Das Treffen mit Roland Stierle darf natürlich nicht irgendwo in der Redaktion stattfinden. Und oben auf einer der 322 Hütten des Deutschen Alpenvereins (DAV)? Die meisten sind um diese Jahreszeit geschlossen. Also verabreden wir uns zu einer Wanderung durch die schneebedeckten Oberallgäuer Voralpen. Es geht in Richtung Reutter Wanne bei Wertach. An einem jener traumhaften Wintertage mit Sonne und pulvrigem Schnee.
Reichen drei, vier Stunden, um über den Alpen-Tourismus zu reden, um auch nur die wichtigsten Stationen der 150-jährigen Geschichte des DAV anzusprechen? Wir versuchen es. Roland Stierle ist einer der Vizepräsidenten des Alpenvereins und vor allem für den Bereich Hütten und Wege zuständig. Er vergleicht den Bergsteigerverband mit einer großen Familie. Da gebe es natürlich unterschiedliche Meinungen und Strömungen, sagt der 65-jährige Familienvater, aber eben auch einen großen Zusammenhalt. Man verstehe sich als "pluralen Verein mit hohem Demokratieverständnis".
Was auch nötig ist in einer Interessengemeinschaft, die inzwischen fast 1,3 Millionen Mitglieder zählt. Die seit Jahren boomt wie der ganze Alpen-Tourismus. Und in der Diskussionen geführt werden müssen, wie weit dieser Boom noch gehen darf, wie Massentourismus und Naturschutz zusammenpassen, wo man sich wie positionieren soll.
Hinter all dem steht die Frage, ob den Alpen angesichts ständig neuer Rekordzahlender sogenannte "Overtourism", der Übertourismus, droht. Denn der Boom wird weitergehen. Professor Alfred Bauer, Tourismus-Forscher an der Hochschule Kempten, warnt etwa vor einer kritischen Entwicklung an einzelnen Brennpunkten wie Neuschwanstein oder dem südlichen Oberallgäu, "das an manchen Tagen regelrecht im Verkehr erstickt". Nur: Das mit dem Pluralismus und Demokratieverständnis war mitnichten schon immer so ausgeprägt beim DAV.
Gegründet wird der Verein am 9. Mai 1869 im Münchener Gasthaus zur Blauen Traube. Dort versammeln sich 36 Männer, die mit der Ausrichtung des sieben Jahre zuvor entstandenen österreichischen Alpenvereins unzufrieden sind. "Der Deutsche Alpenverein sollte für alle da sein, die die Berge lieben", erzählt Stierle.
Damals freilich klingt das noch etwas pathetischer: Es gehe darum, "alle Verehrer der erhabenen Bergwelt zu vereinen". Der königlich bayerische Regierungsbeamte Gustav Bezold wird an jenem Abend zum Gründungspräsidenten gewählt. Die Berge, so das Ziel, sollen für alle Menschen zugänglich gemacht werden.
Es folgen die Jahre der Hüttenbauten, die Alpen werden durch Wege und Steige erschlossen. 1889 etwa eröffnet die Sektion Würzburg die Edelhütte in den Zillertaler Alpen. Deutscher und österreichischer Alpenverein sind da zwar bereits zum Deutschen und Österreichischen Alpenverein (DuÖAV) verschmolzen – aber noch ist dieser ein reiner Männerhaufen. Das ändert sich 1893. Mit Käthe Levi, einer Kindergärtnerin aus München, wird die erste Frau aufgenommen. Ihrem Argument haben die Herren der Schöpfung nicht mehr viel entgegenzusetzen: "Ja sagn’S amal, hat denn unser Herrgott d‘Berg bloß für d‘Mannsbuilder g‘schaffen?"
Um die Jahrhundertwende aber beginnen die dunklen Kapitel in der Geschichte des Alpenvereins. Antisemitische Tendenzen greifen früh um sich. 1899 beispielsweise wird die Sektion Mark Brandenburg ausschließlich für "christlich getaufte, deutsche Staatsbürger" gegründet. Die meisten der damals 110 örtlichen Sektionen führen schon 1921 einen "Arierparagrafen" ein, der jüdische Bergsteiger ausschließt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird der DAV in den "Reichsbund für Leibesübungen" eingegliedert. Erst nach Kriegsende erlauben die Alliierten Anfang der 1950er Jahre eine Neugründung des Vereins.
Seitdem wächst und wächst der DAV. Auf nun, im Jubiläumsjahr 2019, knapp 1,3 Millionen Mitglieder in 356 Sektionen. Der Frauenanteil nimmt ständig zu und liegt aktuell bei fast 43 Prozent. Es klingt unglaublich: In Zeiten, in denen immer mehr Vereinen die Menschen davonlaufen, hat der Alpenverein ein jährliches Mitgliederplus von vier Prozent und mehr. Und das nicht nur in den Alpen-nahen Sektionen, sondern auch im Norden Bayerns.
Allein in Unterfranken gibt es mittlerweile fünf DAV-Sektionen mit mehr als 27 000 Mitgliedern, die größte in Würzburg zählt rund 9400 Bergsportbegeisterte. In den oberfränkischen Sektionen sind es insgesamt über 24 200 Mitglieder.
