Anmerkung der Redaktion: An Heilig Abend 2001 veröffentlichte die Main-Post unter der Überschrift "Brücken von Mensch zu Mensch" dieses Gespräch mit dem damals amtierenden Bischof von Würzburg, in dem Paul-Werner Scheele erstmals ausführlich über Fußball sprach. In der Jugend kickte Scheele als Halblinker in seiner Klassenmannschaft in Olpe, später begeisterte er sich für Borussia Dortmund. Bis zuletzt verfolgte er die Fußball-Bundesliga samstags in der "Sportschau". Aus Anlass seines Todes finden Sie hier das komplette Gespräch noch einmal zum Nachlesen - auch weil viele von Scheeles Ansichten und Gedanken heutzutage aktueller sind denn je:
Im Exklusiv-Interview spricht Bischof Paul-Werner Scheele über die Gemeinsamkeiten zwischen Sport und Religion, seinen Lieblingsverein Borussia Dortmund, Doping und moralische Grenzen: "So schön es ist, Erster zu sein, das Leben hat viele andere Aufgaben."
Frage: Weihnachten ist das Fest der Geburt Jesu. Was glauben Sie, wenn Jesus in unsere heutige Zeit geboren worden wäre, welchen Sport würde er ausüben? Fußball vielleicht?
Bischof Paul-Werner Scheele: Das ist eine sehr schwere Frage. Er wäre nach meiner Überzeugung sicher körperlich fit und durchtrainiert, allein schon wegen seines Lebensstils. Eine Sportart zu nennen, wäre ein bisschen zu fantasiereich. Er würde einen Mannschaftssport wählen, weil er gekommen ist, um Gemeinschaft zu stiften. Ich denke, Mannschaftssport ist mit die beste Schule der Gemeinschaft. Natürlich hätte er, auch wenn er in unsere Zeit geboren würde, einen Grundauftrag, der weit über sportliche Bereiche hinausgeht. Ob er da die Zeit gefunden hätte, um regelmäßig zu trainieren, bezweifle ich.
Ihr Wirken als Bischof von Würzburg haben Sie unter die Überschrift "Frieden und Freude" gestellt. Welchen Platz findet der Sport darin?
Scheele: Er gehört zu den Hilfen, die uns Friede und Freude vermitteln können. Die meisten Sportarten zielen ja darauf, Menschen zusammen zu bringen und ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Das ist ein wichtiger Friedensdienst. Mancher junge Mensch, der mit seinen Kräften sonst vielleicht nicht wohin wüsste oder Aggressionen hat, kann sie da auf eine vernünftige Weise abreagieren. Wenn man ein richtiges Fußballspiel hinter sich hat - und es hat nicht gerade zu einer Schlägerei geführt -, ist man auch wieder offener und friedlicher und freut sich hinterher, selbst wenn man verloren hat. Meist ist ja dann der Schiedsrichter schuld gewesen. Dass es Freude macht, seine Leistung zu bringen und zu verbessern, was in einem steckt, ist ja klar. Da wird dann auch ein kleiner Sieg zu einer großen Freude. Es braucht viele kleine Schritte für den großen Frieden, und im Sport werden einige dieser Schritte gemacht. Manchen Fans bedeutet der Fußball unheimlich viel, gerade im Westen.
Sie stammen aus Olpe und sollen deshalb, so ist zu hören, mit Borussia Dortmund sympathisieren.
Scheele: Das kostet zwar Bekennermut hier im Frankenland, aber so ist es. Meine Mutter war eine Dortmunderin, dort habe ich auch das Laufen gelernt. Borussia Dortmund hat dann in meiner Heimat oft gegen die Spielvereinigung Olpe gespielt, in der mein Bruder gekickt hat. So bin ich von Jugend auf damit verbunden.
Waren Sie schon im Westfalenstadion?
Scheele: Natürlich. Dortmund gehört ja zum Erzbistum Paderborn, in dem ich zunächst tätig war. Von damals ist mir das alles vertraut. Freilich bedauere ich es, dass faktisch mit Lars Ricken nur noch ein einziger Dortmunder in der Mannschaft ist. Dass heute internationale Stars zusammengekauft werden, ist sicher eine Entwicklung, die man unterschiedlich werten kann. Wenn die deutsche Nationalmannschaft nicht mehr so erfolgreich ist, hängt das sicher auch damit zusammen, dass viele tüchtige deutsche Talente nicht mehr die Chance haben, den Härtetest in der Bundesliga mitzumachen.
