Es ist der 12. August 2022, ein Freitag, als Naeem Bilal per Post das Stück Papier erhält, das ihn als deutschen Staatsbürger ausweist. "Staatsangehörigkeitsausweis der Bundesrepublik Deutschland", so heißt das amtliche Dokument im Behördendeutsch. Ein Begriff, der so sperrig ist wie vieles auf dem Weg dorthin. Doch für den 27-jährigen gebürtigen Syrer ist es einer der emotionalsten Momente seines Lebens. "Ich habe geweint", beschreibt er mit einigen Monaten Abstand den Moment, als er die Urkunde aus dem Kuvert gefischt hat.
Für den jungen Mann, der jetzt in Schweinfurt wohnt und vor wenigen Wochen an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt sein Bachelor-Studium in Mechatronik mit der Abschlussnote 1,7 beendet hat, öffnet sich an diesem Tag eine Tür, die für ihn jahrelang verschlossen gewesen ist. Noch am gleichen Tag, an dem er die Urkunde erhält, die ihn formal zum Deutschen macht – mit allen Rechten und Pflichten –, beantragt er das Ausstellen eines deutschen Personalausweises und eines Reisepasses. Sieben Tage später erhält er diese per Expressversand. Am 22. August bucht er dann einen Flug für den 11. Oktober in die Vereinigten Arabische Emirate (VAE).
Menschen aus Syrien dürfen nur in wenige Länder reisen
Dort lebt seine ältere Schwester mit ihrer Familie. Auch Naeem Bilals Eltern fliegen in die VAE, ebenso seine beiden jüngeren Brüder, die alle in Syrien leben. Die VAE zählen zu den wenigen Staaten, in die Syrer unbehelligt aus- und einreisen dürfen. Deshalb trifft Naeem Bilal seine Familie dort. Er hatte sie zuletzt vor sieben Jahren in seine Arme geschlossen, bevor er aus Syrien geflohen war.
Die persönliche Fluchtgeschichte, die Naeem Bilal erzählt, gleicht der von vielen Tausend jungen Syrern, die das vom Regime von Baschar Hafiz al-Assad geführte Land im Nahen Osten verlassen haben. Viele von ihnen sind unfreiwillig geflohen, wie Naeem Bilal. Im Jahr 2015 ist er 19 Jahre alt und hat Angst davor, erneut in einem Polizeigefängnis zu landen.
Zwei Jahre zuvor, kurz nachdem er sein Abitur gemacht hatte, hatte ihn ein Bekannter schon einmal bei den Behörden angeschwärzt. Als er damals nach zwei Tagen in Polizeigewahrsam mit Hilfe von Schmiergeld wieder nach Hause darf, hat er sich beim Blick in den Spiegel selbst nicht wiedererkannt, erzählt er. Polizisten hätten ihn derart misshandelt, dass er völlig blau im Gesicht gewesen ist. "Noch einmal hätte ich das nicht ausgehalten."
Fluchtroute übers Meer und den Balkan
Sein Vater hat gewollt, dass er trotzdem in Syrien bleibt. "Meine Mutter hat das Beste für mich gewollt", sagt Naeem Bilal. Die Mutter setzt sich durch und ihr ältester Sohn, der im zweiten Semester Elektrotechnik in seiner Heimatstadt Damaskus studierte, flieht aus dem Land.
Auch das weitere Schicksal teilt er mit Tausenden. Über Beirut (Libanon) gelangt er in die Türkei. Von dort geht es mit sechs weiteren Geflüchteten per Schlauchboot übers Meer auf eine griechische Insel, dann auf einem Schiff nach Athen und von dort per Bus und Zug über den Balkan und Österreich zunächst nach München und letztlich nach Schweinfurt. Vorläufige Endstation ist dann die Dreifachturnhalle in Gerolzhofen, seinerzeit eine Notunterkunft für Geflüchtete.