Worauf aber gründet dieser Boom, wo der DAV in früheren Jahren doch mit einem so angestaubten Image zu kämpfen hatte? Der pensionierte Ingenieur Roland Stierle nennt, gemütlich durchs Oberallgäu wandernd, den Trend zu Natursportarten als einen Grund. Jeder Hüttenwirt kann das bestätigen. Immer mehr junge Leute sind in den Bergen unterwegs. Sie wandern, fahren Mountainbike – oder klettern. Die Bewegung in der Vertikalen boomt seit Jahren. Und fast überall dort, wo eine Kletterhalle entsteht, gehen die Mitgliederzahlen des Alpenvereins ordentlich nach oben. Das gilt auch für Würzburg. Dort hat sich die Mitgliederzahl seit der Eröffnung des Kletterzentrums im Stadtteil Zellerau im Jahr 2009 verdoppelt. Ähnlich sieht es in Schweinfurt aus: Dort eröffnete die Kletterhalle 2015, seitdem traten rund 1000 Mitglieder neu in die Sektion ein.
Immer tiefer wird der Schnee auf den schmalen Waldwegen Richtung Reutter Wanne. Seit einiger Zeit, sagt Stierle, habe er Probleme mit den Knien. Heute wieder. Er, der in den 1970er und 80er Jahren die wildesten Touren in den Alpen geklettert ist. Jetzt, wenn mal hier und da was zwickt, geht Stierle auch in die Kletterhalle, beispielsweise mit seinem fünfjährigen Enkel. "Da habe ich absolut kein Problem mit", sagt er. Der 65-Jährige findet es gut, dass der Alpenverein Ketterhallen fördert und damit einen Ganzjahressport für alle Generationen ermöglicht.
Dass sich der DAV verändere und neue Sportarten in sein Programm aufnehme, sei ganz normal. Auch die Hütten würden ja nicht mehr so gebaut wie vor 150 Jahren, so der Vizepräsident. Und überhaupt: Alles ändere sich eben mit der Zeit.
Allerdings gibt es im Verein unterschiedliche Strömungen – zu Beginn genauso wie heute. Und je größer er wird, desto vielfältiger sind die Interessen. So monieren Kritiker, dass der DAV immer mehr eine Art "Alpen-ADAC" sei, also ein großer Service-Dienstleister für Bergsportler. Der alles biete, von der Versicherung bis zum Ausrüstungsverleih. Die Bergkameradschaft früherer Jahre, so die Meinung, sei auf der Strecke geblieben.
Auch die Frage, wie umweltfreundlich der Bergsport sein sollte, beschäftigt die Gremien immer wieder – auf allen Ebenen und in allen Regionen. "Wir sind dem Naturschutz verschrieben", sagt etwa der 2. Vorsitzende der Sektion Würzburg, Tobias Kostuch. Den Ansturm auf die Alpen mit Verboten zu verhindern, hält er für schwierig. "Es kann nicht das Credo des Alpenvereins sein, zu sagen, geht nicht mehr in die Alpen", so Kostuch. Wer den Aufstieg auf die Gipfel aus eigener Kraft, zu Fuß oder mit dem Mountainbike, schaffe und "Freude daran hat, der sollte das auch dürfen". Bergsport und Naturschutz müssten kein Widerspruch sein. Das sieht Roland Stierle ganz ähnlich. Auch Spitzensport und Breitensport bringe man ja unter einen Hut.
Längst wird der DAV bei der Planung von Großprojekten im Alpenraum als anerkannter Naturschutzverband und als Träger öffentlicher Belange angehört. Es gebe Prinzipien, denen sich der Verband verpflichtet fühle, erläutert Stierle beim Abstieg durch den Tiefschnee. Oberste Priorität habe der Erhalt und Schutz der Bergwelt. Zunehmend kritisch sieht der Verein beispielsweise Neubauten von Skiliften und Bergbahnen. So hat er im vergangenen Jahr massiv für den Erhalt des Alpenplans und gegen eine geplante Skischaukel am Riedberger Horn gekämpft. Und wie sieht es mit dem Komfort auf den Hütten aus? Nicht überall müsse man sich duschen können, findet Stierle. "Wenn wir immer mehr Komfort schaffen, dann kommen immer noch mehr Leute."
Der Rückweg führt ein Stück über die viel befahrene Straße zwischen Wertach und Oberjoch. Ein Auto nach dem anderen rauscht vorbei. Roland Stierle kommt aufs Thema Verkehr zu sprechen. Weil Bergsteiger eine intakte Natur liebten, wollten sie sie auch erhalten, sagt er. Dazu gehöre, den Individualverkehr einzuschränken. So ruft der Alpenverein dazu auf, Fahrgemeinschaften zu bilden oder mit der Bahn zu fahren.
Der Klimaschutz sei ein Thema, das den Verein längst erreicht habe, sagt Stierle. Es sei doch im ureigensten Interesse der Bergsteiger: Mit jedem Temperaturanstieg geht der Permafrost, der die Berge sozusagen zusammenhält, weiter zurück. Hochtouren werden gefährlicher, der Steinschlag nimmt zu. Gleichzeitig schwinden die Gletscher. "Die Klimaveränderung wird uns mit unseren Wegen und Hütten vor ganz neue Herausforderungen stellen", glaubt Stierle. Bevor er zu pessimistisch wird, schiebt er noch schnell hinterher: "Wir machen nicht alles perfekt, aber bestmöglich."