Für die Anhänger der Ruhrpott-Vereine wie Schalke oder eben Dortmund ist ihr Klub eine Art Ersatz-Religion. In der Borussen-Hymne heißt es etwa: "Leuchte hell, mein Stern Borussia, leuchte hell, zeig mir den Weg." So ähnlich könnte es auch im "Gotteslob" stehen. Wie beurteilen Sie diese moderne Heldenverehrung?
Scheele: Man kann vieles als Ersatz-Religion missbrauchen. Ich würde aber erst einmal das Positive sehen. Für viele Leute, speziell im Ruhrgebiet, die eine große Zahl an sozialen Problemen zu bewältigen hatten und haben, ist eine Mannschaft etwas, was sie zusammenbringt. Nicht nur für die Stunde des Spiels. Die meisten sind ja schon weit vorher da und singen viel lauter als sie es in der Kirche sonst täten. Für die ist das auch ein Stück Lebenshilfe. Dass dies für einige dann die höchste Lebenshilfe ist, ist natürlich schade, weil man diesen Leuten ja mehr gönnt, als nur die Erlebnisse mit dem Fußball.
Kampf, Niederlagen, Siege, Aufstehen. Fast scheint es, als verbinde Sport und Religion eine tiefe Seelenverwandtschaft. Sehen Sie das ähnlich?
Scheele: Sicher gibt es manch innere Verbindungslinie. Nicht umsonst nimmt Paulus in der Bibel beispielsweise die Athleten, die um den Sieg kämpfen, als Vorbilder für christliches Handeln. Das würde er ja nicht tun, wenn er es für etwas Schlechtes hielte. Aber er sagt auch, 'die kämpfen um einen irdischen Preis, den vergänglichen Lorbeer, ihr könnt und sollt einen ewigen Preis erhalten. Aber nehmt Euch dort ein Beispiel.' Das ist eine Komponente, die Sport und Glauben verbindet. Dazu gehört auch die Gemeinschaft, in der ja Sport heutzutage hauptsächlich ausgeübt wird. Sicher gibt es auch Einzelsportler wie Tennisspieler, aber wenn es um einen Cup geht und eine Mannschaft tritt auf, ist es immer noch spannender, als wenn es um einen einzelnen Star geht. Das ist etwas, was mir gerade den Fußball sympathisch macht.
Lässt sich der Sport in die Glaubenserziehung mit einbinden?
Scheele: Aber sicher, etwa bei Firmungen. Wenn es um Meisterschaften oder große Spiele geht, sind ja auch hier die jüngeren Leute sensibilisiert. Sonst können wir ja in Würzburg nicht gerade Spitzenfußball erleben, aber wenn etwa Weltmeisterschaft ist, sind alle wach, und so kann man vieles vom Sport her ansprechen. Etwa, dass man nicht sagen kann: Dieser Verein hat so viel Millionen angelegt und hat so viel Stars zusammengekauft, also wird er Erster. Da kann auf einmal eine Mannschaft, die gar keine strahlenden Namen aufzuweisen hat, groß rauskommen, weil der Geist, der Mannschaftsgeist da ist. Das ist etwas, das können Sie nicht messen. Den richtigen Geist vermitteln, das ist die Kunst des Trainers und auch eine Analogie zu dem, was in der Kirche passieren soll.
Die Kinder verstehen das?
Scheele: Natürlich. Ich spreche gelegentlich auch davon, was ein richtiger, gefirmter Fußballer alles fertig bringt. Dass er nicht nur selber groß rauskommen will, sondern zur Mannschaft hält. Dass er den ermutigt, der mal einen schlechten Tag hat, der selber was bringt und nicht nur Sprüche macht. Das sind Grundhaltungen, um die es auch in der Kirche geht.
Nach Ihren Schilderungen müssten Sie eigentlich ein Faible für den SC Freiburg haben, der es stets schafft, ohne große Stars guten Fußball zu präsentieren . . .
Scheele: Das muss ich tatsächlich sagen. Ich staune, was dort der Trainer Volker Finke fertig gebracht hat, obwohl seine besten Leute immer wieder verkauft wurden. Da habe ich meine Freude dran.
In letzter Zeit fällt in der Bundesliga auf, dass Spieler, wie etwa jüngst Cacau vom 1. FC Nürnberg, nach einem Tor ein Trikot mit christlichen Botschaften wie "Jesus liebt Dich" präsentieren. Was halten Sie von solchen Ritualen?