Dass er in Deutschland gelandet ist, ist einerseits Zufall. "Viele Menschen sind damals hierher gekommen", berichtet Naeem Bilal. Andererseits ist ihm Deutschland schon vor seiner Flucht nicht ganz fremd gewesen. "Mein Vater hat Deutschland schon immer gemocht. Er versteht auch die Sprache ein wenig." Deshalb ist bei ihnen zuhause auch oft die Deutsche Welle im Radio gelaufen. "Aber das hat mich eher genervt", gibt Naeem Bilal zu.
Ohne den Gerolzhöfer Helferkreis wäre es nicht gegangen
In Gerolzhofen angekommen, fühlt er sich zunächst einsam. Es hat auch Stress mit anderen Mitankömmlingen gegeben, erinnert er sich. Letztlich hängt es an einer der ehrenamtlichen Betreuerinnen, die den Geflüchteten hier Deutsch beibringen, dass er in Gerolzhofen bleibt, sagt er, Naeem Bilal, "sie ist der Schlüssel gewesen". Daneben gibt es weitere Frauen und Männer des Gerolzhöfer Heferkreises, die ihn halten. Einer davon ist Matthias Seng, bei dem er zuhause am Esszimmertisch sitzt, während er an diesem Sonntag im Dezember seine Geschichte erzählt.
Naeem Bilal ist einer der Geflüchteten, die in der in Deutschland so gerne geführten Debatte über die Eingliederung von Ausländern in die deutsche Gesellschaft als "integrationswillig" bezeichnet werden. Er kann als Musterbeispiel gelten. Etwas gerafft erzählt sich sein Werdegang wie folgt: Noch bevor er im Oktober 2017 sein Studium beginnt, lernt er Deutsch, erreicht das B1-Niveau, wonach er Deutsch, so die Definition, "im Wesentlichen" verstehen und die Sprache in einfachen Sätzen sprechen kann. Per Intensivkurs erreicht er das C1-Niveau. Er macht hier seinen Führerschein. Seinen Wohnort wechselt er mehrfach, zwischen Gerolzhofen, Alitzheim und Schweinfurt.
Erstes Heimweh nach Deutschland verspürt
So sehr er seine Heimat vermisst, wo er als Hobbyfotograf so gerne durch Damaskus, die, wie er stolz erklärt, "älteste ständig besiedelte Stadt der Welt" gestreift ist: Irgendwann fängt er an, Deutschland als seine Heimat zu bezeichnen. Erst sind das nur Worte für ihn. Unlängst, als er in den VAE war, habe er jedoch Heimweh verspürt – nicht nach dem Land, wo er geboren wurde, sondern nach Deutschland.
Sich nicht nur als Deutscher zu fühlen, sondern auch für die Behörden als solcher zu gelten, dieses Ziel hatte Naeem Bilal schon lange zuvor, "eigentlich von Anfang an", wie er sagt. Es ist ihm dabei nie darum gegangen, Anspruch auf irgendwelche Sozialleistungen oder Ähnliches zu haben. In erster Linie bietet ihm der deutsche Pass die Chance, frei aus Deutschland ein- und ausreisen zu können. Mit dem syrischen Pass ist ihm das nicht möglich gewesen. Auch jetzt, da er als Ingenieur arbeitet, wäre es ein großer Hemmschuh für ihn, nicht frei reisen zu können.
Bestätigte Geburtsurkunden gibt's nur in Beirut
Umso größer ist sein Frust, als er mitbekommt, wie viel Geduld es ihm tatsächlich kostet, bis er endlich deutscher Staatsbürger ist. Im März 2021 hat er sich über die Voraussetzungen informiert und die notwendigen Papiere besorgt. Das sind jede Menge, und darunter sind nicht nur Dokumente, die schnell zur Hand sind, wie der Nachweis der besuchten Sprachkurse oder ein Wohnnachweis. Eine übersetzte Geburtsurkunde zu erlangen, kostet ihm nicht nur gut 200 Euro, er erhält diese auch nur von der deutschen Botschaft im Libanon, die allein offiziell berechtigt ist, Syrern eine solche zu bestätigen.
