Die Menschen sind verzweifelt. Manche weinen am Telefon. Andere schimpfen. Die wenigsten reagieren verständnisvoll. Schlimme Szenen spielen sich mitunter im Gesundheitszentrum Grafenrheinfeld ab.
"Täglich schicken wir Menschen ohne Versorgung, selbst ohne jegliche Aussicht auf Therapie, wieder nach Hause", sagt Daniela Verne, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Oliver und Simone Wolfschmidt seit 19 Jahren die Praxis für Physiotherapie, Ergotherapie, Osteopathie und Prävention betreibt. 30 Fachkräfte sind dort beschäftigt. Zu wenige, um die vielen chronisch kranken oder frisch operierten Menschen zu versorgen.
"Wir haben lange Wartezeiten von sechs bis neun Wochen." Für die Akutpatienten ein Drama, wenn sie nach frischen Operationen keine Therapie bekommen. Neue Patienten können kaum noch aufgenommen werden. Hausbesuche gibt es schon lange nicht mehr. Und die Wellness-Massagen wurden teurer gemacht, um Freiraum für die Kranken zu schaffen.
"Der Therapeutenmangel ist alarmierend." Deshalb geht Daniela Verne jetzt an die Öffentlichkeit. Denn: "Wir sind erst am Anfang, wir starten erst rein in die schwierige Zeit." Der demografische Wandel soll der Gesundheitsbranche zwar eine goldene Zukunft bescheren, weil mehr Ältere auch einen höheren Bedarf haben. Aber schon jetzt kann der Therapeutennachwuchs den Bedarf nicht decken. Offene Stellen bleiben unbesetzt. In der Branche wird knallhart abgeworben. "Das gab es früher nie."
Therapeuten unter Zeitdruck
Peter ist unter Zeitdruck. Drei Patienten behandelt er in der Stunde. Für jeden hat er gerade mal 20 Minuten Zeit. Die Uhr läuft auch auf den Weg hin und zurück ins Behandlungszimmer. Was zu besprechen ist, wird deshalb während der Therapie besprochen. Die enge Taktung gibt die Vergütung durch die Krankenkassen vor.
Der Zeitdruck macht vielen Therapeutinnen und Therapeuten zu schaffen. Manche steigen deswegen aus, suchen sich einen weniger stressigen Job. Daniela Verne weiß von Auszubildenden, die gleich nach der Schule hinschmeißen.
Apropos Schule: Früher musste man die schulische Ausbildung selbst zahlen, was den Nachwuchsmangel zusätzlich befördert hat. Daniela Verne hatte deshalb schon 2018 in einer Petition an den Bayerischen Landtag Schulmittelfreiheit gefordert. Das Schulgeld ist inzwischen abgeschafft, mehr Therapeutennachwuchs gibt es trotzdem nicht.
"Die Klassen sind zwar etwas voller geworden, aber viele springen auch wieder ab", weiß die Therapeutin, die selbst ausbildet. Als sie 1996 ihre Ausbildung zur Ergotherapeutin machte, habe es 500 Bewerbungen auf 30 Ausbildungsplätze gegeben. Heute sei es fast umgekehrt. Sie selbst sucht vier Vollzeitkräfte, "wir würden auch fünf einstellen". Doch mangels Bewerbern bleiben die Stellen offen, mit Konsequenzen für die Patientenversorgung.
Schlechte Bezahlung und teure Fortbildungen
Warum ist der Beruf so uninteressant für junge Menschen? Daniela Verne nennt zuerst einmal die "schlechte Bezahlung". Berufseinsteiger verdienen durchschnittlich 2700 bis 2900 Euro. Ihrer Meinung nach viel zu wenig. Die Arbeit sei 4500 bis 5000 Euro wert. Um solche Gehälter finanzieren zu können, müsse die Therapie von den Kassen besser bezahlt werden.
Ein zweiter Punkt: die Fortbildungen. Obwohl die Auszubildenden drei Jahre lang die Schulbank drücken, erwerben sie den Großteil ihres Könnens erst nach ihrer Berufsausbildung. Sie müssen Zusatzscheine machen. Zum Beispiel für Lymphdrainage oder manuelle Therapie, beides unverzichtbare Fertigkeiten für alle, die einen Job wollen. "Die Fortbildungen sind horrend teuer", sagt Daniela Verna. Auch Urlaub und Wochenenden müssen dafür geopfert werden. Das schrecke ab.
Dritter Punkt: die Arbeitszeit. "Wir behandeln auch abends, wenn andere Feierabend haben", so Daniela Verne. Beruf und Familie zu vereinbaren, erfordere deshalb größere Anstrengungen.
Vierter Punkt: das Arbeiten von Mensch zu Mensch. "Darauf muss man sich einlassen können." Daniela Verne stellt aber fest, dass dieses Berufsbild immer weniger gefragt sei. Das treffe alle sozialen Berufe gleichermaßen.
Mit Ärzten auf Augenhöhe am Patienten arbeiten
Doch was kann man tun, um den Beruf wieder attraktiv zu machen? "Die Aufwertung der Physiotherapie insgesamt", fordert Daniela Verne. Dazu gehört für sie ein Direktzugang der Praxen zu den Patientinnen und Patienten, ohne vorherige ärztliche Verschreibung. "Das würde den Beruf enorm aufwerten." Aber auch den ärztlichen Alleinanspruch auf Diagnose aushebeln. Ein Lobbykonflikt wäre vorprogrammiert.
Verne hält dies trotzdem für den richtigen Schritt. Denn Therapeuten könnten mit mehr Eigenverantwortung auch viel flexibler agieren, sowohl bei der Behandlungsdauer als auch bei der Taktung der Termine. Sie würde sich wünschen, dass Therapeuten mit Ärzten auf Augenhöhe am Patienten arbeiten. Das würde ihrer Meinung nach mehr Zufriedenheit auf allen Seiten schaffen.
Kurzfristig ist der Fachkräftemangel damit aber auch nicht zu lösen. Das weiß Daniela Verne. Und hier sieht sie nur eine Lösung: "Wir brauchen dringend eine Triage." Die Fachverbände sollten die Dringlichkeit und Reihenfolge der Behandlung von Patientinnen und Patienten festlegen, fordert sie. Das würde den Praxen die Entscheidung erleichtern, wer bei begrenzten Ressourcen behandelt wird und wer nicht.
Die Therapeutin appelliert aber auch an die Patientinnen und Patienten, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, selbst aktiv zu werden, bereit zu sein, sich anzustrengen. "Machen, nicht machen lassen. Dieses Zeitalter beginnt jetzt."