Scheele: Ich nehme zunächst den Einzelnen ernst. Der hat die Überzeugung, dass das, was ihm wichtig ist, bei dieser Gelegenheit auch für andere wichtig sein kann. Es fällt ja eigentlich fast noch mehr auf, wenn der eine oder andere Südamerikaner ein Kreuzzeichen macht. Da habe ich wirklich den Eindruck, dass das eine Geste ist, die ihnen von Kindheit an vertraut ist. Es soll zeigen, dass alles, und nicht nur was Maradona 1986 mit der Hand gemacht hat, etwas mit Gott zu tun hat. Das finde ich respektabel. Vornehmlich, Sie sprachen es an, sind das Gesten von Südamerikanern.
Wünschen Sie sich solche Glaubensbekenntnisse auch von einem deutschen Spieler?
Scheele: Das muss nicht unbedingt sein, er kann das auch durch seine Fairness und sein Spiel zeigen. Den Deutschen liegt das nicht in dieser Weise. Aber wenn so ein Mann wie etwa Heiko Herrlich berichtet, wie er mit dieser schweren Erkrankung, einem Gehirntumor, fertig geworden ist, wie der Glaube ihm geholfen hat, das wiegt für mich dann mehr als ein äußeres Zeichen. Für viele junge Menschen sind persönliche Aussagen solcher Spieler wirksamer, als wenn der Bischof etwas sagt.
Bedauern Sie das?
Scheele: Nein. Ich freue mich darüber. Der Glaube soll ja von allen Christen weitergegeben werden. Es wäre ja schlimm, wenn nur der Bischof dafür zuständig wäre. Ich kann ja auch gar nicht mit so vielen Leuten Kontakt haben, wie es schön wäre. Deshalb brauchen wir jeden Einzelnen.
Haben Sie Probleme damit, dass der Sport mittlerweile zu einem Milliarden-Geschäft geworden ist, in dem die finanziellen Absichten die hehren Ziele abgelöst haben?
Scheele: Ja, das macht mir schon Sorgen, wenn die Maße gesprengt werden und zig Millionen Mark für einen Fußballer hingelegt werden. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Arbeitslose da sind, dass Menschen verhungern auf der Welt, dann sind die Proportionen schon entstellt. Ein Fußballer verdient heute ja ein Vermögen, wie es kein Bundeskanzler, Bundespräsident und kein noch so begnadeter Künstler bekommt.
Wäre Rückschritt ein Fortschritt?
Scheele: Dass Fußball eine geschäftliche Komponente hat, ist klar. Ich erinnere mich aber gerne an meine Jugend. Mein Bruder war ein Lokalmatador in Olpe und ich musste in der Klassenmannschaft immer die gleiche Position haben wie er. Damals gab es das ja nicht mit Viererabwehrkette oder Libero. Zwei Verteidiger, drei Läufer, fünf Stürmer. Das war's. Mein Bruder war ein guter Halblinker, der auch mit beiden Füßen schoss. Meine Mutter hat jeden Sonntagabend die dreckigen Klamotten bekommen. Da musste eingeweicht werden, da musste mit dem Waschbrett gerieben werden, 'und dann kommen sie immer noch', sagte sie stets, 'und sammeln auch noch Beitrag ein dafür, dass er spielt.' Das ließe sich heute nicht mehr durchführen, das muss man nüchtern sehen. Aber wenn es ausufert, dann verschwindet das Element der Freude im Sport.
Welche Rolle spielt der Sport angesichts der dramatischen Probleme in der Welt?
Scheele: Er kann wichtige Friedensdienste leisten, ist jedoch keine Wunderwaffe. Die Probleme, die uns heute weltweit zu schaffen machen, sind so, dass sie höchsten Einsatz auf den verschiedensten Gebieten fordern. Aber wenn beispielsweise Olympische Spiele gelingen, und es können auch Mannschaften gemeinsam um den Sieg kämpfen, deren Länder ansonsten verfeindet sind, dann gibt es neue Brücken von Mensch zu Mensch. Wenn viele Leute von Kindesbeinen an lernen, dass dies Erzfeinde sind, gegen die man kämpfen muss, dann wird es irgendwann zu einem Krieg kommen. Wenn aber junge Leute, etwa beim Sport, den anderen kennenlernen, sich austauschen, aufeinander zu gehen, dann bildet sich eine Luft, in der Friede möglich wird. Im Wintersport häufen sich Stürze, im Radsport und der Leichtathletik gibt es immer wieder spektakuläre Dopingfälle. Es scheint, als ob der Sportler heutzutage gezwungen wird, seine moralische Grenze zu verschieben, um Erfolg zu haben.
