46 Jahre nach seinem Agenten-Einsatz kam Horst Hesse noch einmal nach Würzburg und Ochsenfurt zurück. Doch die Stätte seines größten Triumphes als Stasi-Agent hinterließ bei dem 80-Jährigen gefeierten Spion eher Trübsal. Die Mischung aus Dichtung und Wahrheit, die man bei der Stasi um den Fall gewoben hatte, bedrückte ihn - und am Ende schien ihm der Preis sehr hoch, den er privat für diesen Coup zahlen musste.
Dabei wurde der Würzburg-Coup von 1956 unter Hesses Leitung als einer der größten Geheimdienst-Erfolge der Stasi überhaupt verklärt. Zur Vermischung von Dichtung und Wahrheit trug der Film "For Eyes Only" aus dem Jahr 1963 bei, eine Agentenklamotte, mit der Hesse so gut wie nichts zu tun hatte, die aber immer mit seinem Namen verbunden wurde.
Safe mit brisanten Dokumenten gestohlen
Fast ein halbes Jahrhundert zuvor erregten an einem sonnigen Sonntag Ende Mai 1956 zwei Männer im Würzburger Stadtteil Frauenland Aufsehen. Sie wirkten besorgt, als sie an den Haustüren der Eisenmannstraße, der Haydn- und der Franz-Liszt-Straße klingelten. Besorgt fragten sie, ob die Bewohner in der Nacht etwas von einem Einbruch in dem Wohnhaus in der Eisenmannstraße bemerkt hätten.
In dem Haus fehlte nicht nur ein Safe mit brisanten Dokumenten. Der US-Major John C. Walker, der hier eine getarnte Filiale des US-Geheimdienstes MID untergebracht hatte, vermisste auch einen seiner aus Ostdeutschland stammenden Mitarbeiter: Horst Hesse aus Magdeburg, der in Übergangslagern im Auftrag des US-Geheimdienstes Flüchtlinge über die Verhältnisse in der DDR befragt und geeignete Kandidaten für die Tätigkeit als Spion rekrutiert hatte.
Neun Tage später erfuhr man nicht nur in Würzburg, wo Tresor und Agent geblieben waren. DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl präsentierte den Safe samt Inhalt. Der vermisste Horst Hesse enttarnte triumphierend in einer Ostberliner Zeitung die Arbeitsweise der Würzburger MID-Zentrale und sämtliche Mitarbeiter.
Dichtung und Wahrheit: Ein PR-Erfolg der Stasi
Der angeblich übergelaufene Spion erklärte dabei: "Nachdem mir Zweifel gekommen waren über die Richtigkeit meiner Tätigkeit, fasste ich den Entschluss, mit dem Geheimdienst zu brechen und in die DDR zu gehen. Zum Beweis meines Willens nach Wiedergutmachung nahm ich mir vor, sämtliche Panzerschränke mit ihren wichtigen Inhalten in die DDR zu bringen."
John C. Walker wurde dadurch ebenso enttarnt wie seine damalige Würzburger Geliebte Lieselotte P., die am Rennweger Ring wohnte. Hesse verriet seine Mitarbeiterin Luise Thomschke, die in dem Haus in der Eisenmannstraße 4 wohnte, den Funkausbilder Willi Deutschewitz aus Veitshöchheim sowie die Deckadresse einer Anna Lauerbach in Kaltensondheim bei Kitzingen, über die man Kontakt mit DDR-Bürgern aufgenommen hatte. 137 in der DDR lebende Agenten fielen diesem Verrat zum Opfer.
Zum Schein anwerben lassen
Die Geschichte vom reuigen US-Agenten, der sich der DDR-Staatssicherheit offenbart, war freilich ein Schmierenstück der Desinformation. Denn die "Aktion Sonnenschein" war von langer Hand geplant. Die Amerikaner hatten Hesse zunächst in Magdeburg angeworben, ohne zu ahnen, dass er gleich zur Stasi laufen und das melden würde.
Der DDR-Geheimdienst zog also längst im Hintergrund die Fäden, als sich Hesse zum Schein bereit erklärte, unter dem Decknamen "Lux" für den Westen zu spionieren. Gegen tausend Mark Agentenlohn - damals eine Menge Geld - liefert er zunächst "viel Material über Objekte der Roten Armee in Magdeburg, über Truppenbewegungen, Übungen, Panzerverladungen usw. Das war natürlich alles durch die Genossen vom MfS präpariert, hinterließ aber offenbar einen guten Eindruck", erzählte er später.
