
Ist es das richtige Haus? Am Freitag, 3. November, will die Stadt zum Gedenken an die jüdische Familie Tittel Stolpersteine vor dem Anwesen "Zur Wasserleitung 9" verlegen. Nachfahren aus Amerika hatten das angeregt. Doch wohnte in dem Haus wirklich die von den Nazis verfolgte und vertriebene jüdische Familie?
Matthias Adams, der in Berlin lebende Sohn des Hauseigentümers, zweifelt das an. In einer E-Mail an Bürgermeisterin Sorya Lippert, die im Auftrag des OB die Stolpersteinverlegung organisiert hat, drückt er sein "Erstaunen" darüber aus und schreibt, "dass es sich bei unserem Haus 'Zur Wasserleitung 9' nicht um das Haus handelt, in welchem Familie Tittel in den 1930er-Jahren wohnte". Hat die Stadt nicht sorgfältig recherchiert? Adams lässt dies in seiner E-Mail anklingen, die in Kopie an einen großen Verteiler in Schweinfurt ging und für mächtig Aufregung sorgte.
"Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht", weist Dr. Gregor Metzig, der Leiter des Schweinfurter Stadtarchivs, den Vorwurf von Matthias Adams entschieden zurück. Es gebe mehrere amtliche Nachweise, dass die jüdische Familie Tittel bis 1941 in dem Haus "Zur Wasserleitung 9" gelebt habe. "Daran besteht kein Zweifel."
In den 1950er-Jahren erfolgte eine Umbenennung der Straße
Wie kommt es zu der Verwirrung? Anfang Mai hatten sich die Brüder Alex und Mark Tittel aus dem texanischen Houston mit der Bitte an die Stadt Schweinfurt gewandt, ein Gedenken an die durch die NS-Verfolgung verstorbenen oder gelittenen Angehörigen zu erwägen. Es sollen auf ihre Kosten Stolpersteine für ihren Vater Klaus Frank, dessen Bruder Rolf Jürgen und deren Mutter Hildegard (Hilde) Tittel (geb. Jaffé) verlegt werden. Und zwar vor dem Anwesen in Schweinfurt, wo die Familie bis Oktober 1941 gewohnt hatte. Als Adresse nannten sie Teilberg 6 ½.
Diese Anschrift gibt es heute nicht mehr. Stadtarchivleiter Metzig und sein Stellvertreter Bernhard Strobel haben gemeinsam mit Lokalhistorikerin Elisabeth Böhrer in akribischer Recherche herausgefunden, dass Anfang der 1950er-Jahre eine Umbenennung der Örtlichkeit erfolgt ist, und zwar von "Teilberg 6 ½" in "Zur Wasserleitung 9".

"Dafür gibt es mehrere amtliche Nachweise", sagt Metzig. Unter anderem ein Baugesuch für eine Einfriedung und ein Wertschätzungsgutachten vom 18. Mai 1953, auf dem die frühere Bezeichnung "Teilberg 6 ½" durchgestrichen und durch den Namen "Zur Wasserleitung 9" ersetzt wurde. Als weiteren Beweis legt Stadtarchivar Metzig einen Tekturplan für einen Balkonanbau in den 1950er-Jahren vor. Da hieß die Adresse schon "Zur Wasserleitung 9".
Unterlagen sind öffentlich im Stadtarchiv einsehbar
Matthias Adams jedoch behauptet, dass das Haus seiner Eltern in den 1930er-Jahren gar nicht die Anschrift "Teilberg 6 ½", sondern "Am Sand 7" trug. Damals habe hier auch nicht die Familie Tittel, sondern Diplom-Ingenieur Friedrich Petersen mit seiner Familie gewohnt. Das wisse er aus Kindheitserzählung von dessen Tochter Ursula, die er persönlich kannte.
Tatsächlich hieß das Flurstück früher "Am Sand" bzw. "Im Sand", bestätigt der Leiter des Stadtarchivs. Auf dem Bauplan des 1913 erbauten Hauses steht das auch so, weil es noch keinen Straßennamen dort gab. Ein späteres Baugesuch zur Errichtung einer Einfriedung trägt dann aber die Anschrift Teilberg 6 1/2. "Die Unterlagen sind alle öffentlich einsehbar", sagt Metzig, der Interessierten gerne Einblick gibt.

