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WÜRZBURG
Premiere an der Kletterwand
Anja Rachinger bei der Kletter-Premiere.
Foto: Patty Varasano | Anja Rachinger bei der Kletter-Premiere.
Susanne Schmitt
 |  aktualisiert: 27.04.2023 02:37 Uhr

Ein kräftiger Ruck, dann ist der Knoten zu. Das Seil spannt sich. Anja Rachinger schluckt, nickt. Mit der linken Hand packt sie den ersten Griff, die Finger schließen sich um den beigen Knubbel. Der rechte Fuß findet Halt auf einem länglichen Tritt. „Los geht‘s“, sagt die 31-Jährige und zieht sich an die Kletterwand. Das Herz klopft. Stück für Stück schiebt sie sich nach oben, der Wind bläht das weiße T-Shirt, die Sonne wärmt den Rücken. Nach vier, fünf Metern hält Rachinger Inne, ruht aus und schaut nach unten. „Mei, ist das hoch!“ Schnell richtet die junge Versbacherin den Blick wieder nach oben. Sie klettert zum ersten Mal. Geträumt hat sie davon schon lange.

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„Ich bin ein Mensch, der gerne draußen ist“, sagt die 31-Jährige. Sie wandert, „am besten über Stock und Stein oder durch eine Klamm“, liebt die Natur. Zahlreiche Filme hat sie über Felskletterer gesehen, über anspruchsvolle Touren in den großen Wänden der Alpen. Da habe ich riesigen Respekt davor, sagt Rachinger. Gleichzeitig weckten die Bilder Neugier und ein bisschen Abenteuerlust. Bouldern, also klettern ohne Seil und Gurt in Absprunghöhe, hat die ausgebildete Zahnarzthelferin bereits ausprobiert. Sie ist sportlich, joggt, fährt Rad, läuft Halbmarathon. Geklettert ist sie bis zu diesem Nachmittag noch nie.

Die Puste ist da, die Kraft fehlt.

Ihre erste Route im Würzburger Kletterzentrum ist mit dem relativ einfachen Schwierigkeitsgrad 5+/6- (UIAA) bewertet. Die Griffe erinnern überwiegend an Henkel, lassen sich gut festhalten. Allerdings neigt sich die Wand leicht nach außen, was mehr Leistung fordert. „Die Puste ist da, aber die Kraft in den Unterarmen fehlt“, sagt Rachinger. Um die 14 Meter sind die Wände im Außenbereich der Anlage hoch, nach einer Erweiterung gibt es nun mehrere Hundert Quadratmeter Kletterfläche unter freiem Himmel.

Rachinger klettert noch im alten Wandbereich. Die Spitzen der engen Schuhe drückt sie fest auf die Tritte, mit den Händen prüft sie einen kleinen Griff, entscheidet sich kurz vor dem Ziel für einen anderen, größeren Halt. Noch drei, zwei Meter trennen sie vom Ende. „In der Route ist man völlig auf das Klettern konzentriert“, sagt die 31-Jährige. Die Umgebung wird ausgeblendet, es geht nur um die Frage „wo soll ich hin fassen?“.

Rachinger streckt sich, erwischt mit dem rechten Arm den beigen Henkel. „Juhu! Wahnsinn!“ Strahlend blickt die junge Frau nach unten – und zuckt zurück.

„Ich habe keine Höhenangst, aber 14 Meter sind nicht alltäglich“, sagt Rachinger. Ein bisschen weich werden die Knie oben doch. Dafür reicht die Sicht weit über die Dächer der Zellerau und Innenstadt bis zur Festung Marienberg. Rachinger reckt die Faust in die Höhe. „Wenn man zum ersten Mal klettert, dann will man es auch bis ganz oben schaffen. Das ist schon ein Erfolgserlebnis.“

Genau das sei einer der Gründe, der das Hallenklettern zur Trendsportart gemacht hat, sagt Thomas Bucher, Sprecher des Deutschen Alpenvereins (DAV). Mit wenig Vorkenntnissen – etwa im Vergleich zum Klettern draußen – könnten in der Halle schnell Erfolge gefeiert werden, der Zeitaufwand sei gering und die Bewegung in der Vertikalen mache gerade jungen Menschen Spaß. Der Boom kam so nicht überraschend. Rund 400 Kletterhallen gibt es laut DAV mittlerweile in Deutschland, der Alpenverein zählt bundesweit 1,1 Millionen Mitglieder. In der Sektion Würzburg sind es nach eigenen Angaben in diesem Jahr erstmals mehr als 10 000. Die vom Verein getragene Halle in der Weißenburgstraße wurde 2009 eröffnet.

Wenn man ins Seil eingebunden wird, schlägt das Herz plötzlich schneller.

Drinnen legt Anja Rachinger unwillkürlich den Kopf in den Nacken. Die Kletterwände mit den bunten Kunstgriffen säumen drei Seiten der Halle. Zwei Pfeiler tragen zudem ein ausladendes Dach, eine stark geneigte Fläche, an der sich die Sportler teilweise fast senkrecht entlanghangeln müssen. Man fühlt sich wie in einer überdimensionierten Höhle mit Gummiboden. „Für jemanden der das noch nie gesehen hat, ist das schon atemberaubend“, sagt die 31-Jährige. Angst hat sie trotzdem keine. „Erst wenn man ins Seil eingebunden wird schlägt das Herz plötzlich schneller und die Wand sieht doch hoch aus.“ Respekt, sagt Rachinger, hat sie schon. Und irgendwann tauche er natürlich auch auf, der Gedanke, hoffentlich stürze ich nicht ab.

Tatsächlich kommen nach DAV-Angaben Unfälle in Kletterhallen gemessen an der Zahl der Sportler eher selten vor: So wurden im vergangenen Jahr insgesamt 203 gemeldet, seit 2000 gab es in Hallen in Deutschland acht tödliche Unglücke. Grund dafür waren nicht fehlendes Klettergeschick oder Können, sondern immer sogenannte Einbindefehler, bei denen die Sportler ihren Gurt falsch mit dem Sicherungsseil verbunden haben.

Mehr Adrenalin als beim Laufen.

Plakate fordern deshalb in Würzburg zum Partnercheck auf. Auch Anja Rachinger kontrolliert vor ihrer nächsten Route den Knoten an ihrem Gurt und das Sicherungsgerät ihres Partners. Alles fest, die braunen Augen blitzen. „Es macht einfach Mega-Spaß“, lacht die Versbacherin und schnappt sich den schwarzen Startgriff. Die Route führt eine leicht geneigte Wand hinauf, die ersten Meter klettert Rachinger zügig. Dann werden die Tritte zögerlicher.

Die linke Hand sucht vergeblich nach einem passenden Halt. „Zu“, ruft die 31-Jährige. Es ist das Signal für den Sicherer, das Seil festzustellen und dem Kletterer damit eine feste Position zum Ausruhen zu schaffen. Rachinger streicht sich über die Unterarme, schüttelt den Kopf. Die Kraft ist erschöpft.

„Klettern ist anders als zum Beispiel beim Laufen“, sagt die junge Frau. „Da ist viel mehr Adrenalin dabei.“ Und das Loslassen am Ende der Route, um am Seil nach unten zu schweben, das ist nicht leicht. Solange man sich selbst festhält, glaubt man, die Kontrolle zu haben, sagt Rachinger. Sie atmet tief durch. Dann löst sie zögerlich die Finger vom Griff und schwebt zurück zum Hallenboden. Geschafft. Stolz und Erleichterung mischen sich. Rachinger klatscht ihren Kletterpartner ab. „Ich kann schon verstehen, dass das süchtig macht.“

 
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