"Das ist derzeit das Nadelöhr für viele Syrer", berichtet Matthias Seng vom Gerolzhöfer Helferkreis für Geflüchtete. Er kenne mehrere Syrer, die seit über einem Jahr auf das entsprechende Dokument für ihren Antrag zum Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft warten. Von den im Jahr 2015 in Gerolzhofen angekommenen Syrerinnen und Syrern ist Naeem Bilal der erste, den Matthias Seng kennt, der die Staatsbürgerschaft bereits erhalten hat.
Beinahe wäre sein Antrag gescheitert
Als dieser im November 2021 seinen Antrag beim Landratsamt Schweinfurt als zuständiger Behörde stellt, heißt es, er müsse etwa drei Monate warten. Im Mai 2022 fragt er nach und erfährt am Telefon, es werde zwei weitere Monate dauern. Was Naeem Bilal bei allem Verständnis für überlastete Behördenmitarbeiter, die für ihn teilweise erst nach zig Anläufen erreichbar gewesen sein, nicht versteht, ist, weshalb ihm erst zehn Monate nach Einreichen seines Antrags mitgeteilt wird, sein BaföG-Bescheid würde Ende September auslaufen. Ab Oktober wäre er dann ohne Einkommen – und damit chancenlos, dass sein Staatsbürgerschaftsantrag jemals genehmigt wird.
Nach Auskunft des Landratsamtes Schweinfurt stapeln sich dort derzeit knapp 300 Anträge auf Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft, und die Fallzahlen seien seit drei Jahren kontinuierlich gestiegen. Um die Bearbeitung kümmerten sich vier Mitarbeitende, von denen zwei von anderen Abteilungen zur Unterstützung der Staatsangehörigkeitsbehörde abgestellt wurden. Über die pauschale Dauer eines Verfahrens könne man keine Angaben machen, zumal es zu "nicht unerheblichen Verzögerungen" kommen könne, wenn nicht alle notwendigen Papiere vorliegen, heißt es auf Anfrage dieser Redaktion.
Naeem Bilal, der nebenbei auch als offiziell bestellter Dolmetscher für die Polizei arbeitet, ist es letztlich dank seines persönlichen Netzwerkes gelungen, sein Antragsverfahren etwas anzuschieben, wie er berichtet.
Reicht die Kapazität der Behörden?
Es stellt sich vor allem die Frage, wie die offensichtlich bereits jetzt überlasteten Behörden die sicherlich weiter steigende Zahl von Anträgen stemmen möchten, wenn es zu der von der Bundesregierung geplanten erleichterten Einbürgerung kommen sollte.
"Ich habe mich sehr darüber geärgert", sagt Naeem Bilal mit Blick auf die stockende Bearbeitung seines Antrags. Schließlich habe er ein Recht auf Erlangen der deutschen Staatsangehörigkeit, "und ich habe es verdient, meine Familie wiederzusehen", sagt der junge Mann. Er interessiert sich zudem für Politik und freut sich darauf, als deutscher Wähler "den Menschen, denen ich vertraue, meine Stimmen zu geben".
Und dann beschreibt er noch den Augenblick, wo er sich das erste Mal richtig als Deutscher gefühlt hat. Das ist der Moment gewesen, als ihm der deutsche Pass in der Hand am Scanner der Passkontrolle am Frankfurter Flughafen die Tür geöffnet hat. "Ich habe dort direkt in die Kamera geschaut und alles hat gepasst", sagt er. Auf der anderen Seite habe er dann die Schlange der Ausländer erblickt, die warten mussten, bis die Beamten sie passieren ließen. Da habe er es realisiert: Du bist jetzt von hier. Du bist Deutscher.
Ich lese es schon gar nicht mehr durch, weil es mir zu einseitig ist.
Andererseits scheinen gerade Straftäter oft und mutmaßlich leicht an Doppel- oder sogar Dreifachstaatsbürgerschaften zu gelangen. Das ist ein echtes Ärgernis, das unsere demokratischen Parteien in den Griff kriegen müssen, ehe sich noch mehr Bürger abwenden!