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Schweinfurt
Urteil im Prozess um Säuglingstötung im Ankerzentrum: Landgericht Schweinfurt verurteilt Mutter wegen Totschlags
Gegen die Verurteilung wegen Mordes im März 2023 hatte die Verteidigung Revision eingelegt. Warum das Landgericht Schweinfurt jetzt auf Totschlag entschied.
Im August 2022 soll eine 28-jährige Somalierin im Ankerzentrum in Geldersheim ihre Tochter mit mehreren Messerstichen getötet haben. Das Landgericht Schweinfurt verurteilte die Angeklagte nun wegen Totschlags (Symbolbild).
Foto: René Ruprecht | Im August 2022 soll eine 28-jährige Somalierin im Ankerzentrum in Geldersheim ihre Tochter mit mehreren Messerstichen getötet haben.
Désirée Schneider
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:12 Uhr

Eineinhalb Stunden – so viel Zeit liegt zwischen dem Zeitpunkt im August 2022, in dem der Ehemann der Angeklagten sie und den Säugling in ihrem gemeinsamen Zimmer der Ankereinrichtung in Geldersheim zurückließ, trotz ihres Flehens, dies nicht zu tun – und dem Moment, kurz bevor sie mit dem blutüberströmten Kind in den Armen auf den Flur rannte. Das belegen Kameraaufzeichnungen aus dem Gebäude.

Eineinhalb Stunden, deren genauer Ablauf auch am Ende der zweiten Hauptverhandlung vor der Vierten Großen Strafkammer des Landgerichts Schweinfurter weitgehend ungeklärt bleibt. "Wir wissen nichts, rein gar nichts, über das, was in diesen eineinhalb Stunden geschehen ist. Wie die Angeklagte die Zeit erlebt hat und warum sie schließlich den Entschluss fasste, ihre Tochter zu töten", so der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung.

Unstrittig sei lediglich, wie sich die Tat ereignet habe: Die Angeklagte soll ihre Tochter mit mehreren Messerstichen in Bauch- und Halsbereich so schwer verletzt haben, dass diese später im Krankenhaus verstarb. Das legen sowohl ein Gutachten als auch die Aussage der Angeklagten selbst nahe. Über die Tatmotivation könnten jedoch weiterhin nur Vermutungen angestellt werden, so der Vorsitzende Richter.

Gefühl der Ausweglosigkeit und Verzweiflung am Tatabend

So müsse hier nach Ansicht des Gerichts wohl auch die schwere Kindheit der Angeklagten in Somalia berücksichtigen werden, wo sie nach eigener Aussage missbraucht und aufgrund ihrer psychischen Erkrankung misshandelt worden sei. "Die Angeklagte ist in einer Hölle aufgewachsen", so der Vorsitzende Richter.

Und auch nach ihrer Flucht habe sich die Situation der 28-Jährigen zumindest in ihrer eigenen "subjektiv so erlebten Realität" nicht nennenswert verbessert. Hier glaube die Kammer den Ausführungen der Angeklagten, sie habe sich isoliert gefühlt, alleingelassen und von ihrem Umfeld schikaniert. Womöglich sei sie auch mit dem Kind überfordert gewesen. So auch im August 2022: "Am Tatabend hätte sie Trost und Zuspruch gebraucht", so der Vorsitzende Richter, "aber ihr Ehemann hatte offenbar Besseres zu tun".

Auch wenn die bei der Angeklagten diagnostizierte emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Typ Borderline nach gutachterlicher Einschätzung keinen Einfluss auf ihre Schuldfähigkeit habe, sei doch zumindest anzunehmen, dass die Erkrankung das Gefühl der Ausweglosigkeit und Verzweiflung noch einmal verstärkt habe, so das Gericht.

Statt lebenslanger Haftstrafe jetzt sechs Jahre für die Angeklagte

In ihrem Plädoyer schloss sich die Staatsanwaltschaft der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) an und forderte eine Verurteilung wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren. Die Verteidigung plädierte auf eine vierjährige Haftstrafe wegen Totschlags in minderschwerem Fall.

Letztlich schloss sich auch die Kammer der Entscheidung des BGH an und verurteilte die Angeklagte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Anders als in der ersten Hauptverhandlung im März 2023, als eine andere Kammer die 28-Jährige wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt hatte, sehe das Gericht das Mordmerkmal der Heimtücke als nicht erfüllt kann. Der Vater des Säuglings sei zum Tatzeitpunkt zu weit entfernt gewesen, als dass er als sogenannter "schutzbereiter Dritter" fungieren und die Tat hätte verhindern können, so der Vorsitzende Richter.

Da die Tatmotivation nicht abschließend habe geklärt werden können, habe sich laut Gericht weder eine feindselige Motivation der Angeklagten gegenüber dem Kind nachweisen lassen, was für das Mordmerkmal Heimtücke ausschlaggebend gewesen wäre, noch ein Anlass zu einer Verurteilung wegen Totschlags in minder schwerem Fall finden lassen.

Zu Gunsten der Angeklagten wertete das Gericht ihr weitreichendes Geständnis sowie ihre prekären Lebensumstände und die Tatsache, dass sie nicht vorbestraft ist. Zu ihren Ungunsten sprachen laut Gericht die Verletzung der Fürsorgepflicht und Garantenstellung als Mutter angesichts der besonderen Wehrlosigkeit des Säuglings. Gegen das Urteil ist Revision möglich.

 
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