Eine Mädchen-Unterhose, ein T-Shirt, ein Tank-Top. Diese und weitere Kleidungsstücke im Wert von knapp 80 Euro ließ eine 30-Jährige Anfang September in einem Schweinfurter Textilgeschäft mitgehen. Sie hatte die Ware im Kinderwagen ihrer fünfjährigen Tochter versteckt - und wurde erwischt. Nur einen Tag später stand die Frau bereits vor dem Amtsgericht in Schweinfurt und musste sich wegen Diebstahls verantworten.
Dass es so schnell und unmittelbar zu einer Gerichtsverhandlung kommen kann, dafür ist das "beschleunigte Verfahren", auch als "Blitzverfahren" bekannt, verantwortlich. Doch was steckt dahinter und warum wird das spezielle Verfahren in Schweinfurt besonders häufig angewandt?
"Vielleicht hat mein Kind die Sachen eingesteckt", ließ in diesem Fall die Angeklagte ihre Dolmetscherin vor Gericht übersetzen. Sie selbst habe nur zwei Blusen gestohlen, von den restlichen Klamotten aber nichts mitbekommen. Dieser Darstellung schenkte der Richter wenig Glauben. Auch Zeugenaussagen ließen an der Aussage der Angeklagten zweifeln. "Ich bereue es", sagte die Frau schließlich und gestand den Ladendiebstahl am Vortag. Wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, verurteilte Richter Michael Roth die 30-Jährige zu einer dreimonatigen Haftstrafe, die auf Bewährung ausgesetzt wurde. Nach knapp 20 Minuten war die Verhandlung beendet. Und nur eines gab Richter Roth der Frau noch mit auf den Weg: "Sie sind seit wenigen Wochen in Schweinfurt und schon das erste Mal vor Gericht. Beim nächsten Mal sieht es sicher anders aus."
Einfacher Sachverhalt, klare Beweise
Ein Verfahren wie dieses, bei dem das Urteil und somit die Strafe der Tat regelrecht auf dem Fuße folgt, nennt sich "beschleunigtes Verfahren". 56 Mal wurde es in Schweinfurt 2019 angewendet. In diesem Jahr bis August bereits 42 Mal - obwohl das "Blitzverfahren" zwischen April und Mitte Juni auch aufgrund von Corona pausieren musste. Geknüpft ist das in Paragraph 417 der Strafprozessordnung geregelte Verfahren an wichtige Bedingungen: Der Sachverhalt muss einfach und überschaubar sein, die Beweislage klar. Zeugen müssen sofort verfügbar sein, die Straferwartung darf nicht über ein Jahr betragen - und bei einer zu erwartende Haftstrafe von mehr als sechs Monaten muss der Angeklagte einen Verteidiger haben. Auch Rechtsmittel wie Berufung oder Revision gegen ein Urteil im "Blitzverfahren" sind möglich.
Gedacht sei das beschleunigte Verfahren für Tatverdächtige, die häufig nicht lange greifbar sind, erläutert Richter Michael Roth. Dazu gehören etwa Mitglieder von reisenden Diebesbanden, die man vielleicht gar nicht mehr erreichen würde, wenn man sie Monate später zur Hauptverhandlung lädt. Um solche "Aktenleichen" zu vermeiden, wende man das besagte Verfahren an, sagt der Richter. Auch der Abschreckung sollen die "Blitzverfahren" dienen.
Schweinfurt: Jede Woche Zeit für beschleunigte Verfahren reserviert
Für Michael Roth, der als einziger Richter in Schweinfurt beschleunigte Verfahren durchführt, gehören sie mittlerweile zum Arbeitsalltag: "Im Schnitt habe ich das einmal pro Woche." Diese Häufigkeit und Regelmäßigkeit sein indes eine Schweinfurter Besonderheit, so Roth. Im Jahr 2017 hatten sich Amtsgericht und Staatsanwaltschaft Schweinfurt für die "Blitzverfahren" eine besondere Zeit- und Personalstruktur ausgedacht. An Gerichten, bei denen grundsätzlich jeder Amtsrichter auch für beschleunigte Verfahren zuständig ist, müssten sie erst einmal in die engen Terminpläne passen. Fehlt dafür die Zeit, gibt es keines.
