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Schweinfurt
Seltene Erkrankung: Wenn Sehen, Hören und Riechen nicht mehr selbstverständlich funktionieren
Am 29. Februar ist der Tag der seltenen Erkrankungen. Wie sich Kerstin Reichert aus Schweinfurt von einer besonders seltenen Erkrankung nicht unterkriegen lässt.
Die Schweinfurterin Kerstin Reichert leidet an dem extrem seltenen Refsum-Syndrom. 
Foto: Josef Lamber | Die Schweinfurterin Kerstin Reichert leidet an dem extrem seltenen Refsum-Syndrom. 
Folker Quack
 |  aktualisiert: 30.03.2024 02:42 Uhr

Kerstin Reichert (50) aus Schweinfurt leidet am Refsum-Syndrom, einer Stoffwechselstörung, die statistisch gesehen nur einmal unter einer Millionen Menschen vorkommt. Betroffene können keine Phytansäure verstoffwechseln, die dann die Nervenzellen zerstört. Zuerst die empfindlichen Seh- und Gehörnerven, schließlich verschwindet der Geruchsinn, aber auch Organe und Muskeln werden angegriffen, es kann zu Lähmungen kommen. 

Kerstin Reichert weiß, dass eine frühzeitige Diagnose viele ihrer Ausfallerscheinungen verhindert hätte. Sie selbst hatte schon im Jugendalter erste Symptome, diagnostiziert aber wurde sie erst im Alter von 49 Jahren. Das war 2022. 

Refsum-Patientin Kerstin Reichert hält seit der Diagnose eine strenge Diät ein

Seitdem hält sie eine Diät ein, die es in sich hat. Von heute auf morgen waren für Kerstin Reichert etliche ihrer Lieblingsspeisen tabu, weil sie Phytansäuse enthalten: fränkischer Sauerbraten genauso wie Rinderroulade oder der von ihr so geliebte Käse. In den meisten Restaurants finde sie höchstens noch ein Gericht, dass sie ohne Veränderungen bestellen könne.

Refsum-Patienten müssen auf viele Fisch- und Fleischprodukte verzichten, dazu auf alle Milchprodukte. Und auch bestimmte Gemüsesorten, Hülsenfrüchte und Öle können Phytansäure enthalten. "Dafür gibt es jetzt neue Highlights", sagt Kerstin Reichert und lacht. Jakobsmuscheln oder Hummer seien nicht verboten. Für sei aber viel wichtiger, dass Geflügel unbedenklich sei. Im Herbst gehöre die fränkische Ente mit Klößen und Blaukraut zu ihren neuen Leibspeisen.

Als Reichtert jünger war, erkannten Ärzte die ersten Refsum-Symtome nicht

Schon im Kleinkind-Alter fielen den Eltern von Kerstin Reichert bei ihrer Tochter deformierte Zehen auf. Doch die Ärzte waren sicher, dass sich das verwachse. Mit 21 fragte sie sich, warum sie in den dunklen Gängen der Diskos so oft ins Stolpern kam. Schließlich wurde eine "Retinis Pigmentose" diagnostiziert, ein erblich bedingter Tunnelblick. In der Uni-Augenklinik empfahl man ihr, Blindenschrift zu lernen, sie könne komplett erblinden.

Das ärgert Kerstin Reichert noch heute. Statt der Blindenschrift hätte man ihr einen Gentest empfehlen können. Der hätte das Refsum-Syndrom in einem relativ frühen Stadium bestätigt. 90 Prozent der Refsum-Patienten hätten einen Tunnelblick, der zu den frühen Symptomen der Erkrankung gehöre.

Für den  TV Schweinfurt-Oberndorf spielte Kerstin Reichert 2006 in der Korbball Bundesliga. 
Foto: Wetterich | Für den  TV Schweinfurt-Oberndorf spielte Kerstin Reichert 2006 in der Korbball Bundesliga. 

Mit Ende 20 hatte Reichert ihren ersten Tinnitus, den schob sie auf den Stress in der Arbeit. Die einsetzenden Hörprobleme schob sie auf den Tinnitus.

Zu dieser Zeit war sie sportlich sehr aktiv. Kerstin Reichert spielte den in Schweinfurt so beliebten Korbball - sogar auf Bundesliga-Niveau. Doch als sie mit einer von der Seite kommenden Mitspielerin zusammenrempelte, beschloss sie aufzuhören. Sie wollte wegen ihrer Sehstörungen keine Spielerin gefährden. Stattdessen begann sie - inzwischen Anfang 30 - mit Tennis. "Da kommen die Bälle immer von vorne."

Der lange Weg der Frau aus Schweinfurt zur Diagnose

Mit 42 Jahren der nächste Schock. Von einem Tag auf den anderen konnte sie nicht mehr laufen. "Als hätte ich in beiden Waden eine extreme Muskelzerrung", beschreibt Reichert heute die Symptome. 