Mit welchen Gefühlen beobachten Sie diese Entwicklung, in der der zweite Platz schon nicht mehr zählt?
Scheele: Vor allem ist ja der vierte Platz undankbar. Der Zweite erhält immerhin noch eine Medaille. Aber es stimmt natürlich und ist zugleich schade, dass diejenigen, die eine Nasenlänge zu spät kommen, kaum noch zur Kenntnis genommen werden. Oft sind die Zeiten so dicht beieinander, dass man auch den anderen Respekt schuldet. Sicher kann man in den Medien mithelfen, dass hier eine andere Werteordnung installiert wird. Verbessert werden müssen auch die Sicherheitsmaßnahmen. Es darf nicht sein, dass da einer in den Tod rast. Die Versuche, durch Doping die Grenze des Leistbaren zu erreichen, sind natürlich zu bedauern. Vor allem für den, der das versucht. Die Grenze ist schnell überschritten und dann mit lebenslangen gesundheitlichen Folgen verbunden. Man muss den Leuten sagen: So schön es ist, Erster zu sein, das Leben hat noch viele andere Aufgaben und schöne Seiten.
Es muss also die Erwartungshaltung geändert werden?
Scheele: Richtig, von der hängt alles ab. Mich ärgert das immer beim Fußball. Jeder, der selbst einmal gespielt hat, weiß, ob der Ball jetzt an die Latte geht oder rein, das hat keiner mehr auf seinem Fuß. Geht er an die Latte, dann fallen sie über den Spieler her, manchmal ist das sehr ungerecht.
Wie nah Sieg und Niederlage beieinander liegen, bewies die Bundesliga in diesem Jahr. Eigentlich war Schalke schon Meister, in allerletzter Sekunde aber traf der FC Bayern noch zum Ausgleich und gewann den Titel. Damals kursierte immer wieder das Wort vom "Fußball-Gott", der ein Münchner sein müsse. . .
Scheele: . . . wovon ich im übrigen sehr wenig halte. Gott ist für alle da. Für viele ist diese Redeweise wohl der Ausdruck für die höchste Steigerung einer Hilfe. Aber für mich ist Gott so heilig, dass ich ihn in diesem Zusammenhang nicht gerne höre.
In Brasilien gibt es das Sprichwort: "Gott hat am siebten Tage den Fußball geschaffen." Wie stehen Sie zu solch einer Legenden-Bildung?
Scheele: Da habe ich nun wieder keine Schwierigkeiten, nur will ich das nicht auf den Fußball beschränken. Gott hat den Menschen als Gemeinschaftswesen geschaffen und ihm Gaben mitgegeben mit der Aufgabe, diese zu entfalten und mit den Talenten zu wuchern, wie es Jesus sagt. Ein Verein, der eine Spitzenmannschaft hat, aber auch Breitensport anbietet, das ist eine Sache, die durchaus zur Schöpfungsordnung gehört und die sicher auch von Gott gewollt ist. In unserer Gesellschaft verkommt der Sonntag immer mehr zur Normalität.
Befürworten Sie den Sonntags-Sport, wenn der Kicker dafür am Samstag in die Vorabendmesse geht?
Scheele: Das ist ein gewisses Problem, denn die Vorabendmesse ist nicht überall gegeben. Der Sonntag als ganzer hat ja seinen Sinn, er soll insbesondere die Familie zusammenführen. Ich weiß, dass Zwänge entstehen, wenn alle Termine bis in die C-Klasse untergebracht werden müssen. Ich habe Verständnis dafür, ich erwarte aber auch von den Terminplanern, dass sie den Sonntagmorgen möglichst frei lassen. Zu meiner Jugendzeit waren die Fußballspiele immer Sonntagnachmittags. In meinem Elternhaus war es ja selbstverständlich, dass man jeden Tag in der Messe war, aber man musste Sonntagnachmittags auch noch in die Andacht, und das konnte schon etwas mit dem Spiel kollidieren. Ich erinnere mich, dass ich damals manche Nöte hatte, denn ich wollte unbedingt zum Anpfiff auf dem Sportplatz sein. Es gibt heute genug Ausweichzeiten. Auch ein Sportler braucht Zeit zur Ruhe.