Sie erklimmen schwindelnde Höhe, sie steigen dem Gipfelkreuz zu – oder die Betonwand einer Kletterhalle hinauf, die Bergfreunde vom traditionsreichen Deutschen Alpenverein (DAV). Sie wandern mit Sack und Pack in fernen Ländern, mit Kind und Kegel hinauf in den Spessart, den Steigerwald und die Rhön – oder donnern mit dem Mountainbike die Berge dort hinunter. Sie schreiben sich den Naturschutz auf die Fahnen, besingen die Einsamkeit der Bergwelt – und fördern durch Werbung fürs Wandern, Skifahren und Klettern den Massenandrang in die vielerorts geschundenen Berge. Wander- und Kletterfreunde, Bergfexe und Naturschützer – dem Betrachter des Deutschen Alpenvereins tut sich ein Panorama der Vielfalt auf. Wahrlich kein gewöhnlicher Verein – ein überaus erfolgreicher schon.
Die Mitgliederzahlen klettern und klettern. Die Sektion Würzburg ist auf dem Weg zur 10 000er-Grenze. Im Mai konnte Klaus Nees-Brand das 9000. Mitglied willkommen heißen, ein Vierteljahr später sind es schon wieder 150 Mitglieder mehr.
Steil bergauf geht es. Achteinhalb, elf und siebeneinhalb Prozent mehr Mitglieder zählte die Sektion Würzburg in den vergangenen drei Jahren. Längst ist das der größte Verein in Unterfranken, und er bildet nur eine von 354 „Sektionen“ im Alpenverein. Der DAV meldete im Januar knapp 940 000 Mitglieder.
Bei Steigerungsraten von rund fünf Prozent im Jahr dürfte die Eine-Million-Mitglieder-Marke bald überstiegen sein. Der DAV sieht sich nicht nur als weltgrößter Bergsportverband, sondern auch als mitgliederstärkster Naturschutzverband in Deutschland.
Das Basislager des rasanten Erfolgs ist die neue Kletterhalle des DAV im Würzburger Stadtteil Zellerau. Junge Sportkletterer nehmen die in den Beton geschraubten Routen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade in Angriff, der Journalist steigt mit der Fundamentalkritik des Extrembergsteigers Reinhold Messner an den Alpenvereinen ins Gespräch ein. Messner hatte anlässlich des Todes von elf Bergsteigern am 12. Juli im Montblanc-Massiv gewettert, alpine Vereine würden zu den „Totengräbern des Alpinismus“, indem sie das Bergsteigen zum Breitensport machten. Die mit festen Griffen und Absicherungen ausgestatteten Kletterhallen hätten nichts mit Alpinismus zu tun, dafür brauche es einen langen Lernprozess in der Wildnis.
Vorsitzender Nees-Brand und sein Stellvertreter Wilfried Schmidt-Bollmann finden Messners Kritik „ein bisschen anmaßend“ beziehungsweise „überspitzt“. Wer alle 14 Achttausender bestiegen hat, sagen sie, wer das Höhenbergsteigen erst richtig salonfähig gemacht hat, der sollte nicht im Alter auf Menschen schimpfen, die das Gipfelglück auf einem 2000 oder 3000 Meter hohen Berg suchen. Richtig, die neue Kletterhalle hat Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene in großer Zahl zum DAV gebracht. Aber das seien zunächst einmal Sportkletterer und nicht automatisch Berggänger, so Schmidt-Bollmann.
Wie erklären sie sich dann die steigende Zahl der Unfälle in den Bergen? Die gehe überwiegend nicht auf das Konto der Kletterer, sagen Nees-Brand und Schmidt-Bollmann. Unfälle würden meist von Bergwanderern verursacht, die sich selbst überschätzen. Deshalb warne der DAV nicht nur, sondern biete zahlreiche Kurse an, die auf die Realität in Fels und Eis vorbereiten. Außerdem stelle der DAV Regeln für den verantwortungsbewussten Umgang mit der Natur auf.