Der Arzt schickte sie sofort in die Notaufnahme der Neurologie. Zu dem Zeitpunkt konnte sie nicht einmal mehr freihändig stehen. Schließlich wurde eine Paraparese diagnostiziert, eine weitgehende Lähmung beider Beine. Inzwischen hatte Kerstin Reichert auch ihren Geruchssinn verloren und brauchte ein Hörgerät.

"Mit 42 Jahren hatte ich die Symptome des Refsum-Syndroms fast komplett", sagt Kerstin Reichert, nur die Diagnose gab es immer noch nicht.

Einer Betriebsärztin fielen die vielen Symptome von Kerstin Reichert auf

Mit vielen Therapien kämpfte sich Kerstin Reichert zurück. Reichert arbeitete inzwischen bei der Betriebsräteakademie Bayern, einer Einrichtung der IG Metall. Trotz der nicht ganz überwundenen Paraparese stand sie einige Monate später beim Gewerkschaftstag am Infostand und ging daheim wieder mit dem Hund Gassi.

Sie hatte noch mehr Ziele, wollte unbedingt wieder joggen gehen, doch es fehlte die Kraft. Bei einer betrieblichen Vorsorgeuntersuchung fielen der Ärztin die vielen Diagnosen auf, bei denen noch nie nach einem Zusammenhang gesucht worden war. Das forderte Reichert nun bei ihren Ärzten ein. Schnell gab es einen Verdacht, dann einen Gentest.    

Als Kerstin Reichert ihre Diagnose bekam, sagte sie zu ihrer Ärztin: "Ich habe schon mein ganzes Leben gesagt, dass ich was Besonderes bin." Die Diagnose habe sie nicht geschockt, sondern erleichtert. Endlich wisse sie, was sie gegen die fortschreitenden Symptome tun könne.

Reichert engagiert sich in der Selbsthilfe für Refsum-Betroffene

Nach wie vor arbeitet Reichert in Vollzeit, geht regelmäßig zur Physiotherapie und plant mit ihrer Ergotherapeutin, im Sommer an einem Sechs-Kilometer-Lauf in Frankfurt teilzunehmen. Zudem unterzieht sie sich einmal in der Woche einer knapp dreistündigen Blutwäsche. Dabei würden die mit Phytansäure belasteten Fette aus ihrem Blut gefiltert. Damit und mit ihrer Diät hat sie ihren Phythansäure-Spiegel um über zwei Drittel gesenkt. Er liege aber immer noch zehnmal höher als bei einem gesunden Menschen.

Im November 2023 gründete Kerstin Reichert den Verein "Refsum Deutschland e.V.". Sie wurde auch Länderbotschafter und Vorstandsmitglied der internationalen "Global Dare Foundation", die die Refsum-Diät weiterentwickelt. Diese Arbeit will sie mit Spendengeldern auch finanziell unterstützen.

An den Nagel gehängt habe sie hingegen ihr kommunalpolitisches Engagement. Jetzt engagiere sie sich lieber in der Selbsthilfe. Mittlerweile steht sie mit 14 anderen Patientinnen und Patienten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in regem Austausch.

Tag der seltenen Erkrankungen

Weil es ein seltenes Datum ist, wurde 2007 weltweit der 29. Februar zum Tag der seltenen Erkrankungen ausgerufen. Ist kein Schaltjahr, findet er am 28. Februar statt. Eine Krankheit gilt als selten, wenn weniger als fünf pro 10.000 Einwohner betroffen sind. Es gibt zirka 8000 seltene Erkrankungen, in Deutschland sind zirka vier Millionen Menschen betroffen. In Unterfranken sind rund 65.000 Menschen betroffen, das sind 10.000 mehr, als die Stadt Schweinfurt Einwohner hat. An der Uniklinik Würzburg wird in diesem Jahr am Tag der seltenen Erkrankungen das zehnjährige Bestehen des Zentrums für Seltene Erkrankungen Nordbayern begangen. 
Wer eine Selbsthilfegruppe sucht, eine gründen möchte, oder Unterstützung für seine Selbsthilfearbeit braucht, kann sich in Bayern an die Selbsthilfekoordination (SeKo Bayern) wenden, die ihren Sitz in Würzburg hat. In Würzburg gibt es zudem einen Arbeitskreis Seltene Erkrankungen (WAKSE), der über das Aktivbüro der Stadt kontaktiert werden kann. 
Wer den Verein "Refsum Deutschland e.V." unterstützen möchte oder Informationen benötigt, kann sich an kontakt@refsum.de wenden oder unter paypal@refsum.de für die Ziele des Vereins spenden.
Quelle: fqu
 
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