht die technischen Möglichkeiten um zu sehen, wie genau Schmerz funktioniert. Wenn man die funktionelle Magnetresonanztomografie nimmt, mit der man physiologische Funktionen im Inneren des Körpers sichtbar machen kann: Man kann das vom Gehirn oder mit großen Einschränkungen vom Rückenmark machen. Vom Ganglion geht es schon nicht. Ebenso kann man die Aktivität von kleinen Schmerzfasern nur in sehr aufwendigen Untersuchungen messen. Bei Untersuchungen im Tier sieht man natürlich sehr viele molekulare Veränderungen durch den Schmerz. Beim Menschen kann man bisher vieles gar nicht abbilden oder untersuchen.
Pauli: Und auch wenn es um akuten Schmerz geht, den wir bei Untersuchungen auslösen können: Auch wenn der physikalische Reiz der identische ist, was dabei als Aktivität im Gehirn messbar ist oder im Schmerzbericht herauskommt, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch deutlich. Das hängt von verschiedensten Faktoren ab: von seiner Vorgeschichte, seiner Schmerzerfahrung, von der Situation, in der er ist, von kulturellen Faktoren.
- Lesen Sie hier: Wenn's nicht nur zwickt, sondern weh tut. Was ist Schmerz?
Nun geht es im Promotionsschwerpunkt mit den Theologen um Resilienz . . .
Pauli: Das ist für uns das Neue und Spannende. Wir haben uns bislang zum Beispiel viel damit beschäftigt, wie Aufmerksamkeit und Emotionen Schmerz beeinflussen. Jetzt geht es – auch generell in der Forschung – nicht nur darum zu schauen, was macht dich krank. Sondern darum zu schauen: Was macht dich nicht krank? Warum kann der eine nach einem Hexenschuss nach ein paar Wochen wieder normal gehen, bei einem anderen aber wird das chronisch? Wir wollen schauen: Was schützt den einen vor der Chronifizierung?
Rittner: Man geht davon aus, dass das aktive Prozesse sind. Bei „Resilienz“ denkt man oft an „Unverwundbarkeit“, die gegeben sei. Was wir lernen: Es sind Prozesse und man „reift“ auch, man kann Resilienz erwerben und lernen. Es ist nicht nur der Panzer, der mitgegeben wurde oder nicht.
Religiös zu sein, fromm zu sein hilft? Ist Glaube ein Resilienz-Faktor?
Pauli: Es gibt Befunde, dass Optimismus und eine sinnvolle Erklärung für Dinge bei der Bewältigung helfen. Frömmigkeit könnte also ein Faktor sein. Man bewertet eine Situation, einen physikalischen Schmerzreiz vielleicht anders.
Rittner: Von der biologischen Seite aus beschäftigen wir uns mit kleinen Lipiden, die ganz besonders in der Schmerz-Endphase im Körper gebildet werden. Nicht während des akuten Schmerzes, sondern beim Abklingen. Man kennt diese Stoffe erst seit rund zehn Jahren und weiß, dass sie schmerzlindernd wirksam sind. Wir wollen herausfinden: Wie wirken sie, was macht wieder gesund? Welche natürlichen Systeme gibt es, die dafür sorgen, dass man drei Wochen nach dem Hexenschuss wieder arbeiten kann? Wie läuft der Heilungsprozess?
Kann Glaube solche biologischen Prozesse der Selbstheilung aktivieren?
Rittner: Zumindest spielen grundsätzlich Optimismus und soziale Kontakte eine wichtige Rolle. Und Religion kann eine positive Bedeutung dabei haben.
Pauli: Denken Sie an die Placebo-Forschung. Bei Scheinmedikamenten, die eben auch eine deutliche Wirkung haben, weiß man, dass die Erwartung ein wichtiger Faktor ist. Erwarte ich, dass das Mittel den Schmerz lindert? Welche Erwartung weckt derjenige, der das Mittel gibt und verabreicht? Man weiß sehr gut, dass das Placebo biologische Prozesse auslöst. Der psychische Prozess hat also schmerzreduzierende biologische Wirkungen. Ich fühle mich besser, und positive Emotionen reduzieren Schmerz.
Man muss also dran glauben?
Pauli: Zumindest ist die Erwartung im Schmerzbereich ein ganz mächtiger Faktor.
Rittner: Für Theologen geht es ja nicht nur um den Schmerz an sich, sondern sie verbinden mit dem Begriff Schmerz das Leiden. In der Medizin messen wir Schmerz auf eine Skala von null bis zehn, von „kein Schmerz“ bis „größter Schmerz, den man sich vorstellen kann“. Gerade bei chronischen Schmerzen ist diese Skala aber ungeeignet. Wir haben in der Tagesklinik Schmerzpatienten, die geben Schmerz 8 an. Jeden Tag. Was diese Patienten signalisieren möchten, ist einfach, dass sie furchtbar an den Schmerzen leiden.
Und die Theologie gibt dem Leid einen Sinn?
Rittner: Ganz sicher will die evangelische Religion nicht, dass der Mensch leidet.
Pauli: Glaube macht den Schmerz sicher nicht sinnhafter. Aber vielleicht leichter zu verarbeiten. Oder zu akzeptieren, was auch schmerzlindernd wirken kann. Wir untersuchen das in einem Projekt: Ist achtsam sein und akzeptieren genauso wirksam wie Ablenkung? Auch gibt es viele Studien, die zeigen, wie unterschiedlich Schmerz empfunden wird – abhängig davon, ob ich alleine bin oder ob jemand neben mir sitzt. Der soziale Kontext verändert, wie Schmerzen wahrgenommen werden. Gemeinschaft und soziale Unterstützung sind hilfreich. Ein Schmerzreiz ist anders, wenn jemand meine Hand hält. Und wir untersuchen aktuell, ob soziale Faktoren auch noch wirken, wenn Schmerz unter Stress auftritt.