Er kann auch belegen, dass genau in diesem Haus die jüdische Familie Tittel gelebt hat. Denn das Stadtarchiv bewahrt eine Häuserkartei auf, die bis ins Jahr 1987 geführt wurde. Auf den Karteikarten befinden sich Angaben zum Eigentümer jedes Gebäudes und zu den Mietern. Auch Ein- und Auszugsdatum sind vermerkt. Familienforscher können hier sogar Angaben zu den Geburts- und Sterbedaten der Bewohner, ihren Familienstand oder auch Religionszugehörigkeit erfahren.
Der Name Tittel taucht in der Häuserkartei am 17. April 1935 auf. An diesem Datum ist der Schweinfurter Dr. Heinrich Tittel in das Haus "Teilberg 6 1/2" eingezogen. Er war Chemiker und Betriebsleiter bei den Deutschen Gelatine-Fabriken in Schweinfurt. Auch Ehefrau Hildegard wird genannt. Sie stammte aus der prominenten jüdischen Familie Jaffé in Berlin.
Die beiden Söhne des Ehepaares, Klaus Frank und Rolf Jürgen Tittel, sind ebenfalls in der Häuserkartei aufgelistet – und sogar Alice Jaffé, die Mutter von Hilde, die nur einige Tage bei ihrer Tochter und deren Familie in Schweinfurt gelebt hat. Sie wurde am 17. Juli 1942 von München nach Theresienstadt deportiert und zwei Jahre später in der Gaskammer in Auschwitz ermordet. Für sie liegt bereits seit November 2005 ein Stolperstein in Dachau.

Tragisches letztes Jahr im Haus "Teilberg 6 1/2"
Die Familie Tittel lebte bis 1941 am "Teilberg 6 1/2", dem heutigen "Zur Wasserleitung 9". Es war ein tragisches letztes Jahr in diesem Haus, wie in dem Brief der Nachfahren aus Amerika an die Stadt zu lesen ist. Zuerst kam Vater Heinrich in einer Lawine in Österreich ums Leben. Drei Monate später starb der dreijährige Sohn Rolf an einer Mittelohrentzündung, weil ihm das Schweinfurter Krankenhaus wegen seiner jüdischen Herkunft eine Behandlung verweigerte. Die Verfolgung durch die Nazis trieb schließlich auch noch Mutter Hilde in den Tod. Sie nahm sich am 3. Oktober 1941 das Leben in der Küche dieses Hauses.
Übrig blieb nur der siebenjährige Klaus Frank, der heute mit 89 Jahren in Houston lebt. Auf seiner Karteikarte ist vermerkt, dass er am 7. Oktober 1941 aus dem Haus "Teilberg 6 1/2" auszog. Verwandte kümmerten sich danach um den Waisenjungen.
Auch die von Matthias Adams angeführte Familie Petersen ist unter der Adresse "Teilberg 6 ½" in der Häuserkartei zu finden. Sie lebte dort aber nicht wie vermutet in den 1930er-Jahren, sondern erst nach dem Krieg. Der Einzug des Ingenieurs Friedrich Petersen mit Ehefrau Magda und Tochter Ursula ist auf den 9. Juli 1947 datiert. Haus und Grundstück waren zu diesem Zeitpunkt bereits an einen Wilhelm Bach verkauft worden.

1961 wird dann die Firma SKF als Eigentümer in der Häuserkartei geführt. Da war auch schon die Straßenumbenennung erfolgt. Das Anwesen trägt nun die Bezeichnung "Zur Wasserleitung 9". Später verkaufte SKF dann das Haus an die Eltern von Matthias Adams, die heute noch dort leben.
"Wir können eindeutig belegen, dass die Adresse 'Zur Wasserleitung 9' früher die Anschrift 'Teilberg 6 ½' war und dass dort die jüdische Familie Tittel gewohnt hat", sagt Dr. Gregor Metzig. Es bestehe kein Zweifel, dass es sich um das korrekte Haus handelt. "Wir können die Stolpersteine guten Gewissens dort verlegen."
Hinweis: Am Freitag, 3. November, um 16 Uhr werden die Stolpersteine vor dem Anwesen "Zur Wasserleitung 9" zum Gedenken an Hildegard, Rolf Jürgen und Klaus Frank Tittel verlegt. Die Öffentlichkeit ist eingeladen, der Zeremonie beizuwohnen.