Einmal im Jahr rücken sie für einen Tag in den Fokus der Öffentlichkeit. Am „Tag der seltenen Erkrankungen“ erinnern Medien an die vier Millionen Menschen, die in Deutschland unter einer seltenen Krankheit leiden. Danach sind sie wieder allein mit ihrem Schicksal.
Allein zwischen Hoffen und Bangen. Denn seltene Krankheiten sind nicht selten schwer oder gar nicht behandelbar, lebensverkürzend und mit großen Einschränkungen an Lebensqualität verbunden. Gibt es neue Therapien? Wie erfahre ich rechtzeitig davon? Macht die Forschung Fortschritte? Forscht überhaupt jemand?
Allein sind die vier Millionen Betroffenen und ihr Umfeld nicht nur mit ihrem Kampf gegen das Leid, sondern auch mit vielfältigen Diskriminierungen. Krankenkassen lehnen aus Unkenntnis berechtigte Therapien oder Hilfsmittel erst einmal ab. Behörden weisen Hilfsanfragen ab, weil sie die Krankheit nicht kennen. Ärzte nehmen aus Unkenntnis Patienten nicht ernst.
Wenn der Patient selbst der beste Experte ist
Wer eine seltene Krankheit hat, muss vor allem lernen, die Krankheit immer und immer wieder zu erklären, er muss selbst der beste Experte seines Leidens werden. Aber muss das so sein? Müssen Kassen und Behörden, Ärzte und Forscher Patienten mit seltenen Erkrankungen diskriminieren, um der Menge der anderen Kranken besser gerecht zu werden?
„Manchmal können wir Entscheidungen nicht anders fällen, um die Solidargemeinschaft aller Versicherten nicht zu überlasten.“ Diesen Satz können Betroffene und deren Familien oft nicht mehr hören. Denn er steht so oder so ähnlich unter jedem ablehnenden Bescheid. Übersetzt heißt er nicht anderes als: „Du bist uns hier zu teuer, deine Krankheit ist zu selten. Dir zu helfen, übersteigt die Solidarität unserer Gesellschaft.“
Die Erziehungswissenschaftlerin Carolin Tillmann von der Universität Marburg untersucht seit Jahren soziale und gesellschaftliche Risiken und Nebenwirkungen chronischer Krankheiten. Sie kommt zu erschütternden Ergebnissen. 81 Prozent der Menschen, die an einer seltenen Krankheit leiden, haben mehrfach Diskriminierung und Stigmatisierung erfahren müssen. Sie beginnt, wenn man einen Facharzt aufsuchen muss, der den Patienten und die Krankheit noch nicht kennt, geht über alltägliche Erlebnisse im Freundeskreis, mit Ämtern und Behörden und endet beim zum Scheitern verurteilten Versuch, sich privat besser abzusichern.
Krankheit bleibt mit einem Stigma behaftet
Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern ist eine chronische Krankheit in Deutschland kein Diskriminierungsmerkmal. Wer aufgrund einer chronischen Erkrankung von einer Versicherung, einem Sozialleistungsträger oder sonst diskriminiert wird, kann sich nicht auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz berufen. Selbst wer an einer der sogenannten Volkskrankheiten wie Krebs leidet, ist vor Diskriminierung etwa beim Abschluss einer privaten Versicherung nicht geschützt.
Kranksein wird immer wieder in Verbindung mit Verantwortung im Sinne von Schuld und mit Verhaltenspflichten in Verbindung gebracht. Auch eine Folge der Flut an Aufklärungskampagnen. Wir sollen nicht nur unseres Glückes, wir sollen auch unserer Gesundheit Schmied sein. Doch gerade bei meist erblich bedingten seltenen Krankheiten hat der Betroffene nie eine Chance dazu gehabt. Doch das hilft ihm nicht.
Ein Armutszeugnis für einen der reichsten Staaten der Welt. Wenn wir die Gerechtigkeit einer Gesellschaft daran messen, wie sie mit ihren schwächsten Gliedern umgeht, schneidet Deutschland unterdurchschnittlich ab. Wir muten uns, wir muten unserer Solidargemeinschaft schlicht viel zu wenig zu.
Der Autor ist Vater eines Kindes, das an einer sehr seltenen Stoffwechselstörung erkrankt ist.