In Schweinfurt dagegen hat Roth Termine dafür reserviert: Jeden Dienstag und Mittwoch, jeweils ab 15 Uhr, ist Zeit für beschleunigte Verfahren. Ein kurzfristiger Termin sei also immer möglich, sagt der Amtsrichter. Die Staatsanwaltschaft kann sie somit jede Woche fest einplanen. Sie meldet sie an, trägt die Anklage - auch mündlich - vor und beschafft die Zeugen.
Das Schweinfurter Modell hat sich auch das Amtsgericht Würzburg abgeschaut. Das System, wonach ein Richter federführend für die "Blitzverfahren" zuständig ist, habe sich auch hier bewährt, sagt die Staatsanwaltschaft auf Anfrage. In Würzburg indes wurde das Verfahren 2019 fünf Mal angewendet, in diesem Jahr bisher zweimal. In Schweinfurt aber ist der Bedarf hoch, beinahe jede Woche hat man hier damit zu tun. Doch warum?
Wegen zwei geklauter Sandwiches ins Gefängnis
"Den Anstoß für die Einführung unseres speziellen Systems hat damals das neue Ankerzentrum gegeben", sagt Axel Weihprecht, Leiter der Staatsanwaltschaft Schweinfurt. Das beschleunigte Verfahren sei zwar keineswegs nur für die dortigen Bewohner gedacht, doch ein ein Großteil der Angeklagten komme von dort. Generell biete sich das Verfahren für Tatverdächtige an, die nur für eine begrenzte Zeit in Schweinfurt weilten - beispielsweise auch Erntehelfer. Sofern die Bedingungen für ein "Blitzverfahren" erfüllt sind, komme es für alle Tatverdächtigen in Frage - gleich ob deutscher Staatsangehörigkeit oder nicht. "Die konkrete Anwendung des Verfahrens funktioniert aber nur, wenn man regelmäßige Termine dafür einplant", begründet Weihprecht das Modell.
Wer also in Schweinfurt am Montag oder Dienstag beim Ladendiebstahl geschnappt wird, muss sich schon am Folgetag vor Richter Roth verantworten. Gegen alle anderen, die an einem anderen Wochentag straffällig werden und für die sich das verkürzte Verfahren eignet, kann bis zu einer Woche "Hauptverhandlungshaft" verhängt werden. Und so kann es durchaus vorkommen, dass ein Angeklagter wegen ein paar Euro mehrere Tage ins Gefängnis muss.
So geschehen Anfang September, als ein junger Mann zwei Sandwiches und eine Erdbeere im Gesamtwert von rund sechs Euro in einem Schweinfurter Supermarkt klaute. Er wurde festgenommen und saß vier Tage in Hauptverhandlungshaft bis es zum beschleunigten Verfahren kam. Wegen des Geständnisses und den bereits geleisteten Hafttagen, wurde das Verfahren in diesem Fall eingestellt.
Roth: "Das hat mit der Nationalität überhaupt nichts zu tun"
Geeignet ist das "Blitzverfahren" laut Roth etwa für Delikte wie Körperverletzung, Sachbeschädigung oder Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Besonders häufig: Diebstahl – vom Alkohol über teure Parfüms bis hin zu Klamotten. Ob ein beschleunigtes Verfahren tatsächlich mehr "Wirkung" bei den Betroffenen erzielt, könne er nicht beurteilen, sagt der Amtsrichter. Oberstaatsanwalt Axel Weihprecht geht jedoch davon aus, dass es "schon einen Effekt nach sich zieht". Auch von Seiten der Polizei bekomme die Staatsanwaltschaft positive Rückmeldungen.
Roth und Weihprecht stehen jedenfalls hinter dem Schweinfurter Blitzverfahren-System. Dass die Angeklagten oftmals aus der Anker-Einrichtung kommen, dafür haben sie eine einfache Erklärung. "Das hat mit der Nationalität überhaupt nichts zu tun", sagt Roth. Der Grund seien vielmehr die erschwerten Lebensumstände, Perspektivlosigkeit und Armut .
Wenn die Täter spüren, dass die Strafe "auf dem Fuß" erfolgt, hat das einen doppelten Effekt:
Zum einen kann die Handhabung abschreckend wirken.
Zum anderen zeigt der Rechtsstaat, dass er sich zu wehren in der Lage ist.
Das ist zur Nachahmung zu empfehlen.
"Das beschleunigte Verfahren sei zwar keineswegs nur für die dortigen Bewohner gedacht, doch ein ein Großteil der Angeklagten komme von dort."
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