Ein Verdacht gegen ihn kam nicht auf, berichtete er stolz. "Die Würzburger Zentrale ließ mich ausdrücklich belobigen, ja sogar prämieren." Schließlich lief Hesse - nach einem geschickt vom Zaun gebrochenen Streit mit seinem Berliner Agentenführer - über und landete in der damaligen Zentrale des US-Militärgeheimdienstes in Unterfranken. "Ich kam im Juni 1955 nach wochenlangen Überprüfungen in Würzburg und Ochsenfurt und nach monatelanger Arbeit als 'Befrager' im Flüchtlingslager Bremen dorthin."
Hesse: "Die Würzburger Zentrale ließ mich belobigen"
Er gewann rasch das Vertrauen von John C. Walker, dem Chef in Würzburg. "Ich wertete Fotokopien von Briefen und Telegrammen aus, die von der DDR in die Bundesrepublik geschickt wurden. Es ging darum, die Post daraufhin zu überprüfen, ob sich irgendwo die Anwerbung von Agenten anbot. Walker selbst ernannte mich zum Leiter der Abteilung 'Agentenwerbung'."
Die Stasi plante unter dem Codewort "Gewitter" den Raub des Tresors mit der Datei sämtlicher MID-Agenten im Osten. Doch kurz zuvor lief im MID-Quartier, das bis dahin in der Frankfurter Straße war, ein anonymer Hinweis ein: "Hier ist die KPD", spricht der unbekannte Anrufer. "Ihr werdet in den nächsten Tagen euer blaues Wunder erleben."
Mit dem Safe im Auto gen Osten
In aller Eile wurde die Residenz der Spione daraufhin in die Eisenmannstraße verlegt. Dann begann die Stasi die "Aktion Sonnenschein": Hesse wartete auf einen Abend, an dem nur die deutschen Sekretärinnen in der Eisenmannstraße waren. Er setzte die Sekretärinnen mit Likör außer Gefecht. Dann wurde der Tresor aus dem Haus geschleppt, in ein Auto verfrachtet - und ab ging es Richtung DDR-Grenze.
In Ost-Berlin hatte Otto Grotewohl seinen großen Auftritt. Und Würzburg wurde Schauplatz für einen Film des DDR-Fernsehens über die "Kundschafter des Friedens". Ein Fahndungsfunkspruch charakterisierte Hesse 1956 als "gefährlichen Roten", der "unter allen Umständen zu ergreifen" sei. Hesse wurde von einem US-Militärgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt.
Ein Film, schöner als die Wirklichkeit
Der Agent lebte nach seiner spektakulären Flucht zurückgezogen, war mit 44 Jahren Frührentner und lebte von seinen Erinnerungen. Er berichtete bei internen Vorträgen über seinen Einsatz im "Operationsgebiet". Glück hatte ihm der Einsatz beim Klassenfeind nicht gebracht - seine Frau verließ ihn mit seinem Agentenführer.
Der Film machte aus dem Diebstahl eines Safes mit internen Papieren die Vereitelung eines Angriffsplanes der Nato auf den Osten. Und Hesse, der vom Filmset sorgsam ferngehalten wurde, glaubte am Ende selbst daran, dass er einen Angriff auf die DDR verhindert habe. Möglicherweise machte sich Hesse bei landesweiten Vorträgen die Geschichte auch nur deshalb zu eigen, weil sie ihm die PR-Truppe der Stasi in seine Reden schmuggelten. "Ich hatte damals viel vorgeschriebenes Material erhalten, das hat mir auch nicht gefallen", erinnerte sich Hesse später.
Ein letzter Besuch in Würzburg
Sein Biograph Peter Böhm stilisierte ihn später zu einem ostdeutschen Helden hoch, auch aus Zorn darüber, dass der westdeutsche Staat nach der Wende 1990 Ermittlungen gegen Hesse aufnahm, die letztlich ergebnislos blieben. Der Wahrheit näher kam der im Jahr 2008 erschienen Dokumentarfilm "For Eyes Only - Ein Film und seine Geschichte" von Gunther Scholz.
Scholz fuhr mit dem damals 80-jährigen Hesse 2002 nach Würzburg und Ochsenfurt. Bilder aus dem DEFA-Museum zeigen ihn, auf einem Mäuerchen vor dem Käppele sitzend. Er blickte auf den Main und Würzburg hinunter und zog mit heiserer Stimme sein Lebens-Fazit: "Ich stehe heute da wie ein Lügner."
Als er 2006 starb, blieb das "Neue Deutschland" in einem Nachruf bei der Propaganda-Version: Hesse habe "zu Pfingsten 1956 zahlreiche geheime Dokumente in die DDR bringen können, darunter auch Angriffspläne".