"Kommt da keiner auf die Idee, dass der schuld ist an Todesurteilen?" Noch nach 46 Jahren macht dieser Fall Rosmarie Nebeling wütend. "Wenn der jetzt hier vor mir stehen würde, würde ich ihn ohrfeigen." Das ist der resoluten Dame zuzutrauen, und sie hat ein Motiv: Die gebürtige Wuppertalerin arbeitete in jenen Tagen für die 7982. Liaison Group (Verbindungsstelle), jene geheime Dienststelle des US-Militärs, die durch Hesses Coup "aufflog".
Die Würzburgerin erinnert sich: "Damals war in der DDR die so genannte 'Rote Hilde' Benjamin Justizministerin. Die war berüchtigt für ihre Todesurteile." Spionen drohte die Hinrichtung durch das Fallbeil, in späteren Jahren der Genickschuss.
Rosmarie Nebeling war Mitte der 50er Jahre im so genannten River-Building am Mainkai tätig, einer offiziellen Dienststelle des US-Militärs in Würzburg. Daneben unterhielt der US-Nachrichtendienst in der Domstadt mehrere konspirative Wohnungen in unauffälligen Privathäusern, in denen sich die trafen. "Eine war in der Eisenmannstraße, wo Hesse den Tresor klaute", erinnert sich Nebeling. "Eine andere Anlaufstelle war im Steinbachtal, in der Nähe der Firma Kneipp, da beim Volksgarten."
"Der ist vor einer halben Stunde hier durch"
US-Funkspruch bei der Fahndung nach dem Spion Horst Hesse
Wie Nebeling war auch der heute in Margetshöchheim (Lkr. Würzburg) lebende Gerhard Grimm damals für die US-Militärs tätig - sie im Büro, er als Fahrer, der Autos wartete und Offiziere des US-Nachrichtendienstes an die Grenze brachte, damit sie Funkkontakt mit Informanten in der DDR aufnehmen konnten.
Zu den regelmäßigen Mitarbeitern des US-Geheimdienstes in Würzburg gehörte damals ein Mann, der laut Stasi-Akten als Horst Berger auftrat, den Rosmarie Nebeling aber nur als "Lux" kannte. "Das war ein ganz arroganter Bursche", erinnert sie sich. "Und ich habe mich immer gewundert, warum die einen beschäftigen, dessen Frau noch im Osten wohnt und ihn dauernd besucht." Aus den Akten der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen weiß man heute: Die Frau, die "Lux" alias Hesse immer wieder besuchte, diente als Kurier, um der Stasi das Material zu bringen, das der Agent bei den US-Schlapphüten gesammelt hatte. Sie überbrachte auch die letzten Anweisungen über den Fluchtweg nach dem Raub der Agentenkartei.
"War das ein Zirkus damals," erinnert sich Grimm an den Morgen, nachdem Tresor und Doppelagent vermisst wurden. Weil Gerhard Grimm aus dem Osten stammte, geriet er zunächst unter Verdacht, ebenfalls ein "Maulwurf" der Stasi zu sein. Er musste sich einem Test am Lügendetektor unterziehen - erst dann nahmen ihm die technikgläubigen Amerikaner ab, dass er mit dem Raub nichts zu tun hatte. Der geflohene Horst Hesse hatte den Test freilich schon ein Jahr zuvor gemacht - ohne dass ein Verdacht aufkam, er könne ein Doppelagent sein.
"Ich wurde am Montag um 7 Uhr angerufen", erinnert sich Rosmarie Nebeling. "Macht keine Scherze, heute ist doch nicht der 1. April", war ihre erste Reaktion, als sie in die Dienststelle kam. Da wurde bereits hektisch telefoniert und nach dem flüchtigen Lux gefahndet - tot oder lebendig, wie es hieß.
Doch schon bald kam die Nachricht eines Außenpostens aus Hof, der den Wagen gesehen hatte. "Der ist vor einer halben Stunde hier durch" - da war der DDR-Spion mit seiner Beute bereits jenseits des Eisernen Vorhangs. Kurz darauf begann die Stasi mit Hilfe der erbeuteten Kartei, das Agentennetz der Amerikaner auf ihrem Gebiet aufzurollen.
Nicht alle Agenten fielen dem Verrat zum Opfer und wurden gefasst, wie sich Nebeling erinnert. "Einige konnten während der Pfingstfeiertage gewarnt werden" und flohen mit ihren Familien in den Westen, nach Würzburg. "Zeitweise platzte das Haus im Steinbachtal fast aus allen Nähten."
Die US-Geheimdienststellen und das hier stationierte Personal waren nun freilich enttarnt und wurden schnell aufgelöst. Grimm und Nebeling wechselten zu US-Dienststellen in Frankfurt. Rosmarie Nebeling, damals schon für die FDP in Würzburg tätig, wurde zwar gefragt: "Was war denn bei Euch los?" Aber sie durfte nichts sagen. Doch wenn sie heute hört, wie der DDR-Spion Hesse noch immer Interviews gibt, ist sie nicht zu halten: "Das ist ein Schuft, der damit noch immer Geld verdient."