Neue Hütten? Sind seit 2007, 2008 kein Thema mehr beim Alpenverein, sagt, Schmidt-Bollmann. Bestehende Einrichtungen werden erhalten und modernisiert, die Sektion Würzburg im DAV hat viel Geld in die Karl-von-Edel-Hütte (Zillertal) und die Vernagthütte (Ötztal) investiert. Neben den Kletterhallen sind die mehr als 330 von DAV-Sektionen betriebenen Hütten mit 20 000 Schlafplätzen zweites wichtiges Standbein des Alpenvereins. In ihnen kann das Mitglied viel billiger übernachten als das Nichtmitglied.
Neue Wege? Werden nicht mehr angelegt, sagt Schmidt-Bollmann.
Und neue Klettersteige? Würden überwiegend von Gemeinden oder Tourismusverbänden in den Fels gebohrt. Der DAV habe in den letzten fünf Jahren gerade mal zwei neue „Eisenwege“ angelegt. Und natürlich sei man gegen Stahlseilrutschen in den Bergen, auch als Flying Fox bekannt. „Es muss ja nicht unbedingt sein, dass die Alpen zu einem Fun-Park werden“, sagt Schmidt-Bollmann.
Stört den „mitgliederstärksten Naturschutzverband Deutschlands“ nicht wenigstens der allwinterliche Skizirkus in den Alpen? Schmidt-Bollmann wiegelt wieder ab. „Die Pistenskigebiete machen letztendlich nur drei Prozent der Gesamtfläche (der Alpen) aus“, sagt er. „Es ist gerade im Arlberggebiet, wo sich's ein bisschen häuft. Und in der Schweiz ein paar Zentren.“
Brauchen die Alpen nicht doch ein bisschen mehr Ruhe vom Tourismus? „Ja Gott“, sagt Schmidt-Bollmann, „die Alpen sind eine Kulturlandschaft, eine genutzte Landschaft, kein Nationalpark.“
Mehr als ein Kilo Prospekte haben Klaus Nees-Brand und Wilfried Schmidt-Bollmann mitgebracht. Der kleine Berg Papier rückt auch Tage nach dem Termin an der Kletterhalle ins Gedächtnis, was der DAV ist. Ein professionell gemanagter Verein mit einem ebensolchen, sehr breit gefächerten Angebot. Ein Angebot an Jugendliche wie Senioren, an den Hallenkletterer wie den Extrem-Alpinisten, an den Skitourengeher, den Skibergsteiger, den Snowboarder, den Schneeschuhwanderer, den Mountainbiker, und, und, und.
Riesig ist das Angebot für Familien mit Kindern. Und das mit gutem Grund, betonen der Vorsitzende der Sektion Würzburg und sein Stellvertreter. Schließlich sei nicht zuletzt der Wunsch nach dem Bau der Kletterhalle von Eltern gekommen, die eine sinnvolle und obendrein gesunde Freizeitbeschäftigung für ihre Kinder wünschen.
„Für jeden ist etwas dabei! Auch für Sie!“ So wirbt die Sektion Würzburg, so werben die anderen 353 Sektionen des DAV. Wohin will die Spitze des DAV? „Das exorbitante Wachstum der letzten Jahre wollen wir nicht weiterführen“, sagt Klaus Nees-Brand. Wir wollen Stabilisierung. Aber ganz offen, die 10 000 (Mitglieder bei der Sektion Würzburg) wären schön.“
Bergsport ist „in“, noch nie reichte die Begeisterung in so unterschiedliche Gesellschaftsschichten und Altersgruppen hinein, so sieht es die Broschüre „wir“, in der der Alpenverein seine Aufgaben und Ziele beschreibt. Dass der Verein „alles für eine lebendige Bergwelt“ zu tun gedenkt, kann durchaus in einem doppelten Sinn verstanden werden. Der Tourismus bringt „Leben“ in die Berge, viele Menschen und viel Geld.
„Viele Dörfer leben davon“, betont Klaus Nees-Brand. Und wenn der Alpenverein diesen Tourismus in sinnvolle Bahnen lenke, kanalisiere sozusagen, dann sei das besser, „als wenn jeder für sich allein auf den Spuren von Reinhold Messner die Mongolei erobert“.
Völlig unumstritten ist das nicht, zuletzt gab es anlässlich der (gescheiterten) Olympia-Bewerbung von Garmisch-Partenkirchen Forderungen nach einer Abkehr von einem Kurs, der die Schönheit der Berge preist, aber die negativen Folgen des Massentourismus ausblendet. Was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass es bereits Anfang der 20er Jahre im Alpenverein eine Bewegung gegen die „Vermassung des Bergsports“ gab und regelmäßige Entschließungen gegen die Errichtung von Bergbahnen und den Bau neuer Straßen. Obwohl der Bergtourismus damals nicht annähernd die heutigen Dimensionen hatte. Beim Alpenverein allerdings war die Zahl der Mitglieder von 73 000 im Jahr 1918 auf 220 000 nur vier Jahre später emporgeschnellt.
Damals, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, war das Spektrum der im DAV zusammengeschlossenen Bergfreunde recht breit. Dass sich das bald ändern sollte, zeigt die Ausstellung „Berg Heil! Alpenverein und Bergsteigen 1918 bis 1945“, die noch bis 21. Oktober im Alpinen Museum in München zu sehen ist.
Der Deutsche und der Österreichische Alpenverein waren damals ein länderübergreifender Verein. Von Österreich ausgehend erfasste eine starke antisemitische Strömung bald auch den deutschen Teil. Schon in den 20er Jahren wurden vielerorts jüdische Mitglieder ausgeschlossen, der Alpenverein nahm da eine ungute Vorreiterrolle ein.
Gefahr, Tod, Entbehrung – zur heroisch-nationalistischen Weltsicht gehörte auch das spartanische Leben auf den Berghütten. Dem bequemen Leben wurde die „Stählung des Körpers und die Erhebung des Geistes“ entgegengesetzt. Diese Haltung wurde unter anderem aus der Philosophie von Friedrich Nietzsche abgeleitet, die Nationalsozialisten nutzten das für sich. Bergsteigerheldentum und politische Propaganda gingen gemeinsame Wege, später erklärte die Führung des DAV die Heranbildung der Jugend für den Gebirgskrieg zur Hauptaufgabe.
Die Glorifizierung des Heroischen im DAV überdauerte den Krieg und auch den Alpenvereinstag am 22. Oktober 1950 in den Huttensälen in Würzburg. Erst eine junge Bergsteigergeneration, unter ihnen Reinhard Karl und Reinhold Messner, räumte damit auf, erläuterte Friederike Kaiser, Geschäftsbereichsleiterin Kultur beim DAV und Kuratorin der Ausstellung „Berg Heil“, in einem Zeitungsinterview.
Manche Bergsteigertradition aus jener unseligen Zeit lebt sicher unreflektiert weiter, auch das sagt Friederike Kaiser. Im Mittelpunkt stünden heute allerdings das persönliche Erleben und die persönliche Leistung. Dass dieses Leistungsdenken gelegentlich immer noch in Richtung Heldentum tendiert, kritisiert ein DAV-Mitglied aus der Region Würzburg, das regelmäßig bei ausgedehnten Touren in den Alpen mitsteigt. „Alles Egomanen“, schimpft der Mann und meint jene, die ihre Gesundheit und die von Bergkameraden riskieren, um das Ziel zu erreichen, „koste es, was es wolle“.
Wie schreibt das doch das DAV-Heft „wir“ über „Das Prinzip Leistung“: Das Ausloten von Grenzen gehört schon immer zum Bergsport dazu.